Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

  1. OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE 45 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG


Technik&motor


A


m Ende recht zu behalten,
muss nicht immer befriedi-
gend sein. Als die Diskussion
um eine neue Ökosteuer heiß lief,
haben wir an dieser Stelle gewarnt
und geschrieben, man müsse naiv
sein zu glauben, dass die Einnah-
men daraus den Bürgern zurückge-
geben werden. Jetzt kommt es so,
wie es kommen soll: Die EEG-Um-
lage getaufte Zusatzsteuer auf
Strom steigt erst mal kräftig. Wenn
dann die CO2-Abgabe kommt, wird
man die Umlage wieder ein wenig
sinken lassen und so seine Wähler
verspotten. Gegenvorschlag: Wir re-
duzieren erst mal die Steuer auf
Heizöl, Gas und Benzin, dann lässt
sie sich später leichter erhöhen.

* * *
Elektrische Energie muss nicht teu-
rer, sondern billiger werden, weil
sie so sauber ist. Der Beweis: Die
ohne Verbrennungsmotor zurückge-
legten Kilometer im Elektroauto
oder Hybriden gehen mit dem
Wert null in den amtlichen Schad-
stoffausstoß ein, der Strom kommt
ja aus der Steckdose, und die raucht
nicht. An dieser Stelle werden wir
gern gefragt, was wir eigentlich ge-
gen die Elektromobilität hätten?
Gar nichts. Aber wenn es welche
gibt, müssen wir die Probleme auch
benennen dürfen: Warum hat Har-
ley-Davidson noch gleich die Pro-
duktion seiner mit großem Getöse
vorgestellten Elektromotorräder
erst einmal eingestellt? Obwohl, so
schlimm kann das nicht sein, es woll-
te sie ja kaum jemand haben.

* * *
Was die Leute dagegen wollen, ist
freie Fahrt dort, wo es möglich ist.
Derzeit macht im Netz ein Video
die Runde: Ein – Achtung! – Por-
schefahrer ruft den vorausfahrenden


  • Achtung! – Smart an, er möge
    doch bitte mal endlich auf die rechte
    Spur wechseln und ihn durchlassen.
    Politisch korrekt ist jetzt Entrüs-
    tung, der arme Kleine, von Nöti-
    gung und Beleidigung muss die
    Rede sein. Beim genaueren Hinhö-
    ren finden wir den Ton ganz nett,
    vom fast zärtlich eingeflossenen
    „Depp“ einmal abgesehen. Und kei-
    ner stellt die Frage, wieso der Kleine
    eigentlich die ganze Zeit links fährt?


D

eutschland ist und bleibt
Weltmeister im Schwarzse-
hen. Alles wird immer mög-
lichst negativ dargestellt. Ist gut für
die Quote oder die Reichweite. In
dieser Woche sprach im öffentlich-
rechtlichen Süd-Radio ein angebli-
cher Automobilexperte über die ver-
meintlichen Verfehlungen der Auto-
industrie. Ausgangspunkt war dieser
Satz: „Wir haben die Elektromobili-
tät und das autonome Fahren.“ Ja,
wo denn? E-Mobilität haben wir,
aber nur ansatzweise. Denn bis das
Elektroauto wirklich im Markt ange-
kommen ist, dauert es noch, falls es
überhaupt so weit kommt. Wie so
oft wird die Rechnung ohne den
Kunden gemacht. Solange die Pro-
bleme Reichweite, Kosten und La-
dedauer sowie -infrastruktur nicht
gelöst sind, wird es nichts mit dem
Durchbruch. Und autonomes Fah-
ren? Das ist noch viel, viel weiter
entfernt. Abgesehen davon, dass
auch hier der Kunde entscheidet,
den offenbar nie einer fragt, ist das
ganze Thema dermaßen komplex,
dass ein serienreifes, autonom fah-
rendes Auto nicht vor 2030 zu erwar-
ten ist. Der deutschen Autoindus-
trie vorzuwerfen, sie verschlafe wie-
der einmal die Entwicklung, ist viel
zu einfach gedacht. So ist das halt
mit „Experten“.

Ein Teil der in Technik & Motor besprochenen
Produktewurde der Redaktion von den Unternehmen zu
Testzwecken zur Verfügung gestellt oder auf Reisen,
zu denen Journalisten eingeladen wurden, präsentiert.

DER REDE


WERT
VON LUKAS WEBER

ALLES


VERSCHLAFEN
VON BORIS SCHMIDT

MHINWEIS DER REDAKTION

TECH-TALK


M

ehr Mercedes war noch
nie. Nüchterne Verkaufssta-
tistiken der Marke mutie-
ren jüngst zu Rekordlisten,
und Vertriebsspezialisten üben sich in Ju-
belchören. Die Autos mit dem Stern –
erhaben nur noch auf der S-Klasse-Hau-
be, sonst als Plakette oder im Kühler-
grill – sind begehrt wie nie zuvor. Wo-
bei der Boom der deutschen Vorzeige-
marke von zwei hausgemachten Fakto-
ren befeuert wird: Die Menge der Mo-
delle und Varianten hat Dimensionen er-
reicht, die kaum noch zu fassen sind.
Und das Design für den Auftritt der
Marke und die Gestaltung aller Mitglie-
der des Familienverbundes aus recht un-
terschiedlichen Personenwagen ist
menschlicher, raffinierter, statustragen-
der und strategisch (ja, durchaus auch
sinnlich) unterfütterter als je zuvor.
Gleichzeitig aber auch, und das ist die
vielleicht erstaunlichste Erkenntnis: Mer-
cedes und seine Autos sind sympathi-
scher, fast volksnaher geworden.
Vielleicht liegt das daran: Mercedes ist
im deutschen Verkehrsleben mittlerweile
Alltag. Und doch fast immer noch etwas
Besonderes. Es war zum Ende der 1970er
Jahre schon ein Risiko für die damals
eher elitäre Marke, sich überhaupt in
den Produktions- und Preiswettbewerb
mit etablierten Großserienherstellern zu
begeben. Die Modellfamilie hat seit dem
Start des „Baby-Benz“ (Mercedes 190)
zum Beginn der 1980er Jahre und mit
der Geburt der zunächst hinfälligen
(Elch-Test), dann aber stabil-erfolgrei-
chen A-Klasse Ende 1997 eine beinahe
unglaubliche Ausweitung erlebt. Aktuell
scharren im Portfolio der Marke rund
drei Dutzend unterschiedliche Modelle
mit den Rädern. Von diesen 36 Grund-
baureihen leiten sich Hunderte, wenn
nicht Tausende Motoren-Getriebe-Kom-
binationen, Antriebsformen und Ausstat-
tungsvarianten ab; Front- oder Hinter-
achs- oder Allradantrieb, Benziner, Die-
sel, Hybrid, nur Elektromotor, Wasser-
stoff, die Motorentechniker tanzen auf
vielen Hochzeiten. Dazu ein Universum
der Karosserieformen: kompaktes Steil-
heck mit Heckklappe, der sogenannte
Shooting Brake, dann traditionelles Stu-
fenheck der jeweiligen Limousinen in
mehreren Ausprägungen, die Kombi-
Kleider als T-Modell, ein Off-Road-
Denkmal, modern-geschmeidige SUVs
in diversen Anzugsgrößen, All-Terrain-
Ausführungen, elegante Coupés, viertüri-
ge Coupés und frische Cabrios in fast je-
der der größeren Baureihen, mehrere
Radstand-Dimensionen, die Roadster
der traditionellen SLC-SL-Zweisitzer,
die durchgefeilt-sportiven AMG-Varian-
ten als Limousinen/T-Modell und eigen-
ständig karossierten Coupé- und Roads-
ter, bis hin zu der V-Großraumlimousine
und einer etwas abseitig logierenden und
zäh absetzbaren X-Klasse mit Pickups.
Dass da für fast jeden etwas dabei ist,
darf angenommen werden.


Die Verkaufsstatistik belegt den Auf-
gang des Sternenhimmels: Von 2009 bis
2018 hat Mercedes seine Verkäufe mehr
als verdoppelt, von 980 000 Exemplaren
auf mehr als 2,2 Millionen. Verkaufsrekor-
de überschlugen sich, bis in die Gegen-
wart hinein, als dann Warnungen vor sin-
kenden Ergebnissen und unappetitliche
Vorwürfe um das Abgasverhalten der Die-
sel auf Stimmung und Aktienkurs drück-
ten. Nach einer Delle wurde jetzt vom
Konzern aber wieder im üblichen Super-
lativ-Jargon vermeldet: „Das beste dritte
Quartal aller Zeiten.“ Fast 600 000 Autos
verkaufte Mercedes von Juli bis Septem-
ber 2019. Und hinter diesem Erfolg,
gleichzeitig auf dessen Erfolgswelle rei-
tend, arbeitet, formt, philosophiert und
spricht Gorden Wagener. Der 51 Jahre
alte Designchef öffnet einmal im Jahr sei-
ne stillen Kammern des Gestaltens. Da-
bei kommt immer mehr heraus als neues-
te Nachrichten über neue Modelle. Wage-
ner spricht aber nicht nur über das, was
ihn und damit das öffentliche Mercedes-
Design bewegt. Er denkt gern laut dar-
über nach, wohin die Reise mit dem In-
halt und den Werten dieser Marke gehen
könnte und sollte.
Als Wagener 2008 den Chefposten im
Mercedes-Design antrat, war das eine
Übernahme. Keine feindliche zwar, aber
eine sehr entschlossene und konzeptionel-
le. Wagener rüttelte an der Senioren-

Ruhe der S-Klasse und verjüngte alle und
alles. Er führte die C- und E-Reihe zu ei-
ner coolen Harmonie der Proportionen,
lud gleichzeitig ihre Ausstrahlung mit
Kanten und Kurven in den Flanken auf,
nahm der kleinen Familie und den Senio-
ren die praktische, aber betuliche A-Klas-
se weg und integrierte eine SUV-Phalanx
ins Reich der Sterne. Was anfänglich
wirkte wie die Zerstörung der Ikonen, be-
ruhigte sich rasch und zeigte: Er scheute
nicht zurück vor schnelleren Designwech-
seln und hatte gelernt von den besten Vor-
gängern auf Führungspositionen, die
man sich nur vorstellen konnte. Manche
erreichten beinahe mythische Dimensio-
nen oder gerieten zu Legenden. Der pro-
fessoral-verschmitzte Joseph Gallitzendör-
fer, der patriarchalische Stilist Bruno Sac-
co, der künstlerische Paul Bracq, der prag-
matisch-klare Peter Pfeiffer, und alle ver-
bunden mit ihren unvergänglichen Iko-
nen aus der Vergangenheit: mächtiger
Mercedes 600, große S-Klasse W 140, die
zierliche 230-Pagode, der alltagsmächtige
Strich Acht, die beste Allround-Mittel-
klasse aller Zeiten, W 124, der Design-
Diamant W 201/190 und die konzeptio-
nell revolutionäre A-Klasse. Wageners
neue Energie kam mit einer Mischung
aus Respekt und Rücksichtslosigkeit über
sie. Er akzeptierte sie natürlich, aber er
hatte schon das größere Format im Sinn.
„Wageners Design beeinflusst alles, sein

Design ist mit allem verbunden, wenn es
um die Marke geht“, sagt ein Gesprächs-
partner aus dem Kreis der Designer.
Fast ist es tatsächlich mit den Händen
zu greifen: Die Bedeutung des Designs
für die Marke hat neue Dimensionen er-
reicht. Gerade wegen des Wachstums der
Modellflotte. Es definiert den Charakter
der einzelnen Modelle stärker als je zu-
vor, verstärkt aber gleichzeitig den Zusam-
menhalt, und es hat über den formalen
Auftritt hinaus eine Bedeutung erlangt,
die Wagener mit seinen Überlegungen
zum Inhalt und zur Positionierung der
Marke füllt. Diese kreisen immer um Zu-
kunft, Stichworte und Inhalte, auch um
deren traditionelle Ausprägungen. Es
geht um verschiedene Definitionen von
Luxus, um ästhetische Werte, das Wesen
der Marke, um deren Wurzeln, um Emo-
tionen und Purismus, um den techni-
schen Fortschritt, um die wachsende Be-
deutung des Innenraums und um die
jüngst formulierte, zentrale Aufgabe des
von Wagener geführten und verantworte-
ten Designs. Und das ist sein Ziel, das es
zu erreichen und zu behaupten gilt: „Mer-
cedes soll von einer (hoch) respektierten
Marke zu einer (heiß) geliebten Marke
werden.“ Wobei die in Klammern gesetz-
ten Ausdrücke das gesamte Zitat zusätz-
lich verschärfen sollen, damit der Kern
des Wagener-Designs noch deutlicher
wird. Im Mittelpunkt der Erklärungen zu

seinen Überlegungen hinter den sichtba-
ren Linien, Proportionen und Kanten
hält sich derzeit der Weg zu „Love“ oder
der „Liebe zu Mercedes“ auf. Liebe ist ei-
nes der Schlüsselworte, mit denen sich
Designer gern umgeben, was bisweilen et-
was angestrengt wirkt, aber die Gedan-
ken ballt. Wagener weiß, wie diese wo-
möglich tiefe Zuneigung entstehen kann:
„Der erste Schritt zur Liebe ist das Ver-
trauen“, sagt er und klingt dabei ein we-
nig nach Rosamunde Pilcher und traditio-
nellem Luxus. Aber nur ganz kurz, denn
dieser trieb hohen Aufwand mit bekann-
ten Inhalten, weichem Leder, Holz, gar
Granit und einem Teppichboden, der die
Fußknöchel umschmeichelte. Jetzt geht
es ihm um „Exzellenz“, also um zeitlosen
Luxus in Verbindung mit Hightech-Fort-
schritt. „Wir definieren die Zukunft von
Luxus“, und er will das durch neues Inte-
riordesign mit dem auf immer mehr Mo-
delle übergreifenden Infotainmentsystem
Mbux belegen. Künftige Ausbaustufen
von Mbux werden mit dem Nutzer ohne
separate Befehle zusammenarbeiten.
Denn Mbux kennt den Fahrer und seine
Eigenheiten und weiß auf seine Wünsche
zu reagieren, bevor er sie ausgesprochen
hat. Wagener benutzt in diesem Zusam-
menhang die „Wrap around“-Architek-
tur, der Innenraum umarmt seine Passa-
giere formal, eine Art von Hinwendung,
die vom Auto ausgeht und vom Design
klar zum Ausdruck kommt: „Ich liebe
dich.“ Damit soll der Mercedes zu einem
Vertrauten werden, der zur Familie ge-
hört und nur zufällig nicht im Haus, son-
dern in der Garage wohnt.
Das soll künftig eine Form jener ge-
genseitigen Zuneigung fördern, die auf
einer bestimmten Ebene der menschli-
chen Empfindsamkeit zu Emotionen
führt. Beim Mercedes-Eigner soll das
Design jene Gefühle und Stimmungen
auslösen, die an die positiven Wirkungen
von Gedichten heranreichen. Er liest die-
se, fühlt sich gut, weiß aber nicht warum.
Und so kann er überrascht seine Freude
am Auto erkennen. Oder am schmei-
chelnd-kratzigen Material des rundum
aufgebauten Armaturenträgers. Denn
das Wagener-Design bezieht auch Über-
raschungen mit ins Kalkül ein: „Sexy“
muss ein Mercedes sein, ein Hingucker,
anregen zum Denken und Phantasieren.
Was könnte ich damit anfangen? Was
könnte es mir bringen? Welche Wirkun-
gen erziele ich damit? Wie werde ich
wahrgenommen?
Und Wagener sieht die Bedeutung
von cool. Ein überraschender Inhalt
ohne Angeberei, versteckte Entdeckun-
gen, Materialien, die unerwartete, aber
sympathische Berührungen schaffen. In
der Summe sollte in dem Betrachter der
Reflex entstehen: Den will ich haben.
Dass er eine gedankliche Beziehung zur
Marke eingeht und dann zum Kunden
von Mercedes wird, an nichts weniger als
daran arbeitet im Grund der Designer
Gorden Wagener. Deshalb gibt es für
ihn noch längst nicht zu viel Mercedes.

SCHLUSSLICHT


Die Kunst liegt im Weglassen. Die Studie eines neuen Mercedes-Simplex orientiert sich an den Modellen, welche die Daimler-Motoren-Gesellschaft von 1902 bis 1910 produzierte. Fotos Hersteller


Gorden Wagener ist der Designchef von Mercedes. Er formt


dieMarke und spricht von Liebe und Zuneigung. Ein Mercedes


soll zu einem Vertrauten werden, der nur zufällig nicht


im Haus, sondern in der Garage wohnt.Von Wolfgang Peters


Die stillen Kammern des Gestalters


Noch geerdet oder schon im Sternhimmel? Gorden Wagener und seine philosophischen Botschaften von der Liebe zum Design

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ERUF & CHAN

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