Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

46 technik&motor FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


D


er Bau hat Potential. Das muss
man nicht erklärt bekommen.
Das sieht, wer sich dem flügel-
schlagenden Riesenvogel aus
Beton mit seiner bis auf den Boden her-
abreichenden Fensterfront nähert. Gern
wird das Gebäude in Felsberg bei Über-
herrn, unweit der französischen Grenze,
auch als gläserne Jakobsmuschel bezeich-
net. Eine extravagante Großhalle, die ei-
niges zu bieten hat. Gleich aus drei Grün-
den ist sie spannend: Sie fasziniert durch
eine extrem dramatische Konstruktions-
geschichte, die nachzuerzählen nicht nur
angehende Bauingenieure interessieren
dürfte. Sie kann zudem mit einem in die-
ser Form einmaligen Innenleben aufwar-
ten. Und ganz aktuell bringt sie sich mit
der Frage ins Spiel, ob es ihrem Eigentü-
mer, der Gemeinde Überherrn, die Bau
und Gelände 2016 für schlappe 120 000
Euro erworben hat, gelingt, der Halle
neues Leben einzuhauchen – und für das
Gesamtensemble ein stimmiges Nut-
zungskonzept zu finden.
Daran wird momentan gearbeitet. Plä-
ne werden erstellt und Geldgeber ge-
sucht. Etwa für eine innovative Pyrolyse-
anlage, die aus Holzhackschnitzeln und
anderer Biomasse einen Bodenveredler
für die Landwirtschaft und natürlich elek-
trischen Strom erzeugt. Dabei frei wer-
dendes Kohlendioxid soll an Algen ver-
füttert werden, um einen Beitrag zum
Klimaschutz zu leisten. Doch auch Bo-
denständiges steht auf der Agenda. So
setzt man etwa auf die Publikumswir-
kung von Sauerkraut-, Mirabellen- und
Grünkohlfesten. Wobei ganz vorn auf

der Prioritätenliste die Suche nach einer
öffentlichen Nutzung für die Halle steht.
Ein Kulturzentrum könnte entstehen,
das junge Europäer zusammenführt und
ihnen, im großen Spannungsbogen, den
Übergang von analoger (Sende-)Technik
in die Welt der digitalen Kommunikati-
on weist.
Analoge Sendetechnik gibt es hier
reichlich. Beherbergt die Betonmuschel
doch den wohl leistungsstärksten Lang-
wellensender auf deutschem Boden. Von
1955 bis 2015 versorgte „Europe 1“ seine
französischen Hörer mit einem werbefi-
nanzierten Programm, das aufgrund der
nach Westen ausgerichteten Antennen
trotz einer Sendeleistung von 2,4 Mega-
watt nur schlecht oder gar nicht in den
Ländern der Bundesrepublik gehört wer-
den konnte. Bei guten Wetterbedingun-
gen erreichte es jedoch Nordafrika.
Die in containergroßen Stahlboxen
vor sich hin schlummernde und leicht an-
gestaubte Technik stammt aus den Jah-
ren 1964 und 1975. Dazu gehören sowohl
Kuppeleinheiten zum Zusammenfassen
der Einzelleistungen der Sender als auch
Lastverteileinheiten zum Ansteuern der
Sendemasten. Auch stehen hier drei mo-
dernere Sendeanlagen aus den 1990er
Jahren, die mit leistungsstarken Keramik-
röhren bestückt sind und während des
Sendebetriebs jede Menge Abwärme pro-
duzierten. Diese wurde zum Teil zum
Heizen der Halle genutzt. Zudem half
sie im Winter, Schnee vom Hallendach
zu vertreiben. Was an Wärme übrig war,
wurde in einem vor der Halle liegenden
Kühlteich verbraten.

Zurück zur Geschichte. Dass dieser
Sender als quasi staatlich toleriertes Pri-
vatradio entstand, wäre ohne die komple-
xe französisch-saarländische Gemengela-
ge Anfang der 1950er Jahre nicht denkbar
gewesen. Das damals autonome Saarland
stellte den Baugrund für den Sender zur
Verfügung und bekam dafür von den In-
vestoren, die streng dem Vorbild der
kommerziell erfolgreichen Privatradios
Radio Monte Carlo und Radio Luxem-
burg folgten und geschickt das staatliche
französische Rundfunkmonopol umgin-
gen, ein Extra in Aussicht gestellt. So
war die Ausstrahlung eines Fernsehpro-
gramms Teil des Projekts, das aber nie
richtig in die Gänge kam. Für nur weni-
ge Tage wurde von hier 1958 ein Pro-
gramm ausgestrahlt. Der inzwischen die
bundesdeutsche Rundfunkhoheit wahren-
de Bundespostminister sperrte die Anla-
ge. Techniker kappten die zum mit
knapp 50 Meter mäßig hohen Fernseh-
turm führenden Kabel. Was blieb, war
das Privatradio Europe 1.
Dabei wirkt die gedachte Doppelfunk-
tion von Radio und Fernsehen bis heute
nach. Wie ein Sakralbau steht die Halle
mit dem leicht seitlich versetzten Drei-
bein-Turm in der Landschaft. War es
doch erklärtes Ziel der Investoren, ein
avantgardistisches Sendezentrum zu bau-
en, mit einer „sprechenden Architektur“,
was den mit der Umsetzung beauftrag-
ten französischen Architekten Jean-Fran-
çois Guédy und seinen Partner, den Inge-
nieur Bernard Lafaille, ermutigte, tief in
die Trickkiste ihrer Zunft zu greifen. Als
eine der Ersten ihrer Zeit planten sie

eine mit 82,5 mal 43,5 Meter sehr große,
freitragende Halle aus Beton, für die es
kaum Vorbilder gab. Lediglich auf die Er-
fahrungen mit zwei kurz zuvor fertigge-
stellten Hallen konnten sie sich stützen:
die 1953 gebaute Sportarena von Raleigh
in North Carolina und die im August
desselben Jahres eröffnete Schwarzwald-
halle in Karlsruhe, die von dem Münch-
ner Bauingenieur Ulrich Finsterwalder
und dem Karlsruher Architekten Erich
Schelling realisiert wurde.
Anders als diese beiden Hallen setzte
Guédy auf eine Bauform mit lediglich
einer Symmetrieachse und auf eine aus
schlaff bewehrtem Stahl geknüpfte, in
einen umlaufenden Stahlbeton-Ringan-
ker eingehängte Hängematte als Einla-
ge für die dünn aufgetragene, lediglich
vier bis acht Zentimeter dicke Betonde-
cke, die während der Bauphase von ei-
nem hallenweiten Lehrgerüst in Form
gehalten wird.
So weit der Plan. Denn als sich heraus-
stellte, dass man zu schnell und ungenau
gerechnet hatte, die zu erwartende
Durchsenkung der Dachschalung viel zu
groß ausfallen dürfte, wurde rasch der
vorgesehene Schlaffstahl durch hochfes-
ten Spannstahl ersetzt. Im Juni 1954 wur-
de betoniert und am 7. September mit
dem Anspannen der Spannglieder begon-
nen, wodurch sich die Schale (wie ge-
plant) aus der Rüstung hob. Jedoch nicht
wie gedacht und kalkuliert. Dennoch
spannte man weiter an. Bis zum 9. Sep-
tember, als die Schale plötzlich zerriss.
Heftige Erschütterungen erfassten den
gesamten Bau. Ringanker und Stützen

blieben unversehrt. Alle Baumaßnahmen
an der Schale wurden gestoppt, Guédy
am 10. September von seinen Aufgaben
entbunden. Wenig später beging er Sui-
zid, nachdem er sich schweren Vorwür-
fen ausgesetzt sah.
Quasi übergangslos wurde der renom-
mierte, als „Vater des Spannbetons“ gel-
tende und mit dem Bau zahlreicher Brü-
cken und Kuppelhallen bekannt geworde-
ne Eugène Freyssinet mit der Überarbei-
tung des Konzepts der Sendehalle beauf-

tragt. Wie nicht anders zu erwarten, reali-
sierte der aus dem Ruhestand zurückgeru-
fene Ingenieur das Hallendach mit einer
konsequent vorgespannten Hängeschale.
Freyssinet kräftigte das Hallendach durch
sechs zusätzliche Zugbänder, die vom
Zentrum der Muschel ausgehend bis zum
Hallenrand verlaufen. Auch alle lastabtra-
genden Bauteile und der im Frontbereich
dominant wirkenden X-Block in der Fas-
sade wurden verstärkt.
Doch nichts ist von Dauer: Nach dem
Teileinsturz der Berliner Kongresshalle,
der „Schwangeren Auster“, im Mai 1980
war man sensibilisiert und hat die
Europe-1-Sendehalle auf ihre Standsi-
cherheit hin untersucht. Ein umfangrei-
ches und damit teures Instandhaltungs-
konzept wurde erarbeitet und umgesetzt.
Die auf der Unterseite der Schale einge-
bauten Heraklithplatten (Holzwollebe-
ton) und die gesamte Spannbewehrung
kamen raus. Die neue Wärmedämmung
kam aufs Dach, und auf der Unterseite
der Schale hat man offen liegende (exter-
ne) Längsspannglieder eingebaut. Doch
damit nicht genug. Da man den Freyssi-
netschen Zugbändern nicht länger trau-
te, wurden auch sie erneuert. Eine diffizi-
le Aufgabe. Denn dazu mussten parallel
erst die neuen eingebaut und langsam ge-
spannt werden. Erst danach konnten den
alten ausgebaut werden. Es gibt kein Ver-
tun. Die Sendehalle bei Felsberg ist ein
herausragendes technisches Denkmal.
Die Halle mit dem an den Enden des
Ovals hochgeschwungenen Dach macht
den Bau ungewöhnlich. Spannend bleibt,
ob ein tragfähiges Nutzungskonzept ge-
funden wird.

Z


u Beginn der Entwicklung seines
ersten Businessjets vor mehr als
zehn Jahren war für den Schwei-
zer Flugzeugbauer Pilatus klar, dass die-
ser Zweistrahler mehr bieten müsse als
seine Wettbewerber. Denn die sind be-
reits seit Jahrzehnten am Markt leichter
Businessjets für etwa acht Passagiere eta-
bliert und verfügen über ein weltum-
spannendes Servicenetz. Die Platzhir-
sche sind der amerikanische Konzern
Textron mit den Citation-Jets seines
Tochterunternehmens Cessna. Aber
auch der brasilianische Hersteller Em-
braer ist mit seinen Phenom-Jets der
Baureihen 100 und 300 erfolgreich. Die
300 war viele Jahre der nach Stückzah-
len meistverkaufte Businessjet der Welt.
Also mussten die kleinen Schweizer Pila-
tus-Werke ein Alleinstellungsmerkmal
entwickeln, um künftig gegen die zwei
Haupt-Wettbewerber und weitere Kon-
kurrenten mit ihrem Flugzeug bestehen
zu können.
Das ist ihnen gelungen. Denn die
PC-24 ist derzeit der einzige Businessjet
der Welt, der eine Zulassung für unbe-
festigte Pisten, also Schotter, Sand und
voraussichtlich ab Jahresende auch für
Grasbahnen, aufweist. Einstiegspreis: 10
Millionen Dollar. Die Maschine gibt es
auch als Ambulanzjet. In Australien
beim Royal Flying Doctors Service, der
mehrere PC-24 bestellt hat, muss der Jet

auf den dortigen Rough Fields starten
und landen können. Auch die schwedi-
sche Kommunalvereinigung für Ambu-
lanzflug bestellte im August sechs
PC-24-Ambulanzjets. Die Skandinavier
sehen es ebenfalls als Vorteil an, dass die
neuen Flugzeuge für medizinische Not-
falleinsätze keine asphaltierten Lande-
bahnen benötigen.
Dass die PC-24 von unbefestigten Pis-
ten aus operieren kann, kommt natürlich

nicht von ungefähr. Mit der kleineren
PC-12 hat Pilatus bereits eine Propeller-
Reisemaschine im Modellprogramm.
Die landet ebenfalls auf Schotter, Gras
oder Sand, besitzt auch eine große
Frachttür und glänzt durch Vielseitig-
keit. Allerdings ist die PC-12 nur etwa
500 km/h schnell und hat lediglich eine
Propellerturbine. Kundenbefragungen
ergaben aber, dass sich viele Eigner we-
gen der höheren Sicherheit ein zweites

Triebwerk und eine höhere Endge-
schwindigkeit um 800 km/h wünschen.
Das floss ins Lastenheft der PC-24 ein.
Die Konfiguration der Kabine kann
durch leichtes Entfernen der Sitze
rasch zugunsten von mehr Fracht
geändert werden. Die große Ladetür im
Heck bietet dem Eigner mehr Flexi-
bilität, weil auch Sperriges in den
Frachtraum geladen werden kann.
Gleichzeitig dient diese Tür auch dem
schonenden Anbordnehmen von Patien-
ten, falls die PC-24 als Ambulanzjet be-
trieben wird.
Durch ihre Single-Pilot-Certification
ist lediglich ein Pilot zum Fliegen vorge-
schrieben. Deswegen zielt die PC-24
auch auf den Geschäftsmann, der selbst
steuert und keine Mannschaft benötigt.
Dem Piloten wird die Tätigkeit durch
ein ergonomisches Arbeitsumfeld leicht-
gemacht, wie ein Probeflug vom Flug-
platz Buochs nach Mollis zeigt. So über-
prüft er vor dem Anlassen der Turbinen
und dem Start mit elektronischer Check-
liste, ob alle Systeme einwandfrei funk-
tionieren. Vier Bildschirme zeigen bei
diesem Sichtflug in 9500 Fuß, umgerech-
net fast 2900 Meter Höhe, alle wichti-
gen Daten wie Fluglage, Geschwindig-
keit, Höhe und zur Navigation an. Au-
ßerdem werden auf einem Display die
Positionen anderer Flugzeuge und gege-
benenfalls Warnungen vor diesen durch

das Antikollisionssystem dargestellt. Der
Autopilot verringert ebenfalls die Ar-
beitsbelastung.
Eine besondere Funktion ist die Syn-
thetic-Vision-Darstellung des Geländes.
Wer bei schlechtem Wetter einen Flug-
platz in den Bergen, etwa das österrei-
chische Innsbruck oder das schweizeri-
sche Samedan, ansteuert oder bei
schwierigen Sichtverhältnissen fliegt, ist
froh, dass die Geländedarstellung virtu-
ell ins Display eingespiegelt ist. Der Pi-
lot erkennt, wo Berge oder Hindernisse
drohen, auch wenn er sich etwa in Wol-
ken befindet.
Die PC-24 erreicht eine Maximalge-
schwindigkeit von 815 km/h. Sie liegt
zwar knapp 20 km/h unter der der direk-
ten Wettbewerber Cessna Citation CJ4
und Embraer Phenom 300E, dafür punk-
tet die Schweizerin mit ihrer größeren
Kabine. Hinsichtlich der maximalen
Flughöhe haben alle drei Konkurrenten
mit 13 716 Meter denselben Wert. Als
Triebwerke nutzen PC-24 und Cessna
CJ4 sogar identische Turbinen. Es sind
jeweils FJ-44-4A von Williams.
Wie viele SUVs nie ins Gelände fah-
ren, werden wohl auch manche PC-24
nie Schotter, Sand oder Gras unter ih-
rem Fahrwerk haben, sondern immer
asphaltierte Landebahnen. Aber der Be-
trieb auf unbefestigten Pisten ist zumin-
dest möglich.

Die Kathedrale der Wellen auf dem Felsberg hat eine abenteuerliche


Geschichte und eine avantgardistische Architektur. Jetzt wird ein tragfähiges


Nutzungskonzept gesucht.Von Georg Küffner


Radiodays: Blick ins Innere der
ehemaligen Sendeanlage Fotos Georg Küffner

Die Pilatus PC-24 hat
ungewöhnliche Talente.

Der Zweistrahler darf als
einziger Businessjet auf

Pisten mit Sand, Schotter
oder Gras starten und

landen.


Von Jürgen Schelling


Das filigrane Dach


Ambitionierte Konstruktion: Die ehemalige Sendehalle von Europe 1 entstand in den 1950er Jahren und fasziniert mit einer dramatischen Konstruktionsgeschichte der Pannen und Probleme.

Jetset


auf der


Wiesn


Universalist: Pilatus PC-24 vor einem Testflug über die Alpen Foto Hersteller
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