Die Welt Kompakt - 18.10.2019

(Barré) #1

22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT FREITAG, 18. OKTOBER 2019


J


ugendsprache wird von
manchen älteren Men-
schen als eine moderne
Verfallserscheinung
empfunden, die bestenfalls
nervt und unverständlich ist,
schlimmstenfalls zur Zerstö-
rung des Deutschen beiträgt.
Viele jüngere Menschen dage-
gen neigen dazu, ihre eigene Ju-
gendsprache für die einzig wah-
re zu halten und vehement alle
Jugendwörter, die sie selbst
nicht kennen, für nicht existent
oder uralt zu halten.


VON MATTHIAS HEINE

Deshalb werden es diese bei-
den Fanatikergruppen nicht be-
dauern, dass die Wahl zum „Ju-
gendwort des Jahres“ in diesem
Jahr ausfällt. Der banale Hinter-
grund ist der Kauf des Wörter-
buchverlages Langenscheidt
durch das Konkurrenz-
unternehmen Pons. Da die Wahl
ohnehin immer nur eine kaum
kaschierte Reklame für das all-
jährlich neu aufgelegte kleine
Jugendwörter-Lexikon von Lan-
genscheidt war und das Wörter-
buch in diesem Jahre nicht er-
scheint, kann man auch auf die
Werbeaktion verzichten.
Für alle, die das Thema „Ju-
gendsprache“ nicht ganz so ver-
biestert sehen, ist die Absage ei-
ne unschöne Nachricht. Denn es
war doch immer ganz amüsant,
zu erfahren, was eine Jury, die
sich aus vielen Jugendlichen
und wenigen älteren Experten
(ich war selbst einige Jahre ei-
ner davon) für den relevantes-
ten Ausdruck im brodelnden se-
mantischen Gebräu des Jargons
der unter 25-Jährigen (die Ju-
gend neigt ja heute dazu, immer
länger zu dauern) hielt. Vom Ba-
bo(Jugendwort 2013) und vom
Swag(Sieger 2011) hätten wir
Sprachsenioren vielleicht sonst
nie erfahren. Und das der gute


alte Ehrenmann(Sieger 2018) ei-
ne Renaissance im aktuellen
Hip-Hop erlebt hat, wäre uns
auch nie zu Ohren gekommen.
Semitragisch ist der Ausfall
der Wahl auch, weil es in die-
sem Jahre tatsächlich mal eine
brandaktuelle Kandidatin (sel-
ten war gendern so sinnvoll)
für den Titel gegeben hätte:
Nein, nicht Klimaschutz, obwohl
das bestimmt das Wort war, das
in diesem Jahr in den Köpfen
und Mündern junger Leute am
meisten herumschwirrte. Aber
es ist nun einmal kein Jugend-
wort im engeren Sinne, also ein
Begriff, den Jugendliche kreiert
haben, um sich linguistisch von
Erwachsenen abzugrenzen.
Das Wort, dem der Sieg
kaum zu nehmen gewesen wä-
re, ist VSCO-Girl. Mit dem Aus-
druck bezeichnet sich selbst
ein Typus junger Mädchen, de-
ren Gruppenkennzeichen ist,
dass sie markenorientiertes
Modebewusstsein mit ökologi-
scher Nachhaltigkeit verbin-
den möchten und dass sie die-
sen eigentlich unauflösbaren
Widerspruch mit Selbstironie
auf die Schippe nehmen. Be-
nannt sind die VSCO-Girls
(sprich: Visco Girls) nach einer
seit 2011 existierenden Bildbe-
arbeitungs-App mit zugehöri-
ger Community. Die App hat
rund 20 Millionen Nutzer pro
Woche, 75 Prozent davon sind
unter 25 Jahre alt. Dort, auf
Instagram und auf dem Kurzvi-
deo-Portal Tiktok (YouTube
ist sooooooo alt), posieren die
Mädchen mit den typischen
Accessoires: Scrunchys (volu-
minöse, mit Stoff bezogene,
geraffte Haarbänder) nicht nur
im Haar, sondern auch mehr-
fach an den Handgelenken,
Muschelketten, Freundschafts-
armbänder, Metallstrohhalme
(Plastik ist böse!), ein lässiger
Dutt, kein Make-up (oder zu-

mindest eines, das aussieht, als
trüge man keines), Polaroid-
kameras, Crocs, Birkenstock
und noch viel mehr.
Auch wenn es den Ausdruck
VSCO-Girlschon etwas länger
gibt. Richtig in Schwung ge-
kommen ist er erst seit der Mit-
te dieses Jahres. Seit dem Juni
2019 steigt die Zahl der Google-
Suchen an. Das Wort würde al-
so auch den strengsten Aktuali-
tätsansprüchen an ein „Jugend-
wort des Jahres“ genügen. Aber
vielleicht macht es die Jugend-
wort-Jury ja so wie das Litera-
tur-Nobelpreiskomittee: Das
verlieh die Auszeichnung in
diesem Jahr zweimal, einmal
für 2019, einmal nachträglich
für 2018, als der Preis wegen ei-
nes Skandal im Hintergrund
der Jury nicht verliehen wurde.
Wie auch immer – die Ju-
gendsprache verschwindet
nicht, nur weil das Jugendwort
des Jahres“ verschwindet. Es
hat sie vermutlich schon immer
gegeben (interessant wäre es,
die Graffiti in Pompeji mal auf
ihren Gehalt an römischer Ju-
gendsprache zu untersuchen),
und es wird sie immer geben.
In Deutschland ist Jugend-
sprache seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts nachzuweisen.
Von dieser Zeit an fingen die
Studenten, die damals deutlich
jünger waren als heute, an, ih-
ren Jargon in speziellen Wör-
terbücher zu sammeln. Das ers-
te war Christian Wilhelm Kind-
lebens „Studenten-Lexicon“ in
Halle 1781. Auch Goethe hat ei-
ne kleine handschriftliche
Sammlung von Studentenwör-
tern angelegt. Die Studenten-
sprache hatte langfristig einen
großen Einfluss auf die deut-
sche Standardsprache. Wörter
wie Pech(„Unglück“) oder pum-
penim Sinne von „leihen“ kom-
men aus den Universitäten des


  1. Jahrhunderts.


Im frühen 19. Jahrhundert
wurden die Studenten poli-
tisch. Sie engagierten sich in
Burschenschaften für die na-
tionale Einigung und kämpften
um bürgerliche Rechte. Ihre
Ziele ähnelten denjenigen der
von Friedrich Ludwig Jahn be-
gründeten Turnbewegung.
Auch den Wortschatz dieser
Gruppe kann man mit einigem
Recht der Jugendsprache zu-
ordnen, denn es handelte sich
um eine Jugendbewegung,
wenn es auch ältere Anreger
gab – doch Jahn wäre ja nicht
„Turnvater“ genannt worden,
wenn seine Anhänger nicht
fast noch Kinder gewesen wä-
ren. Neben dem klassischen
Turnwortschatz – also Be-
zeichnungen für Geräte und
Übungen – bescherten Jahn &
Co der deutschen Sprache
auch viele neue und wieder
ausgegrabene Wörter, wie zum
Beispiel Gau, das sich dann
später die Nazis aneigneten.
Während weiter Studenten-
wörterbücher gedruckt wurden
und der große Etymologe Fried-
rich Kluge 1895 die Sprache je-
ner Gruppe erstmals wissen-
schaftlich erforschte, formierte
sich ein loser Bund von jungen
Menschen, die ein ganz neues
Lebensgefühl propagierten: die
„Jugendbewegung“, deren frü-
heste und berühmteste Gruppe,
der 1896 in Berlin begründete
„Wandervogel“ war. Sie propa-
gierte als Reaktion auf die Ver-
städterung ein naturnahes Le-
ben mit viel Aktivitäten an der
frischen Luft bei ausgedehnten
Wanderungen inklusive des ge-
meinsamen Singens von Volks-
liedern.
Auch die Jugendbewegung
hat den deutschen Wortschatz
um neue Wörter und Bedeutun-
gen bereichert. Allerdings wur-
de ein großer Teil dieser Aus-
drücke von den Nationalsozia-

listen übernommen, weshalb
wir sie heute als Naziwörter
empfinden und die Erinnerung
an Wandervogel & Co getilgt
ist. Sie waren beispielsweise die
Ersten, die von Führernund
Mädelnin jenem Sinne spra-
chen, der dann zu NS-Zeit be-
stimmend wurde.
Anfang des 20. Jahrhunderts
wird dann erstmals auch eine
mehr oder weniger eigenstän-
dige Schülersprache greifbar.
Die Schülersprache bringt bei-
spielsweise kolossalhervor, das
in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts bei Jugendlichen
eine ähnliche Bedeutung hatte
wie heute cool oder geil.Man
hört es auch in der Verfilmung
des Erich-Kästner-Romans
„Emil und die Detektive“
durch Billy Wilder 1931. Kolos-
salist auch noch ein Modewort
bei Hitlerjungen in den frühen
4 0er-Jahren. Jenseits des offi-
ziellen Sprachgebrauchs spra-
chen die Jungen in der HJ auch
nicht anders als auf dem
Schulhof.
Den Jugendwortschatz der
Nachkriegszeit dokumentiert
sehr schön ein kleines „Wörter-
buch der Teenager- und Twen-
sprache“, das 1962 in Zusam-
menarbeit mit dem journalis-
tisch bahnbrechenden Magazin
„Twen“ erschien. Viele dieser
Wörter tauchen auch in den
deutschen Fassungen der
Beatles-Filme „A Hard Days
Night“ und „Help“ auf, womit
belegt wäre, dass sich deren
deutsche Synchronisatoren um
authentische Jugendsprache
bemühten. Es ist schon sehr be-
fremdlich, John, Paul, Georg
und Ringo plötzlich Ausdrücke
wie steiler Zahn, dufteoder schau
sagen zu hören.
Ende der 60er-Jahre beginnt
dann eine Epoche der Jugend-
sprache, die im Grunde bis
heute anhält: Englische Ein-
flüsse mischen sich mit Hip-
pie-Wörtern und 68er-Jargon.
Plötzlich weiß alle Welt, was
kiffenist und dass man das, was
man dazu braucht, beim Dealer
kauft. Aber auch Wörter wie
durchgeknallt(„verrückt“), die
man heute schon gar nicht
mehr der Jugendsprache zu-
ordnet, kommen auf.
Die allerneuesten Einflüsse
auf die Jugendsprache sind Rap,
Digitalisierung und Migration.
Dafür stehen Wörter wie Kek
(„Idiot“), das zuerst von Hip-
Hoppern wie Bushido ge-
braucht wurde, Swag(ebenfalls
aus dem Rap) oder solche in
Chats und SMS gebräuchliche
Kurzform wie WTFoder LOL.
Manche Jugendwörter gab es
sogar zweimal. Krasszum Bei-
spiel erlebte ein unvorherseh-
bares Comeback. In der Ju-
gendsprache des 18. und 19.
Jahrhunderts bedeutete es „un-
bedarft, nicht mit den Regeln
des studentischen Komments
vertraut“ – ein krasser Fuchs
war ein Neuling an der Univer-
sität. In den 1990er-Jahren kam
krass dann bekanntlich wieder
in Mode, diesmal im Sinne von
„erstaunlich, toll“.

GETTY IMAGES

/RON LEVINE

VSCO-Girl


Die Wahl zum „Jugendwort des Jahres“


fällt aus. Dabei hätte es eine fast


unschlagbare Kandidatin gegeben.


Über Mädchen mit dicken Haargummis


und 250 Jahre Jugendsprache

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