Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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von sabine reithmaier

F


ranz Marc war mit den Nerven am En-
de, als er am 27. März 1907 in den
Nachtzug nach Paris stieg. Wenige
Stunden zuvor hatte der 27-jährige Maler
Marie Schnür geheiratet, eine elf Jahre älte-
re Kunstlehrerin an der Münchner Damen-
akademie, und seine Geliebte Maria
Franck damit tief verletzt. Die dritte Frau
in seinem Liebesleben, Annette Simon, hat-
te er von der Heirat noch gar nicht infor-
miert. Grund genug also für eine Flucht
nach Paris, um seine „schwankende, ge-
ängstigte Seele vor den wunderbaren Wer-
ken van Goghs zu beruhigen“, wie er Maria
Franck schrieb. Ihr, der späteren zweiten
Ehefrau, teilte er nach seiner Rückkehr
auch mit: „Van Gogh ist für mich die teuers-
te, größte und rührendste Malergestalt,
die ich kenne. Ein Stück einfachster Natur
zu malen und dahin allen Glauben und
Sehnsucht hineinzumalen, das ist doch
das Würdigste.“

Da der Niederländer zwischen 1908 und
1909 auch mehrmals in München ausge-
stellt wurde, gab es genügend Gelegenhei-
ten für Marc, seine Eindrücke zu verfesti-
gen, zumal er bei der großen Ausstellung
im Dezember 1909 den Galeristen Brakl
und Thannhauser sogar bei der Hängung
der 70 Exponate half. Doch auch zuvor
schon lässt sich der große Einfluss van
Goghs auf ihn nachweisen. Im Herbst 1907
malte er an der Ostsee – er hatte Marie
Schnür zu ihrer Familie begleitet – mit pas-

tosem Farbauftrag und kurzen Pinselstri-
chen die Ölskizze „Frau im Wind“. Marc
braucht dafür nur drei Farben: Grün, Blau
und Sandgelb. Van Gogh ist auch mit da-
bei, als er sich im Sommer 1908 mit Maria
Franck nach Lenggries zurückzieht. Wo-
chenlang experimentiert er mit Farben,
verbraucht „Kremserweiß I und Cadmium
hellst“ kiloweise, hält Maria Marc später in
ihren Erinnerungen fest.
Auch die Akte, die er von 1909 an malt,
stehen unter dem Einfluss des Niederlän-
ders. Marc geht es nicht mehr um individu-
elle Persönlichkeiten, er malt flächige, far-
bige Körper. Bei seinen „Katzen auf rotem
Tuch“ (1909/10) stellt er den Bezug zu van
Gogh sogar selbst her, als er Neujahr 1910
an Maria schreibt: „Für das Katzenbild
scheine ich endlich meine Formel zu fin-
den. Es ist eine höchst komplizierte Studie
geworden; ich bin sehr begierig auf Dein
Urteil. Ich hoffe, morgen ganz fertig zu wer-
den, das walten Gott und der noch göttli-
chere van Gogh.“
Marc sammelt wie sein Vorbild japani-
sche Farbholzschnitte. Van Gogh, der man-
che dieser Motive als Ölgemälde ausführ-
te, hatte an seinen Bruder Theo geschrie-
ben: „Ich beneide die Japaner um die unge-
mein saubere Klarheit, die alle ihre Arbei-
ten haben.“ Auch Marc besaß zahlreiche Tu-
schezeichnungen und Farbholzschnitte.
Aus Geldnot handelte er bis Mitte 1910 so-
gar mit japanischer Kunst und setzte sich
in vielen Zeichnungen und Skizzen mit ja-
panischen Bildformen auseinander.
Mit seiner Begeisterung für van Gogh
und japanische Kunst stand Marc nicht al-
lein, auch manche seiner Mitstreiter vom
Blauen Reiter teilten sie. Zu jener losen
Künstlervereinigung, die Marc 1911 ge-
meinsam mit Wassily Kandinsky ins Le-
ben rief, um Ausstellungen zu veranstal-
ten und den gleichnamigen Almanach her-
auszugeben, zählten auch Alexej von Jaw-
lensky und Marianne von Werefkin. In de-
ren Salon in der Schwabinger Giselastraße
traf man sich oft zum produktiven Aus-
tausch. Das Paar besaß seit 1908 sogar ei-
nen eigenen van Gogh: „Das Haus des Père
Pilon“. Jawlensky hatte es mit finanzieller
Unterstützung seiner Lebensgefährtin ge-
kauft. „Als Mensch und Künstler ist er mir

theuer und lieb. Etwas von seiner Hand zu
besitzen war seit Jahren mein heißer
Wunsch“, schwärmte er in einem Brief an
Johanna van Gogh-Bonger, die den Nach-
lass verwaltete. Er hatte Werke van Goghs
erstmals 1903 in der Frühjahrsausstellung
der Münchner Secession gesehen. Ihn fas-
zinierte, dass dem Niederländer der Inhalt
eines Bildes weniger wichtiger war als Far-
be und Rhythmus des Pinselstrichs.

Jawlenskys Begeisterung ging auch auf
Gabriele Münter über, die sich nur lang-
sam vom „Naturabmalen“, wie sie es nann-
te, befreite. Sie hatte Werke van Goghs im
Mai 1906 in Paris gesehen, wo sie mit ih-
rem Lebensgefährten Kandinsky ein Jahr
lebte. Im Sommer 1908, den sie mit Kan-
dinsky, Werefkin und Jawlensky in Mur-
nau verbrachte, machte sie, wie sie später
schrieb, „nach einer kurzen Zeit der Qual ei-

nen großen Sprung“. Mit Hilfe der Farbe ge-
langte sie zu einer vereinfachten Formge-
bung und zu intensiv leuchtenden Bildern.
„Wenn ich ein formales Vorbild hatte – und
gewissermaßen war das von 1903 bis 1913
der Fall –, so ist es wohl van Gogh durch
Jawlensky und dessen Theorien (das Spre-
chen von Synthese).“ Münter arbeitete oft
mit dem russischen Maler – „einerseits lob-
te er gern. .. andrerseits erklärte er mir

manches“. Mit der Folge, dass sich Münter
nicht mehr „um nachrechenbare ’richtige’
Form der Dinge“ bemühte. „Ich stellte die
Welt dar, wie sie mir wesentlich schien.“
Sie nutzte die Farbe, um Emotionen auszu-
drücken und das zu malen, was sie fühlte,
nicht das, was sie sah. Sie verknappte Bäu-
me, Berge, Häuser zu Bildformeln. Van
Goghs Werke lieferten ihr dazu einen wich-
tigen Impuls.

Im Jahr 1908 bewies der damalige Städel-
Direktor Georg Swarzenski Weitsicht, als
er ein erstes Werk von Vincent van Gogh
für die Sammlung kaufte, weitere folgten
kurz darauf. Aber wer weiß schon, was gu-
te Kunst ist, und wie geht ein Museumsdi-
rektor heute bei Ankäufen vor? Ein Ge-
spräch mit Philipp Demandt, Direktor des
Städel Museums, der Liebieghaus Skulptu-
rensammlung und der Schirn Kunsthalle.

Worauf legt das Städel bei Neuanschaf-
fungen Wert?
Philipp Demandt: Zum einen natürlich auf
die Qualität des Werkes, zum anderen auf
seine Passgenauigkeit in unserer Samm-
lung. Das Städel ist 1815 aus der Privat-
sammlung unseres Gründers hervorgegan-
gen und hat damit, anders als viele deut-
sche Museen, einen bürgerlichen Hinter-
grund, keinen höfischen. Und das zeigt
sich auch in der Sammlung. Im Altmeister-
bereich dominieren die großen Namen in
bürgerlichen Formaten, im Bereich der Mo-
derne wiederum hat das Haus sehr früh
sehr progressiv gesammelt. Zudem liegt
das Hauptaugenmerk unserer Erwerbun-
gen auf der Malerei, der Grafik und der Fo-
tografie, weniger auf der Skulptur.

Oft entscheidet sich erst nach Jahren, ob
Werke wegweisend waren und eventu-
ell im Wert steigen. Von welchen Fakto-
ren hängt die Kaufentscheidung ab?
Der Marktwert eines Künstlers hängt von
vielen Faktoren ab und ist nicht notwendi-
gerweise ein Gradmesser seiner musealen
Qualität. Auch die Idee des Wegweisenden
hat sich im Zuge der Auflösung aller Ismen
eigentlich verflüchtigt. Im 21. Jahrhundert
kann die Malerei kein Wettlauf in die Inno-
vation mehr sein. Dafür wurde schon zu
viel gemalt. Was für uns zählt, sind Sub-
stanz und Eigenständigkeit, kurzum: die
künstlerische Qualität. Aber erwarten Sie
jetzt von mir bitte keine Checkliste. Wir be-
werten ja immer auf Basis langer Seherfah-
rung. Und natürlich spiegeln Erwerbun-
gen immer auch die Vorstellungen der je-
weiligen Direktoren und Kuratoren.
Grundsätzlich gilt für uns: Beim Kunster-
werb sind Distanz, Geduld und Augenmaß
oft wichtiger als Schnelligkeit. Zumal das
Städel kein Kunstverein ist. Vielmehr beob-
achten wir die Entwicklung von Künstlern
für Jahre oder Jahrzehnte, ehe wir uns
zum Kauf entschließen. Aber auch da
braucht es Mut, vor allem, wenn man anti-
zyklisch oder gegen den Mainstream
kauft.

Das Städel hat Werke aus sieben Jahr-
hunderten. Sind alle Epochen gleicher-
maßen vertreten?
Das Städel steht für Schwerpunkte. Bei
den Altniederländern und der altdeut-
schen Malerei sind wir ungemein stark,
denken Sie an van Eyck, an Holbein oder
Grünewald. Eines der wichtigsten Rem-

brandt-Gemälde der Welt hängt bei uns,
auch einer der schönsten Vermeers, von
Botticelli ganz zu schweigen. In der Moder-
ne liegt der Fokus auf dem deutschen Ex-
pressionismus. Ernst Ludwig Kirchner
und Max Beckmann sind sozusagen unse-
re Hauskünstler. Im Bereich der Neuen
Sachlichkeit und des Surrealismus ist
noch Luft nach oben. Unlängst ist uns hier
der Erwerb eines Hauptwerks von Richard
Oelze gelungen, was mich ungemein ge-
freut hat! Dabei haben der Städelsche Mu-
seums-Verein und die Kulturstiftung der
Länder sehr geholfen. Unsere Sammlung
der Kunst nach 1945 konzentriert sich auf
die deutsche Malerei im internationalen
Kontext. Hier konnten wir in den letzten
Jahren dank unserer Mäzene im Städelko-
mitee substanzielle Erwerbungen tätigen,
zuletzt etwa frühe Werke von Walter Stöh-
rer und Thomas Scheibitz sowie von Mai-
na-Miriam Munsky.

Was würden Sie persönlich am liebsten
zukaufen?
Ich hätte gerne Werke von Pierre Soulages,
Bridget Riley oder Domenico Gnoli – natür-
lich Hauptwerke aus der besten Zeit. Aber
manches kann man heute nicht mehr kau-
fen, das geht nur noch geschenkt. Ein Drit-
tel aller Werke im Städel sind Geschenke,
ein Bürgermuseum eben. Unlängst stiftete
eine langjährige Freundin unseres Hauses
dem Städel einen wunderbaren Josef Al-
bers und ein Werk von Hans Hartung.

Digital ist das Städel ja bereits wegwei-
send. Was könnte noch kommen?
Beim Digitalen und insbesondere in der
Vermittlungsarbeit sind wir in der Tat sehr
gut aufgestellt. Wir haben gerade unseren
ersten Städel Podcast gelauncht, wichtig
ist auch unsere digitale Museumsinfra-
struktur, die wir weiter ausbauen müssen.
Am Ende des Tages aber, so meine feste
Überzeugung, ist ein Museum ein höchst
analoger Ort. Nicht zuletzt aus diesem
Grund investieren wir derzeit sehr in die
bauliche Substanz des Städel. Das Flui-
dum des Originals ist eben nur vor dem Ori-

ginal zu erleben. Apropos Original: Was
das Ausstellungsprogramm angeht, so
steht das Städel nicht nur für einen fri-
schen Blick auf die großen Namen der
Kunstgeschichte wie van Gogh. Sondern
immer auch für die Erweiterung des klassi-
schen Kanons, für die Vergessenen und die
Übersehenen in der Kunstgeschichte. Un-
sere Ausstellung zur Malerin Lotte Laser-
stein schloss unlängst mit über 130000 Be-
suchern.

Im Gegensatz zu vermögenden Privat-
leuten verfügen Häuser wie das Städel
oder öffentliche Museen nur über be-
grenzteMittel. Wie gehenSiedamit um?
In der Tat muss das Städel rund 85 Prozent
seiner Ausgaben selbst erwirtschaften,
das ist ein in Deutschland für ein Museum
dieser Größe sicherlich einzigartiger Wert.
Gelingen kann das nur durch gute Arbeit,
die eben nicht nur unsere Besucher an-
zieht, sondern, noch wichtiger, unsere vie-
len Förderer und Mäzene immer wieder
aufs Neue überzeugt. Denn ein Museum
ist kein Wirtschaftsbetrieb. Einen Großteil
unseres Budgets verdanken wir unseren
Förderern, vom normalen Mitglied des Stä-
delschen Museums-Vereins bis hin zum
Großspender. Jeder Beitrag zählt.

Wie könnte sich der entfesselte Kunst-
markt auf die Museen auswirken?
Nun, das ist eine Medaille mit zwei Seiten.
Zum einen steigern die Kapriolen des
Kunstmarkts natürlich die Aufmerksam-
keit für Kunst. Zum anderen steigen paral-
lel dazu die Versicherungssummen ins Un-
ermessliche. Ein Haus wie das Städel, das
für seine zwei bis drei großen Publikums-
ausstellungen Meisterwerke aus aller Welt
nach Frankfurt holt, spürt das an den Prä-
mien.

Welche Tradition des Städel schätzen
Siebesonders? Odergibtes eine Traditi-
on, die Sie gerne begründen würden?
Die große Identifikation meiner Kollegen
hier am Haus mit ihrer Arbeit und die Lie-
be der Frankfurter zu ihrem Städel, das ist
schon was ganz Besonderes. Und das gilt
nicht minder für die Schirn Kunsthalle
und die Liebieghaus Skulpturensamm-
lung. Mich macht das wirklich glücklich
und stolz. Und es trägt mich als Direktor
sehr. Tradition ist ja nun bekanntermaßen
nicht das Anbeten der Asche, sondern die
Weitergabe des Feuers. Was später als „De-
mandt-Tradition“ erkennbar sein wird,
das sollen dann andere entscheiden.

interview: johanna pfund

In die Natur wird
Glauben und Sehnsucht
hineingemalt

Das Wesen


der Welt


Van Gogh lieferte den Künstlern


des „Blauen Reiter“ wichtige Impulse


Substanz zählt


Städel-Direktor Philipp Demandt über Ankäufe und Wiederentdeckungen


Starke Farben, und die Landschaft auf Bildformeln reduziert: Gabriele Münters „Allee vor Berg“ (1909). FOTO: PRIVATBESITZ; VG BILD-KUNST, BONN 2019; GALERIE THOMAS, MÜNCHEN

Van Gogh
Verantwortlich: Peter Fahrenholz
Redaktion: Johanna Pfund
Anzeigen: Jürgen Maukner

Philipp Demandt hätte für die Samm-
lung des Städel durchaus Wünsche, zum
Beispiel Werke von Pierre Soulages. DPA

20 SZ SPEZIAL – VAN GOGH Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH


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