Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1

Haushaltspolitik


Die Euro-Zone verlässt den Sparkurs


Die Zeit des Sparens ist vorbei.


Fast alle Euro-Staaten wollen


2020 die Ausgaben erhöhen,


um dem drohenden


Abschwung zu begegnen.


Ruth Berschens, Jan Hildebrand
Brüssel, Berlin


D


er 15. Oktober ist ein wichti-
ger Termin im europapoliti-
schen Kalender: Spätestens
an diesem Tag müssen die 19 Euro-
Staaten ihr Budget für das neue Jahr
in Brüssel einreichen – und dieses
Jahr haben alle pünktlich geliefert.
Die Quintessenz der Haushaltspläne
für 2020 lautet: Die Zeit, in der das
oberste Ziel Haushaltskonsolidierung
lautete, geht zu Ende. Mit Blick auf
den drohenden Abschwung schalten
die meisten Euro-Staaten um auf eine
expansivere Haushaltspolitik.
Die fiskalpolitische Wende vollzieht
sich allerdings nur langsam: Unter
den Ländern mit gesunden Staatsfi-
nanzen preschen die Niederlande
noch am weitesten vor: Die Regie-
rung in Den Haag will den Haushalts-
überschuss relativ zur Wirtschaftsleis-
tung um mehr als einen Prozent-
punkt auf 0,2 Prozent senken.
Dagegen soll der deutsche Haushalts-
überschuss nur um einen halben Pro-
zentpunkt auf 0,75 Prozent fallen. Ih-
re Haushaltsüberschüsse senken wol-
len auch Estland, Luxemburg und –
trotz ihrer hohen Schuldenberge –
Zypern und Griechenland.
Österreich und Irland gehören die-
ses Jahr ebenfalls zu den Überschuss-
Ländern, doch nächstes Jahr drehen
sie ins Defizit. Finnland und das
hochverschuldete Belgien haben für
2020 steigende Defizitquoten nach
Brüssel gemeldet. Das Land mit dem
zweithöchsten Schuldenberg der
Euro-Zone will 2020 ebenfalls nicht
sparen: Italien plant dieses und
nächstes Jahr mit einer Defizitquote
von 2,2 Prozent. Das konjunkturbe-
reinigte sogenannte strukturelle Defi-
zit soll nächstes Jahr sogar auf 1,
Prozent steigen. „Eine neutrale Fis-
kalpolitik“ mit „leicht expansiver“
Tendenz“ sei nötig, um die „Auswir-
kungen der konjunkturellen Ver-
schlechterung abzufedern“, heißt es
in dem italienischen Budgetplan.
Das ebenfalls hochverschuldete
Frankreich scheint nicht in den allge-
meinen Trend zu passen – allerdings
nur auf den ersten Blick: Die französi-
sche Defizitquote soll von 3,1 Prozent
in diesem auf 2,2 Prozent im nächs-
ten Jahr sinken. Zugleich plant die
Regierung in Paris jedoch „massive
Entlastungen bei Steuern und Sozial-
abgaben“. Das Sparziel will die Regie-
rung in Paris trotzdem erreichen –
und zwar vor allem mit nicht näher
spezifizierten Kürzungen bei den
Staatsausgaben.
Die EU-Kommission wird die
Haushaltsentwürfe nun auf ihre
Plausibilität überprüfen. Vor allem
Deutschland und Italien müssen mit
Kritik aus Brüssel rechnen. Die Re-
gierung in Rom spart nach Auffas-
sung der EU-Kommission zu wenig,
und sie schönt immer wieder die
Defizitzahlen. In ihrer Frühjahrs-
prognose hatte die Kommission eine
Defizitquote von 3,5 Prozent für Ita-
lien vorhergesagt, deutlich mehr als
im römischen Haushaltsplan angege-
ben. Gut möglich, dass die Kommis-
sion die düstere Vorhersage in ihrer


im November anstehenden Herbst-
prognose bestätigen wird.
Für Italien stellt sich dann sehr
bald erneut die Frage, ob die EU-
Kommission ein Strafverfahren we-
gen überhöhter Verschuldung einlei-
tet. Eine Antwort auf diese Frage
muss dann der designierte italieni-
sche Wirtschaftskommissar Paolo
Gentiloni finden.
Bei Deutschland ist die Kritik ge-
nau umgekehrt: Die Bundesregierung
muss sich wahrscheinlich wieder vor-
halten lassen, dass sie ihren finanziel-
len Spielraum zu wenig nutzt. Auch
der Internationale Währungsfonds
(IWF) und die OECD fordern schon
länger höhere Ausgaben und Investi-
tionen von Deutschland, stoßen aber
weitgehend auf taube Ohren. Finanz-
minister Olaf Scholz (SPD) hält bisher

eisern an der schwarzen Null, also ei-
nem ausgeglichenen Bundeshaus-
halt, fest. Er argumentiert, dass die
Bundesregierung ihre Investitionen
bereits auf Rekordniveau gesteigert
habe, das Geld aber zu langsam ab-
fließe, da die Kapazitäten, etwa am
Bau, begrenzt seien.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU) erklärte am Donnerstag, die
Finanzpolitik der Bundesregierung
sei bereits expansiv. 2020 leiste sie ei-
nen fiskalischen Impuls von 0,5 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts, sag-
te er bei der Vorstellung der Herbst-
projektion der Bundesregierung.
Die regierungsamtliche Konjunk-
turprognose fiel erneut schwächer
aus. Für dieses Jahr rechnet die Bun-
desregierung weiterhin mit einem
Wachstum von 0,5 Prozent. Für das

Jahr 2020 geht sie nun nur noch von
einem Plus von 1,0 Prozent aus – bis-
her hatte sie 1,5 Prozent vorherge-
sagt. Davon sind 0,4 Prozentpunkte
darauf zurückzuführen, dass das Jahr
mehr Arbeitstage hat. Ohne diesen
Effekt würde das Wachstum mit 0,
Prozent nur geringfügig höher liegen
als im laufenden Jahr.
Die wirtschaftliche Belebung im
Herbst sei nicht wie erwartet einge-
treten, sagte Altmaier. Deutschland
sei aber nicht in einer „Konjunktur-
krise“. Und mit Maßnahmen wie der
steuerlichen Forschungsförderung
oder Anreizen zur energetischen Ge-
bäudesanierung sorge die Regierung
für Impulse. Altmaier sieht aber Be-
darf für mehr: So erneuerte er seine
Forderung nach einer steuerlichen
Entlastung der Unternehmen.

1,


PROZENT
Wachstum sagt die
Bundesregierung für
das Jahr 2020 voraus.

Quelle:
Wirtschaftsministerium

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Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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