Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
Ruth Berschens, Carsten Volkery
Brüssel, London

D


ie erlösende Nachricht kam am spä-
ten Vormittag. „Wir haben eine neue
und rechtlich machbare Lösung ge-
funden, die für die EU, für das Verei-
nigte Königreich und für die Men-
schen und Unternehmen in Nordirland funktio-
niert“, verkündete EU-Chefunterhändler Michel
Barnier. Premierminister Boris Johnson sprach gar
von einem „großartigen Vertrag“, der den Austritt
seines Landes aus der EU am 31. Oktober sicher-
stelle.
So weit ist es noch lange nicht. Erst einmal muss
Johnson sein eigenes Parlament dazu bringen, das
Abkommen durchzuwinken. Und hier ist Skepsis
angebracht: Bereits dreimal hat das Unterhaus den
EU-Austrittsvertrag durchfallen lassen und damit
Johnsons Vorgängerin Theresa May schließlich zum
Rücktritt gezwungen. Nun versucht der neue briti-
sche Premier sein Glück – auch er könnte eine Nie-
derlage erleben.
Am Samstag wird in Westminster abgestimmt.
Seinen kleinen Bündnispartner, die nordirische De-
mocratic Unionist Party (DUP), muss Johnson noch
überzeugen. Die neuen Brexit-Vorschläge seien
nicht zum „ökonomischen Wohle Nordirlands“
und würden die „langfristigen Interessen“ sowie
die „Integrität des Vereinigten Königreichs“ auch
nicht schützen, erklärte die DUP am Donnerstag in
Belfast. Die DUP stellt zwar nur zehn Abgeordnete
im Unterhaus, doch die gelten als einflussreich. Ei-
ne eigene Mehrheit hat die Regierung ohnehin
nicht mehr, seit Johnson 21 Kritiker aus seiner Frak-
tion ausschloss. Und auf die Hilfe der Opposition
kann Johnson nicht bauen. Jeremy Corbyn empfahl
seinen Leuten bereits, Johnsons Deal abzulehnen.
Er sei „sogar noch schlechter“ als Theresa Mays
Verhandlungsergebnis, sagte der Labour-Chef.
Die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes TUC,
Frances O’Grady, sprach von einem „Desaster für
Arbeitnehmer“. Alle Abgeordneten sollten gegen
den Deal stimmen, sagte sie. Auch die proeuropäi-
schen Liberaldemokraten und die schottischen Na-
tionalisten winkten ab.
Beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel kam
daher keine Feierstimmung auf. Zwar haben am
frühen Abend die Regierungschefs der EU-27 dem
neu ausgehandelten Austrittsvertrag zugestimmt.
Doch „legitime Vorsicht“ sei angebracht, sagte der
französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
„Ich will glauben, dass Premierminister Johnson ei-
ne Mehrheit für den Vertrag bekommt“, sagte Ma-
cron. Zuversicht klingt anders. Auch Bundeskanzle-
rin Angela Merkel verwies auf die noch ausstehen-
de Abstimmung im Unterhaus. Immerhin zeigte sie
sich „ganz optimistisch“.
So mischte sich die Erleichterung über den ge-
lungenen Deal mit der Angst, dass der Vertrag er-
neut im Unterhaus scheitert. Auch an den Finanz-
märkten sorgte die Nachricht nur kurz für Eupho-
rie. Der deutsche Leitindex gab einen Teil seiner
kräftigen Zugewinne bald wieder ab, und der
Pfundkurs sank wieder unter sein Vortagesniveau.
In der deutschen Wirtschaft hielt sich der Jubel
ebenfalls in Grenzen. Der Präsident des Deutschen
Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweit-
zer, sprach zwar von einem Lichtblick. Das ausge-
handelte Austrittsabkommen könnte Folgen für
deutsche Unternehmen abfedern. Zugleich sagte
er: „Der No-Deal-Brexit ist aber erst vom Tisch,
wenn die Parlamente auf britischer wie auf EU-
Seite zug estimmt haben. Das lange Hin und Her bei
den Brexit-Gesprächen hat die Wirtschaftsbezie-
hungen zwischen Deutschland und dem Vereinig-
ten Königreich in den vergangenen Jahren stark ne-
gativ beeinflusst.“ Für die deutschen Unternehmen
habe vor allem der Schutz des EU-Binnenmarkts
Priorität.
Was den Inhalt des Austrittsvertrags angeht, so
haben beide Seiten Kompromisse gemacht. John-

son musste akzeptieren, dass EU-Binnenmarktvor-
schriften und EU-Zölle in Nordirland womöglich
noch lange gelten werden. Die EU-27 nahmen hin,
dass es für Nordirland im Vergleich zum ursprüng-
lichen Modell nur einen abgeschwächten Backstop
geben wird. Die künftige EU-Außengrenze in Nord-
irland wird also vielleicht irgendwann nicht ganz so
sicher kontrolliert werden können wie andere Au-
ßengrenzen der EU. Der Fall tritt allerdings nur ein,
wenn Großbritannien und die EU sich nicht auf ein
neues Freihandelsabkommen einigen können. Da-
für haben beide Seiten bis Ende 2020 Zeit, viel-
leicht sogar bis Ende 2022. Bis Ende 2020 bleibt
Großbritannien Mitglied des Europäischen Binnen-
markts, und diese Übergangsfrist ist noch um zwei
Jahre verlängerbar.
Das neu vereinbarte vertragliche Zusatzprotokoll
zu Irland sieht im Einzelnen folgende Bestimmun-
gen vor.
Erstens: Bis zum Inkrafttreten eines Freihandels-
abkommens zwischen Großbritannien und der EU
werden die EU-Binnenmarktgesetze für folgende
Bereiche weiter in Nordirland angewandt: Waren,
Veterinärvorschriften für lebende Tiere, EU-Regeln
für landwirtschaftliche Produktion und Vermark-
tung, EU-Beihilfevorschriften.
Zweitens: Die bisher im Austrittsvertrag vorgese-
hene Zollunion zwischen ganz Großbritannien und
der EU entfällt. Stattdessen soll es eine Art Zoll-
partnerschaft zwischen Nordirland und der EU ge-
ben. Offiziell bleibt Nordirland zwar „Teil der Zoll-
union des Vereinigten Königreichs“, wie es aus-
drücklich in dem neuen Protokoll heißt. Doch
zugleich müssen die britischen Behörden gemein-
sam mit der EU sicherstellen, dass auf alle für den
europäischen Binnenmarkt bestimmten Güter so-
wohl aus Großbritannien als auch auf Drittstaaten
EU-Zölle erhoben werden. Ein mit Beamten aus

REUTERS

Photothek/Getty Images

Ich hoffe sehr,


dass meine


Ab geordneten -


kollegen jetzt


einig werden,


um diesen


hervorragen -


den Deal


über die


Ziellinie zu


bringen.


Boris Johnson
Premierminister
Großbritanniens

NNNNNNNaaaaaaccccchhh ddddddeeeerrrr EEEEEEEiiinnnniiigguuuuunnggg iinn BBBBrrüüüsssssseeellll mmmmüüüssssssseeeennn dddiieee


PPPaaaaarrrlllaaaammmeeennnttttttteeee iinnn SSSStttttrraaßßbbbuurrrgggg uuunnddd LLLooonnnndddooonnn


zzuuusssstttiimmmmmmmmeeeenn.. DDDDiieee MMMMeeehhhhrrrhhhheeeiitt iimmm bbbbbrrriiitttiisscchhhheeeeennnn


UUUUUUnnnnnnttteeeerrrrhhhhhaaaaaaauuuussss iiiisssstttttt hhhhhööööcccchhhhhhssssttttt uuuuunnnnnssssiiiicccchhhheeeeeerrrr..


Großbritannien

Exporte von Nordirland (Waren und Dienst-
leistungen), Anteil 2017 in Prozent

Sitzverteilung im britischen Unterhaus

Gesamt
24,
Mrd. €

Gesamt
650
Sitze

52,6 %
Großbritannien

20,0 %
Restliche Welt

18,1 %
Irland

9,3 %
Restliche
EU

HANDELSBLATT

Quellen: Northern Irelands Statistics &
Reserach Agency, Britisches Parlament

Koalition

Opposition 11 Sonstige

7 Sinn Feín

Liberal
Democrats

19

Scottish
National Party

35

36 Unabhängige

2        Labour

Nordirland

Democratic
Unionist Party

10

2Conservative

Schwerpunkt


Einigung im Brexit-Streit
1

WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
6

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