Handelsblatt - 17.10.2019

(Ron) #1

„Unsere Rekordwirtschaft würde


genau wie 1929 abstürzen, wenn einer


dieser Clowns Präsident würde. “


Donald Trump, US-Präsident, hat nach der jüngsten
TV-Debatte der demokratischen Präsidentschaftsbewerber
in den USA seine potenziellen Herausforderer kollektiv als Narren
bezeichnet.

Worte des Tages


Grundsteuer


Pflicht


statt Kür


D


as ist für Finanzminister
Olaf Scholz noch mal gut
gegangen: Nach einigen gro-

ßen Widerstandsdrohungen und


kleineren Korrekturen wollen nun


auch FDP und Grüne seiner Grund-


steuerreform zustimmen. Scholz


und die Große Koalition sind auf


Unterstützung der Opposition ange-


wiesen, da für das Vorhaben eine


Grundgesetzänderung notwendig


ist. Auch FDP und Grüne hatten


kein Interesse, die Reform scheitern


zu lassen. Immerhin geht es für die


Kommunen um 14 Milliarden Euro


Einnahmen. Und keine Partei will


sich vorwerfen lassen, für deren


Wegfall verantwortlich zu sein.


So wird es nun – wie vom Bundes-


verfassungsgericht verlangt – recht-


zeitig eine Gesetzesänderung ge-


ben, damit die Grundsteuer auch in


Zukunft erhoben werden darf. Die


Reform ist sicherlich weit entfernt


davon, perfekt zu sein. Die Neube-


wertung von 36 Millionen Grund-


stücken und Gebäuden wird Besit-


zern wie Finanzbeamten noch Ner-


ven kosten. Für einige Eigentümer,


gerade in gefragten Stadtlagen,


könnte es teurer werden. Doch


nachdem Scholz’ ursprünglicher


Gesetzentwurf in den Verhandlun-


gen deutlich vereinfacht und entbü-


rokratisiert wurde, gibt es zumin-


dest Hoffnung, dass das ganz große


Chaos ausbleiben wird. Genauso


wie unzumutbare Steuererhöhun-


gen – vorausgesetzt, die Kommunen


halten sich an ihre Zusage, die He-


besätze entsprechend anzupassen.


Scholz musste viele Zugeständnis-


se machen, um diesen Kompromiss


zu erreichen. Dazu zählt vor allem


die Öffnungsklausel, die es den Län-


dern erlaubt, von seinem Modell


abzuweichen. Anders war ange-


sichts der vielen Interessengegen-


sätze zwischen Union und SPD, zwi-


schen Bund und Ländern keine Ei-


nigung möglich. Grundlegende


Reformen sind unter diesen Bedin-


gungen schwierig, das hatte sich


auch schon beim Gewürge um die


Erbschaftsteuer gezeigt. In beiden


Fällen ging es darum, die Vorgaben


des Verfassungsgerichts zu erfüllen.


Das ist steuerpolitisches Pflichtpro-


gramm, aber keine gestalterische


Reform aus eigenem Antrieb.


Die Reform ist eine von Karlsruhe
erzwungene Reparaturmaßnahme
unter schwierigen Bedingungen,
meint Jan Hildebrand.

Der Autor ist stv. Leiter des


Hauptstadtbüros.


Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


D


ie Dimension der Aufgabe macht sich
kaum jemand klar: Wenn Deutschland
2050 klimaneutral sein soll, muss der
Ausstoß an Kohlendioxid oder CO 2 um
mindestens 95 Prozent sinken.
Deutschland dürfte dann Mitte des Jahrhunderts nur
noch 63 Millionen Tonnen Treibhausgase emittieren


  • das ist fast nichts, gemessen an den 866 Millionen
    Tonnen des vergangenen Jahres. Um dieses Ziel zu
    erreichen, müssten 30 Jahre lang im Schnitt 25 Mil-
    lionen Tonnen Treibhausgase jährlich zusätzlich ein-
    gespart werden.
    Eine weitgehend CO 2 -freie Volkswirtschaft ist zwar
    möglich, doch nur dann, wenn fossile Energieträger
    durch erneuerbare Energien und – horribile dictu –
    Atomkraft ersetzt werden. Die jüngsten Klimabe-
    schlüsse der Regierung werden der gewaltigen Di-
    mension der Aufgabe nicht gerecht. Was das Kabi-
    nett jetzt Schritt für Schritt beschließt, ist lediglich
    ein Paket von 66 unkoordinierten Einzelmaßnah-
    men; eine echte Strategie fehlt.
    Vielleicht ist sich die Bundesregierung nicht be-
    wusst, was es bedeutet, eine Volkswirtschaft inner-
    halb von drei Dekaden von Grund auf umzubauen.
    Oder es fehlt ihr der Mut, die Bürger mit den Erfor-
    dernissen zu konfrontieren. Vermutlich ist beides
    der Fall. Die Elektrifizierung einer Volkswirtschaft
    mit erneuerbaren Energien ist eine gigantische Auf-
    gabe. Es geht nicht nur um den derzeitigen Ver-
    brauch an Strom, der bereits zu gut 40 Prozent grün
    erzeugt wird – es geht um den gesamtwirtschaftlich
    relevanten Primärenergieverbrauch, also um all un-
    sere Energierohstoffe inklusive Umwandlungsverlus-
    te. Hier beträgt der Anteil der Erneuerbaren derzeit
    bescheidene 14 Prozent.
    Laut Deutscher Energieagentur darf 2050 der
    dann um die Hälfte gesunkene Primärenergiebedarf
    ausschließlich aus erneuerbaren Quellen und syn-
    thetischen, also nicht aus fossilen Energieträgen ge-
    deckt werden. Dies binnen drei Jahrzehnten zu reali-
    sieren scheint kaum vorstellbar. Denn schon das
    selbst gesteckte Zwischenziel, bis 2030 etwa 65 Pro-
    zent des Stroms aus „Erneuerbaren“ zu generieren,
    ist schwer zu erreichen. Dazu müssten jährlich 4,
    Gigawatt Windenergie an Land zusätzlich installiert
    werden. Doch in den ersten neun Monaten 2019
    wurden gerade einmal 500 Megawatt gebaut, weil es
    an Flächen mangelt, Genehmigungen fehlen und
    zahlreiche Klagen anhängig sind.
    Eine Energiewende ist nur im Konsens mit der Be-
    völkerung möglich. Doch die Lage ist paradox. Es
    formiert sich Widerstand gegen den Infrastruktur-
    ausbau, obwohl derselbe Personenkreis das damit


verbundene Ziel unterstützt. Nach einer Forsa-Um-
frage befürwortet eine Mehrheit die Energiewende,
also den Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom bei
gleichzeitigem Ausbau grüner Energie. Fragt man
aber nach der Akzeptanz unvermeidbarer Schritte
wie des Baus neuer Windräder und Stromtrassen,
sinkt die Zustimmung in der Bevölkerung spürbar.
Mehr als 1 000 Bürgerinitiativen protestieren inzwi-
schen gegen die Errichtung neuer Windräder. Zwei
Jahre dauert es, um einen Bau genehmigen zu lassen


  • und selbst dann muss der Betreiber noch mit Kla-
    gen rechnen.
    Dieses Verhalten ist durchaus rational. Der Wert
    von Immobilien in der Nähe von Windkraftanlagen
    sinkt einer RWI-Studie zufolge spürbar. Der Lärm
    der Rotorblätter sowie deren Schattenwurf und In-
    fraschall verringern den Wert der Häuser, die in ei-
    nem Kilometer Entfernung stehen, im Schnitt um
    sieben Prozent.
    Bezeichnend ist, dass es in der Debatte über die
    Klimabeschlüsse vorrangig um die CO 2 -Steuer geht.
    Der Ausbau der Energieinfrastruktur spielt nur eine
    nachrangige Rolle. Dies muss die Regierung drin-
    gend korrigieren, wenn sie ihre energie- und klima-
    politischen Ziele ernst meint. Ohne eine nationale
    Kraftanstrengung beim Ausbau der Energieinfra-
    struktur werden die Ansprüche krachend verfehlt.
    Dazu muss die Politik den Mut aufbringen, den
    Bürgern die Wahrheit über Kosten, Zumutungen und
    notwendige Verhaltensänderungen nicht vorzuent-
    halten. Ein Tempolimit von 130 Kilometer je Stunde
    auf Autobahnen wäre ein einfaches Mittel, um jedes
    Jahr drei Millionen Tonnen CO 2 einzusparen. Wür-
    den die noch am Netz hängenden Kernkraftwerke
    weiterlaufen und stattdessen sukzessive die klima-
    schädlichen Braunkohlemeiler abgeschaltet, könnte
    Deutschland die Klimagase um 80 Millionen Tonnen
    senken. Im Vergleich dazu sind die Einsparungen in-
    folge von 3,6 Cent teurerem Benzin, elf Prozent
    günstigeren Bahntickets oder dem Verbot neuer Öl-
    heizungen ab 2026 Peanuts.
    Die Angst der Politik vor Gelbwesten-Protesten
    von Flensburg bis Starnberg wegen der Belastungen
    durch eine ambitioniertere Klimapolitik scheint rie-
    sig. Doch nachdem die AfD angekündigt hat, die Kli-
    mapolitik zu einem ihrer Hauptwahlkampfthemen
    machen zu wollen, wird der Regierung wenig übrig
    bleiben, als die Tatsachen offen anzusprechen. Alter-
    native Fakten sind jedenfalls keine Alternative.


Leitartikel


Angst


vor der Wahrheit


Um die Klimaziele
zu erreichen,
reicht es nicht,
CO 2 einzusparen.
Lasst uns über
Tempolimits und
Atomkraftwerke
sprechen, meint
Jörg Lichter.

Ohne eine


nationale Kraft -


anstrengung


beim Ausbau


der Energie -


infrastruktur


werden


die Klimaziele


krachend


verfehlt.


Der Autor ist Leiter Research beim Handelsblatt
Research Institute. Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

DONNERSTAG, 17. OKTOBER 2019, NR. 200


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