Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1
von cathrin kahlweit
undalexander mühlauer

E


s gibt Räume in den hinterletzten
Winkeln von Westminster, in denen
sich manchmal Wichtigeres abspielt
als im berühmten Unterhaus mit seinen
grünen Ledersitzen und seiner Holztäfe-
lung. Der Raum etwa, in dem das „Select
Committee for Exiting the European Uni-
on“, vulgo der Brexit-Ausschuss des Parla-
ments, am Mittwoch tagte, ist modern und
hat lindgrüne Funktionsmöbel. In diesem
Ausschuss vollzog sich, während in Brüs-
sel um einen Deal und in der Downing
Street um die Zustimmung der nordiri-
schen DUP zu einem solchen Deal gerun-
gen wurde, ein Minidrama.
Hilary Benn ist der Vorsitzende des Ko-
mitees. Nach ihm ist der Benn Act benannt;
jenes Gesetz, das die Abgeordneten noch
schnell vor ihrer ersten Zwangspause ver-
abschiedeten und in dem festgeschrieben
steht, dass der Premierminister am 19. Ok-
tober, also an diesem Samstag, um eine
Brexit-Verschiebung bitten muss, falls ein
Deal nicht zustande kommt. Boris Johnson
hat bekanntlich geschworen, lieber in ei-
nem Graben zu sterben, als eine Verlänge-
rung zu beantragen.
Aber als Benn am Mittwochmorgen Bre-
xit-Minister Stephen Barclay fragte, was
Johnson zu tun gedenke, wenn die Ver-
handlungen zwischen Großbritannien und
den EU-27 auf dem Gipfel nicht zu einem
Abschluss kommen, sagte Barclay, sehr ge-
schraubt, gewunden und zögerlich: Ja, der
Premier werde dann wohl diesen Brief
schreiben. Benn musste dreimal nachfra-
gen, dreimal rettete sich der Minister in
juristischen Fachjargon, aber irgendwann
war es raus. Boris Johnson, so Barclay, wer-
de sich an das Gesetz halten.


Das wäre normalerweise in einem
Rechtsstaat wie Großbritannien keine
Nachricht, aber im Land von Johnson und
Brexit ist es eine. Denn während die Regie-
rung zusichert, sie werde eine Verlänge-
rung hinnehmen, wenn sie müsse, ver-
schickt sie weiter über die sozialen Medien
ihre Botschaft: „Wir treten am 31. Oktober
aus. Ohne Wenn und Aber.“ Nur: Beides zu-
gleich, pünktlicher Austritt und weitere
Verhandlungen, wird nicht funktionieren.
Die zweite Nachricht, die aus dem Select
Committee nach draußen drang, waren die
Forderungen und Bedenken der nordiri-
schen DUP. Parteichefin Arlene Foster und
Unterhaus-Fraktionschef Nigel Dodds ver-
handeln seit Tagen mit dem Team des Pre-
miers in der Downing Street; am Dienstag-
abend waren sie 90 Minuten lang ins Gebet
genommen worden. Danach sagte Foster,
sie wolle auch einen Deal, aber es gebe
noch zu viele ungeklärte Probleme. Dodds
ließ wissen, man sei auch mit viel Geld
nicht zu überzeugen. Am Mittwochmor-
gen wurden die beiden wieder im Regie-
rungssitz gesehen und betonten erneut,
sie würden sich weder mit hohen Investitio-
nen noch mit Schuldzuweisungen unter
Druck setzen lassen. Ihr Credo sei einzig
die Einheit des Königreichs, ihre Forde-
rung: Nordirland müsse – auch mit Blick
auf das Zollregime – integraler Teil der Uni-
on bleiben. Konkret wurden sie aber nicht.
Unterdessen saß der Brexit-Sprecher
der DUP, Sammy Wilson, im zweiten Stock
des Parlaments, und schickte verschlüssel-
te Signale, die er in Fragen an den Brexit-
Minister verpackte. Demnach werden die
zehn Abgeordneten der DUP nur für einen
Deal stimmen, wenn das Parlament in Bel-
fast über eine Lösung für Nordirland mit-
entscheiden kann. Und zwar nicht nur mit
einfacher Mehrheit, sondern, wie im Kar-
freitagsabkommen vorgesehen, mit quali-
fizierter Mehrheit. Das aber würde der
DUP ein Veto geben – was Johnson erst ge-


fordert, dann aber offenbar verworfen hat-
te und was die EU vehement ablehnt.
Dodds teilte außerdem mit, man sei ge-
gen einen De-facto-Verbleib Nordirlands
in der EU-Zollunion, denn Zollkontrollen
schädigten die Wirtschaft. Beides aber wur-
de in den vergangenen Stunden, dem Ver-
nehmen nach, in Brüssel und London de-
battiert und könnte Kern eines neuen
Deals sein. Und so twitterte die BBC-Jour-
nalistin Laura Kuenssberg, die jede Re-
gung in der Downing Street mitbekommt,
am Mittag erschöpft: „Kein Zeichen für ei-
nen Durchbruch nach dem Treffen mit der
DUP. Nur Seufzer und Sorgen – nicht nur
wegen der ungelösten Grenzfragen. Es
sieht nach einem langen, harten Tag für al-
le aus.“
Mit dem Zögern der Nordiren aber
schwindet die Mehrheit im Unterhaus da-
hin, die Johnson bräuchte, um – vor oder
nach dem 31. Oktober – einen Vertrag zu-
standezubringen. Denn wenn die DUP
nicht mitgeht, gehen zahlreiche Hardliner
bei den Tories nicht mit. Auch Labour ver-
sucht, schwankende Abgeordnete daran
zu hindern, für einen Deal zu stimmen, die
einfach wollen, dass endlich Schluss ist
mit dem Gezerre. Am kommenden Sams-
tag soll das Unterhaus zusammentreten,
um abzustimmen. Die Frage ist derzeit al-
lerdings: Worüber?

Nun, sollte es beim EU-Gipfel doch noch
einen Deal geben, müssten die Abgeordne-
ten wohl über einen Vertrag abstimmen,
dessen Inhalt Johnsons Vorgängerin There-
sa May noch vehement abgelehnt hatte.
Niemals, erklärte sie einst stolz, könne ein
britischer Premierminister zulassen, dass

es eine Zollgrenze in der Irischen See gebe.
Schließlich dürfe es keine Grenze geben,
die das Vereinigte Königreich teile. Doch
genau darauf schien es in den Verhandlun-
gen am Mittwoch hinauszulaufen.
Um Kontrollen an der Grenze zwischen
Irland und Nordirland zu verhindern, einig-

te sich Johnson mit den EU-Verhandlern
auf eine Sonderregelung. Demnach soll
Nordirland de jure Teil der britischen Zoll-
union sein, aber de facto EU-Zollregeln an-
wenden. Auf der irischen Insel könnte also
alles weiterlaufen wie bisher. Doch zwi-
schen Nordirland und Großbritannien ver-
liefe dann eine Zollgrenze. An den nordiri-
schen Häfen müssten Zöllner die aus dem
Rest des Vereinigten Königreichs einge-
führten Produkte kontrollieren.
Und wäre das nicht schon kompliziert
genug, verhakten sich die Verhandler am
Mittwochabend noch in einer recht speziel-
len Steuer-Frage. Diplomaten zufolge soll
Nordirland nach dem Brexit die Mehrwert-
steuer-Vorschriften der EU anwenden.
Beim Handel auf der irischen Insel gäbe es
also keine Probleme. Doch für den Waren-
verkehr zwischen Nordirland und Großbri-
tannien bräuchte es eine neue Regelung,
da das Vereinigte Königreich künftig
selbst beliebige Mehrwertsteuer-Sätze für
bestimmte Produkte festlegen kann.
Am späten Abend war jedenfalls klar,
dass darüber in Brüssel noch weiter ver-
handelt werden muss. In London wurde
wiederum darüber spekuliert, ob Johnson
der DUP nicht vielleicht doch mehr Geld an-
bieten sollte. Dem Vernehmen nach soll
Foster „nicht Millionen, sondern Milliar-
den“ für Nordirland gefordert haben.

Es war vielleicht das größte Unglück für
Theresa May, dass sie in ihrer Zeit als Pre-
mierministerin aufgrund des schlechten
Wahlergebnisses für die Tories 2017 der De-
mocratic Unionist Party (DUP) faktisch die
Verfügungsgewalt über den Brexit einräu-
men musste. May hatte ein Jahr nach dem
Referendum Wahlen ausgerufen; hätte sie
diese gewonnen, wäre Großbritannien si-
cher längst aus der EU ausgetreten. So aber
brauchte sie die zehn Stimmen der DUP,
um ihre Mehrheit nicht zu verlieren.
Die DUP ist eine nordirische, ganz über-
wiegend von Protestanten gewählte Partei,
die das „Unionist“ im Namen trägt, weil die
Union mit Großbritannien ihre Existenz-
grundlage ist. Sie erwies sich als extrem
schwieriger Partner – und ist es bis heute.
Sollte der Deal, der in Brüssel ausgehan-
delt wird, scheitern, würde es unter ande-
rem an der DUP liegen, dass der Austritt
nicht erfolgt. Im Dezember 2017 musste
May einen weitgehend fertigen Vertrag

neu verhandeln, weil die DUP intervenier-
te; im Frühjahr 2019 stimmten die DUP-Ab-
geordneten mit Verweis auf den „untragba-
ren Backstop“ gegen das Austrittsabkom-
men. Der Verbleib Nordirlands im EU-Bin-
nenmarkt, der mit dem Abschluss eines
Handelsabkommens mit der EU enden soll-
te, sei de facto eine Aufspaltung des König-
reichs, befanden sie. Auch die Hardliner in
der Tory-Fraktion lehnten Mays Vertrag
mit Verweis auf die DUP ab. Was die Freun-
de in Nordirland nicht mittrügen, könnten
auch Brexiteers nicht unterstützen.
Die unionistische Partei wurde 1971 von
Ian Paisley, einem evangelikalen Pastor
und späteren First Minister der nordiri-
schen Regionalregierung, gegründet. Bis
heute ist sie stramm konservativ und lehnt
etwa gleichgeschlechtliche Partnerschaf-
ten oder auch Abtreibungen strikt ab. Sie
lehnte auch – weil probritisch und immer
in Sorge vor einem zu großen Einfluss Dub-
lins – eine enge Kooperation mit der Repu-
blik Irland ab und war die einzige nordiri-
sche Partei, die das Karfreitagsabkommen
nicht unterstützte, mit dem 30 Jahre Bür-
gerkrieg auf der irischen Insel beendet
wurden. Begründet wurde das damals un-
ter anderem damit, dass das Abkommen
die katholischen Nationalisten bevorteile
und die IRA nicht ausreichend für ihr Mor-
den zur Rechenschaft ziehe.
Gleichwohl gab die DUP ihre Ablehnung
mit der Zeit auf, akzeptierte die geteilte Re-
gierungsverantwortung zwischen Katholi-
ken und Protestanten (powersharing) und
trat 2007 gemeinsam mit Sinn Fein in Bel-
fast in die Regierung ein. Eine Studie zwei-
er Wissenschaftler der University of Cork
(„Zwischen dem Teufel und der DUP: die
Democratic Unionist Party und die Brexit-
Politik“) belegt, dass die DUP die Vorteile
der EU-Mitgliedschaft durchaus zu schät-
zen wusste; gleichwohl unterstützte die
Partei die Leave-Kampagne. Grund dafür,
so die Studie aus Cork, sei weniger Ideolo-
gie als „Parteitaktik und ein gewisser Op-
portunismus“. Seither habe sich die Partei
aber radikalisiert – unter anderem aus
Existenzangst, aufgrund von Wählerver-
lusten und weil die unerwartete Schlüssel-
stellung seit der Wahl 2017 der DUP eine
neue Bedeutung verliehen hat. Wahr-
scheinlich hat sich die Partei aber verkalku-
liert. Nordirland hat mehrheitlich gegen
den Brexit gestimmt. Die kleine Brexit-Par-
tei dürfte daher einen hohen politischen
Preis bezahlen. cathrin kahlweit

Grenzerfahrung


Déjà-vu in Downing Street: Wieder einmal hing ein Deal über den Austritt aus der EU
an der Zustimmung von zehn nordirischen Abgeordneten. Sie hatten offenkundig viel gefordert

Nicola Sturgeon, Schottlands kämpferische
Premierministerin, will den nördlichen Lan-
desteil des Vereinigten Königreichs in die Un-
abhängigkeit führen. Auf dem Parteitag der
Scottish National Party (SNP) in Aberdeen
kündigte sie in einer umjubelten Rede für
das kommende Jahr ein neues Referendum
in Schottland an. „Es ist an der Zeit, unsere
Unabhängigkeit zurückzugewinnen“, sagte
sie vor begeisterten Delegierten, „aber nicht
in der Art des Brexit. Nicht, indem wir die De-
mokratie aushöhlen und die dämonisieren,
die nicht mit uns übereinstimmen.“
Sie werde das Unterhaus in London um Zu-
stimmung für das Referendum bitten, wie es
das Gesetz vorsieht. Bedenken, dass das briti-
sche Parlament den Schotten ein zweites
Referendum nach der Volksabstimmung vor
fünf Jahren verweigern könnte, wischte Stur-
geon beiseite. Dann müssten die Parteien in

London sich schon die Frage gefallen lassen:
„Was gibt euch das Recht, dem schottischen
Volk die Möglichkeit zu nehmen, über seine
eigene Zukunft zu bestimmen?“ Premier Bo-
ris Johnson und die Konservative Partei leh-
nen ein neues Referendum ab. Auch die Füh-
rung der Labour-Partei steht dem schotti-
schen Wunsch nach einem neuen Referen-
dum bisher skeptisch gegenüber.
Den Brexit nannte Sturgeon ein „Desas-
ter“. Schottland habe gegen den Austritt ge-
stimmt. Nun aber sollten die Schotten gegen
ihren Willen die EU verlassen. „Das ist die
Verweigerung von Fairness und demokrati-
schen Grundrechten“, wetterte die Premier-
ministerin. Das gesamte politische System
Großbritanniens sei „kaputt“. Ihre Regierung
habe nicht nur das Recht, sondern sogar die
Pflicht, die Schotten vor die Wahl zu stellen,
wie ihre Zukunft aussehen solle. SZ

Extrem


schwierig


Nordirlands Protestanten-Partei
nimmt eine Schlüsselstellung ein

Schon in normalen Zeiten ist es schwer,
Prognosen über EU-Gipfel abzugeben.
Wenn die Staats- und Regierungschefs mit
den Präsidenten von EU-Kommission und
Europäischem Rat sowie wenigen Bera-
tern unter der Kuppel des Brüsseler Euro-
pa-Gebäudes zusammensitzen, entwi-
ckelt sich oft eine kaum vorherzusehende
Dynamik. In Sachen Brexit aber ist 24 Stun-
den vor Beginn dieses Gipfels noch nicht
einmal klar, wann genau über den EU-Aus-
tritt der Briten beraten wird.
„Die Choreografie ist völlig offen“, sagt
ein EU-Diplomat am Mittwochvormittag.
Klärung sollte ein Treffen der Botschafter
der EU-27 mit Chefunterhändler Michel
Barnier um 14 Uhr bringen, doch die Sit-
zung wurde auf den späten Nachmittag,
dann auf den Abend verschoben. Während
die Politblase im Europaviertel auf belast-
bare Nachrichten wartet, sagt Bundeskanz-
lerin Angela Merkel (CDU) im knapp 1000
Kilometer entfernten Toulouse: „Die Nach-
richten, die wir aus Brüssel hören, könnten
schlechter sein.“ Neben ihr steht Frank-
reichs Präsident Emmanuel Macron und
auch er ist zuversichtlich, dass die Exper-
tenteams aus London und Brüssel, die seit
Samstag mit kurzen Unterbrechungen im
fünften Stock des Berlaymont-Gebäudes
verhandeln, dem Durchbruch nahe sind.
Um 19:34 Uhr betritt Michel Barnier das
Europa-Gebäude und informiert die Bot-


schafter: Beide Seiten sind noch nicht ganz
am Ziel. Unsicher sei weiter, ob die DUP zu-
stimmen werde beziehungsweise ob Nord-
irland von Premier Boris Johnson hinrei-
chend entschädigt wird. Und es gebe noch
keine funktionierende Mehrwertsteuer-
Regelung, die nach Ansicht der EU für den
Handel zwischen Nordirland und dem Rest
Großbritanniens nötig wäre.

Daher habe Johnson sein „Okay“ noch
nicht geben können. Als problematisch
wurde empfunden, dass der Vertragstext
noch nicht vorliegt – und es ist offen, ob
sich dies bis zu Beginn des Gipfels um 15
Uhr ändert. Dann wäre es äußerst schwer,
den Rechtstext in den Hauptstädten prü-
fen zu lassen. Als Barnier sich um kurz vor
21 Uhr auf den Weg macht, die Brexit-Ex-
perten des Europaparlaments zu informie-
ren, sagt er: „Wir arbeiten, wir arbeiten.“
Wie genau der Gipfel ablaufen wird, war
am Abend weiterhin unklar. Üblicherweise
steht der Brexit gleich zu Beginn auf der Ta-
gesordnung, also von Donnerstagnachmit-
tag bis Freitagmorgen. Nach einer Diskus-
sion mit Johnson würden die EU-27 beim
Abendessen ohne ihn über das Vorgehen

beraten. Um die Formulierung einzelner
Paragrafen wird in diesem Format nie ge-
rungen.
Eine Option wäre, dass sich dieleaders
am Freitag erneut mit dem Brexit beschäf-
tigen, weil Barnier und seine Experten par-
allel weiter verhandeln. Ein großes Risiko

aus Brüsseler Sicht sind die Mehrheitsver-
hältnisse im Unterhaus, das am Samstag ei-
ne Sondersitzung abhält. Auf mündliche
Zusicherungen, die Theresa May stets prä-
sentierte, will sich niemand verlassen. Ei-
ne informelle Abstimmung im Unterhaus,
das die Unterstützung für einen möglichen

Vertrag belegt, würde indes enorm helfen.
Es wäre EU-Ratspräsident Donald Tusk,
der einen Sondergipfel einberufen müsste,
um über einen Verlängerungsantrag aus
London zu entscheiden. So ein Treffen
könnte Ende Oktober stattfinden. Eine
technische Verlängerung von wenigen Wo-
chen wäre wohl in jedem Fall nötig, um letz-
te juristische Feinheiten zu klären, alles in

die 23 Amtssprachen übersetzen zu lassen
und auch das Europaparlament um Zu-
stimmung zu bitten. Solch ein kurzer Auf-
schub gilt als wahrscheinlicher als eine „po-
litische Verlängerung“ von etwa sechs Mo-
naten, die wohl nur infrage kommt, wenn
es in Großbritannien Neuwahlen oder ein
zweites Referendum geben sollte. Ein „Ja“
der EU-27 für eine Verschiebung gilt in bei-
den Fällen als sicher.
Neben Boris Johnson muss sich auch Ur-
sula von der Leyen auf unangenehme Fra-
gen einstellen. Die designierte Präsidentin
der EU-Kommission soll erklären, wie es
weitergehen soll mit der Bildung der EU-
Kommission, nachdem das Europaparla-
ment nicht nur die Kandidaten aus Ungarn
und Rumänien, sondern auch die Franzö-

sin Sylvie Goulard abgelehnt hatte. Frank-
reichs Präsident Macron hatte die Verant-
wortung dafür zunächst auf Ursula von der
Leyen geschoben, die die Abgeordneten
nicht im Griff habe. „Inzwischen hat sich
Macron wieder ein wenig beruhigt“, sagt
ein EU-Diplomat. Und nicht nur Macron
fragt sich, wie von der Leyen künftig im
Parlament Mehrheiten organisieren will,
wenn schon ihr Start so schwierig ist. Eini-
ge Staats- und Regierungschefs finden au-
ßerdem, dass von der Leyens Kandidaten
dem Parlament in den Anhörungen schon
sehr viele Zugeständnisse gemacht haben.
„Jetzt ist es an der Zeit, sie auch wieder an
die Prioritäten der Mitgliedstaaten zu erin-
nern“, sagt ein EU-Diplomat.
Geplant sind auch Gespräche über den
Haushalt der EU für die sieben Jahre von
2021 bis 2027. Von einer Einigung sind die
Mitgliedstaaten weit entfernt, zumal mit
den Briten vermutlich ein wichtiger Bei-
tragszahler wegfällt. Deutschland gehört
zu jenen Staaten, die auf Sparsamkeit drin-
gen. Die Bundesregierung will, dass die EU
nicht mehr als ein Prozent der Wirtschafts-
leistung der Mitglieder ausgibt – genau
wie beim laufenden Haushaltsrahmen.
Der scheidende Haushaltskommissar Gün-
ther Oettinger hingegen schlägt gut 1,1 Pro-
zent vor, um den Weggang der Briten aus-
zugleichen. karoline meta beisel,
björn finke, matthias kolb

Neues Referendum für Schottland?


2 HMG (^) THEMA DES TAGES Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH
Eine Verschiebung des
Austrittstermins dürfte in
jedem Fall nötig sein
Auch Ursula von der Leyen
muss sich auf
scharfe Fragen einstellen
„Ohne Wenn und Aber“: In sozialen Medien lässt Premier Boris Johnson unverdrossen verbreiten, dass Großbritannien in jedem Fall am 31. Oktober die EU verlassen
werde. Im Parlament räumen Regierungsvertreter dagegen ein, dass es durchaus auch später werden könnte. FOTO: HANNAH MCKAY / REUTERS
Die DUP war
von vornherein für den
Ausstieg aus der EU
Ein letztes Mal? Im EU-Ratsgebäude in Brüssel werden vor dem Gipfel die Fahnen
der Mitgliedsstaaten arrangiert – inklusive Union Jack. FOTO: DARIO PIGNATELLI/BLOOMBERG
Gipfel der Ungewissheit
Biszuletzt ringen Expertenteams aus Brüssel und London um Streitfragen. Selten war der Ablauf eines EU-Spitzentreffens so unklar wie dieses Mal
Boris Johnson, so versichert
sein Brexit-Minister,
werde sich ans Gesetz halten
Das Brexit-DurcheinanderSpätestensam Mittwochmittag wollte Chefunterhändler Barnier die EU-Mitgliedsstaaten darüber
unterrichten, ob ein Abkommen mit den Briten steht. Es schien greifbar nahe zu sein. Doch dann musste er den Termin verschieben,
sogar zweimal. Über einen Tag, der in London und Brüssel den ganzen Wahnwitz des Vorhabens sichtbar machte

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