Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1
Jens Weidmann kann humorvoll sein,
klar, der Schalk blitzt gelegentlich aus sei-
nen Augen. Aber fährt er gerne Achter-
bahn? Man kommt auf den Gedanken,
dass es wohl so sein muss, wenn man sich
die Berg-und-Tal-Fahrt ansieht, die der
Präsident der Bundesbank in den vergan-
genen zwölf Monaten hingelegt und unbe-
schädigt überstanden hat. Weidmann hat-
te sich berechtigte Hoffnung darauf ge-
macht, neuer Präsident der Europäischen
Zentralbank (EZB) zu werden. Sie stieg
und fiel und stieg, bis zur Enttäuschung:
Die Französin Christine Lagarde bekam
den Job. Ihr Erfolg war seine Niederlage.
Inzwischen ist Weidmann wieder raus
aus dem Tal – und zwar so gestärkt, wie es
wohl kaum jemand erwartet hat.
Wenn Weidmann auf der an diesem
Donnerstag in Washington beginnenden
Jahrestagung des Internationalen Wäh-
rungsfonds der designierten EZB-Chefin
Lagarde begegnet, dann als ebenbürtiger
Sparringspartner. In der großen Welt der
mächtigen Finanzpolitiker und Notenban-
ker gibt es einige, die bereits davon spre-
chen, dass die Zentralbank der Euro-Zone
jetzt so etwas wie eine Doppelspitze bekä-
me. Christine Lagarde, 63, als Präsiden-
tin, gewiss. Jens Weidmann, 51, aber als
Korrektiv an ihrer Seite.
Die neue Stärke hat paradoxerweise di-
rekt mit den Niederlagen zu tun, die der
Deutsche in den vergangenen acht Jahren
unter dem italienischen EZB-Chef Mario
Draghi hat einstecken müssen. Ein ums
andere Mal hatte sich Weidmann gegen
Draghis Politik des lockeren Geldes ausge-
sprochen, ohne dass er etwas ausrichten
konnte. Die Kritik brachte ihm Ärger ein –
und kostete ihn letztlich das Amt, das er
gerne gehabt hätte. Im Süden Europas hat-

te der Deutsche kaum Fürsprecher. Nun
aber, da Draghis planmäßiges Ausschei-
den nur noch eine Frage von Tagen ist
und Lagarde bereits signalisiert hat, da
weiterzumachen, wo der Italiener aufge-
hört hat, versammeln sich immer mehr of-
fene Unterstützer hinter dem ewigen
Oppositionellen. „Weidmann repräsen-
tiert als Notenbankpräsident der größten
Volkswirtschaft Europas das Dickschiff
im Konvoi der Kritiker“, sagt der frühere
Finanzminister Peer Steinbrück.
Schon 2011, gerade im Amt, opponierte
Weidmann gegen die Senkung der Leitzin-
sen, später warnte er vor Anleihekäufen

und sagte als sachverständiger Experte
vor dem Bundesverfassungsgericht aus,
als dort Klagen gegen die Geldpolitik
Draghis verhandelt wurden. Damals wur-
de Weidmann als einsamer Kritiker wahr-
genommen, als früherer Wirtschaftsbera-
ter Angela Merkels, der nationale Interes-
sen weiter über europäische stelle.
Dass er die geldpolitische Opposition
anführt, liegt auch daran, dass er sich er-
staunlich wandlungsfähig zeigt. Der stabi-
litätsorientierte Bundesbanker, einst eng
mit Wolfgang Schäuble (CDU) verbunden,
lobt nun die Finanzpolitik von SPD-Vize-
kanzler Olaf Scholz. Er reist durch den Sü-
den der Euro-Zone, sucht geschmeidig
und diplomatisch Kontakte und Konsens.
Weidmanns Wandlung fällt umso
mehr auf, weil Draghi ganz bei seinen
Überzeugungen geblieben ist. Und damit
überzogen hat. Die Konsequenzen aus
dem zuletzt nochmals gesenkten Leitzins
sind so deutlich im Leben vieler Bürger zu
spüren, dass sogar einstige Befürworter
finden, so dürfe es nicht weitergehen. Ex-
Zentralbanker aus Deutschland, Frank-
reich, Österreich und den Niederlanden
haben in einem offenen Brief gegen die
bisherige Geldpolitik der EZB opponiert.
Sogar im Baltikum regt sich Kritik. Unter
den Finanzministern der Euro-Zone wach-
sen die Sorgen. Einige stehen jetzt dort,
wo Weidmann schon lange steht.
Es hat sich vor dem Amtsantritt der
neuen Chefin eine Opposition formiert,
die Lagarde in ihre Beschlüsse wird ein-
binden müssen. Weidmann kann nun
entspannt versuchen, die Geldpolitik mit-
zusteuern; mit Humor und ohne Achter-
bahn. Draghi und Lagarde werden das wis-
sen, wenn sie sich jetzt in Washington die
Hände schütteln. cerstin gammelin

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von deniz aykanat

D


ie Konflikte in der Türkei, ausge-
löst durch die türkische Invasion
in Nordsyrien, schwappten nach
Deutschland herüber, heißt es nun. An-
hänger des türkischen Präsidenten Re-
cep Tayyip Erdoğan verfallen in Kriegs-
taumel und fahren hupend in Autocorsos
durch deutsche Städte, Kurden demons-
trieren, sie geraten aneinander.
Das Bild einer Welle, die über Deutsch-
land hereinbricht, ist aber falsch.
Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Millionen Menschen mit türkischen und
kurdischen Wurzeln gehören zu dieser
Gesellschaft. Die Konflikte werden nicht
durch dunkle Mächte an einen Ort getra-
gen, an den sie nicht gehören. Sie sind
auch Teil Deutschlands, weil die Türken
und Kurden, die hier leben, Teil Deutsch-
lands sind. Doch Menschen mit Migrati-
onshintergrund, zumal türkischem, wer-
den nach wie vor wie Fremdkörper wahr-
genommen. Fremdkörper, die wieder ein-
mal den Frieden der Gesellschaft stören.
Als sie als Gastarbeiter kamen, haben
die Türken außer ihrer Arbeitskraft auch
ein Erbe mitgebracht: Sie wuchsen in ih-
rer alten Heimat ohne freie Presse auf,
sind oft extrem obrigkeitstreu. Viele er-
hielten wenig Bildung und durften nur
das über die Geschichte lernen, was der
Obrigkeit passte. Das haben sie an ihre
Kinder weitergegeben, weshalb auch in
zweiter und dritter Generation Deutsch-
türken enthusiastisch einem autoritären
Politiker wie Erdoğan anhängen.
Solange Deutschtürken sich hier nicht
repräsentiert fühlen und tatsächlich
auch nicht repräsentiert werden, wird es
Politikern wie Erdoğan gelingen, das
Vakuum auszufüllen. Und so lange wird
Türkeistämmige in Deutschland ein un-
heimlich wirkendes Gemeinschaftsge-
fühl erfassen, sobald Erdoğan mit den
Panzerketten rasselt.

Man hätte dem mit Bildung, Förde-
rung und Aufnahme in die hiesige Gesell-
schaft entgegenwirken können. Aber das
tat man nicht – zunächst aus dem damals
noch nicht verwerflichen Gedanken her-
aus, die Türken würden bald wieder zu-
rück in ihre Heimat gehen. Später auf-
grund verwerflicher Ignoranz und auch
Fremdenfeindlichkeit. „Wir riefen Ar-
beitskräfte, und es kamen Menschen“,
hatte Max Frisch früh die Probleme er-
kannt, die Deutschland erwarteten.

Es geht nicht darum, demokratiefeind-
liche Äußerungen und Handlungen zu
entschuldigen. Es geht darum, Türkei-
stämmigen die Möglichkeit zu geben,
sich zu mündigen Bürgern zu entwickeln.
Dafür braucht es Vorbilder aus den eige-
nen Reihen, Repräsentanten, die für ihre
Wünsche und Bedürfnisse einstehen. Ein
Bundestag, in dem nur ganz wenige Abge-
ordnete Migrationshintergrund haben,
leistet das kaum. Von den Spitzenpositio-
nen in Parteien oder Kabinettsposten
ganz zu schweigen. Die Diskussionen
über Invasion und Integration werden
von den Eliten dieses Landes geführt,
den Entscheidern. Menschen mit Migrati-
onshintergrund sind nicht Teil dieser Eli-
te. Deshalb wird über sie geredet, nicht
mit ihnen. Propaganda, wie aus der Tür-
kei, hat dann leichtes Spiel.
Wir riefen Arbeitskräfte, und es ka-
men Menschen. Man sollten ihnen Vorbil-
der geben, sie nach Höherem streben und
mitreden lassen. Und sich mit ihnen strei-
ten. Gerade mit denjenigen, die für Erdo-
ğan trommeln und danach in Essen, Ber-
lin oder Köln ruhig schlafen, während es
in Nordsyrien Bomben hagelt. Vielleicht
verstehen sie dann, was Demokratie ist.

von joachim becker

N


irgends ist die Klimawende schwie-
riger als im Verkehr. Die Klimaab-
gase aus Verbrennern sind in den
vergangenen 30 Jahren kein bisschen ge-
sunken. Wenn Deutschland seine Ziele bis
2030 überhaupt erreichen will, müsste
die Politik vor allem beim Verkehr ent-
schlossen umsteuern. Doch statt eines
schlüssigen Gesamtkonzeptes gibt es in
Berlin ein Neben- und Gegeneinander der
zuständigen Ministerien.
Vor wenigen Tagen hat das Wirtschafts-
ministerium erste Eckpunkte einer An-
triebsstrategie veröffentlicht. Es geht, we-
nig verwunderlich, um Industrieförde-
rung und Arbeitsplätze – um Klimaschutz
geht es nur am Rande. Prompt laufen die
Umweltverbände Sturm gegen die „Zwi-
schenbilanz im Dialogprozess Gas 2030“.
Statt Erdgas als Brückentechnologie noch
stärker zu fördern, müsse die Nutzung al-
ler fossilen Energiequellen auslaufen.
Auch den „blauen Wasserstoff“, der mit ho-
hem Energieaufwand aus Erdgas gewon-
nen wird, setzen die Umweltschützer auf
den Index.
Bleibt als einzige Alternative der „radi-
kale Systemwechsel“ hin zur Elektromobi-
lität, wie ihn VW-Chef Herbert Diess for-
dert? Oder muss Deutschland so lange wie
möglich auf Technologieoffenheit setzen,
wie es aus der Union immer wieder zu hö-
ren ist? Offenheit klingt sympathisch,
doch es ist nur eine Umschreibung für:
Jetzt nichts entscheiden, lieber noch ein
wenig abwarten, wie sich die Dinge entwi-
ckeln. Schon der Besuch einer Tankstelle
zeigt aber, dass sich Deutschland diese
Art von politischer Untätigkeit nicht leis-
ten kann. Wo bitte sollen die Zapf- und La-
destellen für Benzin und Diesel, CNG (Erd-
gas), Wasserstoff und Elektroantriebe
unterkommen? Und wie viele Kunden ma-
chen die jeweiligen Investitionen dann
rentabel?

Tatsächlich ist das Problem noch kom-
plexer: Jede Kraftstoffvariante und
Schnellladestation benötigt nicht nur eige-
ne Zapfstellen, sondern auch Verteilnetze
und neue Kapazitäten zur nachhaltigen
Energieerzeugung. Und das wird sehr teu-
er. Nach Berechnungen des Verbandes der
Automobilindustrie(VDA) würde bei einer
wachsenden Zahl von Elektroautos allein
der Ausbau der öffentlichen Ladeinfra-
struktur sechs Milliarden Euro kosten.
Um daneben 900 Wasserstoff- und 1100
Erdgastankstellen zu schaffen, müsste
demnach eine weitere Milliarde aufgewen-
det werden.

Doch das ist allenfalls die Spitze des Eis-
bergs. Ein Lieblingsthema der „technolo-
gieoffenen“ Diskussion sind synthetische
Kraftstoffe, die riesige Windfarmen und
Landschaften voll von Sonnenkollektoren
benötigen, um Öl und Erdgas durch Was-
serstoff aus Elektrolyse zu ersetzen. Ex-
perten taxieren die Kosten dafür allein in
Deutschland auf einen höheren dreistelli-
gen Milliardenbetrag. Konkurrenzfähige
Preise an der Tankstelle sind damit auf ab-
sehbare Zeit nicht zu erreichen. Das muss
die Politik den Bürgern klar sagen. Für die
aktuellen Klimaziele kommen solche Al-
ternativen ohnehin viel zu spät.
Statt sich zu verzetteln und Subventio-
nen nach dem Gießkannenprinzip zu ver-
teilen, sollte die Politik bei den Pkws auf ei-
ne Technologie setzen, die es jetzt schon
gibt (und nicht irgendwann oder vielleicht
auch gar nicht): Batterieautos, die mit Öko-
strom betrieben werden. Den gleichzeiti-
gen Aufbau einer Infrastruktur für viele
weitere Antriebsalternativen kann sich
selbst ein reiches Land wie Deutschland
nicht leisten. Schon gar nicht bis 2030.

V


isionär ist nicht mehr das erste
Wort, das einem zur Europapolitik
von Frankreichs Präsident Emma-
nuel Macron in diesen Tagen einfallen
würde. Bockig träfe es eher. Das EU-Parla-
ment will Sylvie Goulard nicht in der EU-
Kommission sehen, weil diese in eine Affä-
re um Scheinbeschäftigung verwickelt
war? Macron reagiert äußerst beleidigt.
Und wird nun darauf achten, möglichst
spät eine neue Kandidatin vorzuschlagen.
Jeder soll spüren, dass Frankreich leidet.
Nordmazedonien und Albanien wird seit
Jahren ein EU-Beitritt in Aussicht ge-
stellt? Paris stellt sich polternd dagegen.
Vom Europäer zum Franzosen – nach
zweieinhalb Jahren im Amt hat Macron es


aufgegeben, sich als selbstloser EU-Enthu-
siast zu inszenieren. Er will nationale
Interessen durchsetzen und zeigt das. Das
beschert Streit, die EU schwächt es nicht.
Macron ist vom Hoffnungsträger zum
normalgroßen Politiker geschrumpft. Das
ist eine Chance, wieder über Themen zu
sprechen, nicht nur darüber, wer diese
Themen jetzt gerade besonders glänzend
setzt. Viele der Ideen, die Macron in seiner
Sorbonne-Rede vorgetragen hat, bleiben
richtig. Europa wird stärker, wenn es zu-
sammenwächst. Wie engstirnig nationale
Interessen vorgetragen werden können,
führt nun ausgerechnet der vor, der sich
einst so enthusiastisch gegen sie wandte:
Emmanuel Macron. nadia pantel

M


aximal mögliche Transparenz“
hat Verkehrsminister Andreas
Scheuer (CSU) erneut für die Auf-
arbeitung der gescheiterten Pkw-Maut
versprochen. Er habe den Medien und
dem Bundestag längst alle Fragen beant-
wortet, sagte er zum Antrag der Oppositi-
on auf einen parlamentarischen Untersu-
chungsausschuss. Um die angebliche
Transparenz im Internet zu vermarkten,
erfand das Ministerium einen Hashtag bei
Twitter. Titel: #Nixgeheim. Scheuers Bot-
schaft: Grüne, FDP und Linke übertrei-
ben. Es gibt nichts mehr aufzuklären.
Das Gegenteil ist der Fall. Es zeugt von
einiger politischer Kaltschnäuzigkeit, mit
einem solchen Bluff in die Aufarbeitung


des Debakels zu starten. Scheuer und sein
Ministerium verbreiten einen falschen
Eindruck. Anders als es der Minister dar-
stellt, mauert er an entscheidender Stelle
weiter. Detailfragen zum Inhalt mehrerer
Geheimtreffen etwa sind nach wie vor un-
beantwortet.
Vieles spricht dafür, dass Scheuer die
Maut zu schnell einführen wollte und zu
hohe Risiken für die Allgemeinheit in
Kauf nahm. Im Raum steht auch der Ver-
dacht, dass er bei den Kosten der Maut
trickste. Für Scheuer beginnen die wohl
entscheidenden Monate seiner politi-
schen Karriere. Seiner Glaubwürdigkeit
hätte es gutgetan, wenn sie mit der Wahr-
heit begonnen hätten. markus balser

E


s kam, wie es kommen musste: bren-
nende Barrikaden, blockierte Eisen-
bahnstrecken und Autobahnen, prü-
gelnde Polizisten. Die hässlichen Bilder
sind die Folge der harten Urteile gegen füh-
rende katalanische Separatisten. Es ist of-
fenkundig, dass es nicht besonders klug
ist, demokratisch gewählte Politiker wie
Mafiabosse zu behandeln. Allerdings
steht auch außer Frage, dass der spani-
sche Staat den Bruch seiner Verfassung
nicht zulassen kann, zumal die Separatis-
ten nicht die Mehrheit der Wähler ihrer
Heimatregion hinter sich haben.
Aber es hätte andere Wege gegeben,
mit ihnen umzugehen: Bewährungsstra-
fen, Entzug des passiven Wahlrechts.


Dann wäre es zweifellos nicht zu dieser Es-
kalation gekommen, die Spanien womög-
lich unregierbar machen wird. Denn die
drakonischen Urteile haben auch viele Ka-
talanen gegen Madrid aufgebracht, die ge-
gen die Sezession sind.
Die Eskalation des Konflikts dürfte bei
den bevorstehenden nationalen Wahlen
dazu führen, dass die dialogbereiten Kräf-
te, an deren Spitze sich noch vor Jahres-
frist der sozialistische Premier Pedro Sán-
chez gestellt hat, ins Hintertreffen gera-
ten. Er hätte bei dieser Linie bleiben sol-
len, anstatt aus Angst vor den spanischen
Nationalpatrioten selbst auf Härte zu set-
zen. Er könnte der nächste Verlierer in
dem Konflikt werden. thomas urban

B


undeskanzlerin Angela Merkel
schließt eine Beteiligung des
Huawei-Konzerns am Ausbau
des deutschen Mobilfunknet-
zes nicht aus. Angeblich, um Pe-
king nicht zu verärgern. In den USA
zwingt China die Basketball-Profiliga
NBA, sich für einen Kommentar zu Hong-
kong zu entschuldigen. Und in einem Hol-
lywood-Blockbuster zeigen die Filmema-
cher eine von Peking abgesegnete Karte,
die dessen Gebietsansprüche im Südchi-
nesischen Meer einschließt. Chinas globa-
ler Einfluss erscheint allgegenwärtig. Die
Aggression, mit der das Regime seine In-
teressen weltweit durchdrückt, soll Stär-
ke demonstrieren. Doch sie zeigt vor al-
lem Pekings Schwächen.
Besonders deutlich wird das in Hong-
kong. Die Strategie der chinesischen Re-
gierung ist gescheitert. Die Demonstran-
ten gehen allen Drohungen zum Trotz wei-
ter auf die Straße. Die Reaktion der Kom-
munistischen Partei auf die Einmischung
des Auslands ist deshalb so heftig, weil Pe-
king in diesem Konflikt so machtlos ist.


Sieben Worte eines Sportmanagers aus
der NBA reichen als Provokation, um die
Arbeit von Jahrzehnten zu zerstören. Da-
bei galt die amerikanische Basketball-Pro-
filiga als Musterbeispiel für erfolgreiche
Kooperation zwischen den USA und Chi-
na. Künftig wird der Vorfall ein zentrales
Argument für China-Kritiker in den USA
für einen härteren Kurs gegenüber dem
Land sein. Die technischen Details rund
um den Handelskrieg kapiert kaum je-
mand. Die Profiliga kennt in Amerika hin-
gegen jedes Kind, für viele Amerikaner ist
die Einmischung Pekings ein Anschlag
auf die Meinungsfreiheit in den USA. Das
Zurückrudern einiger Sportler in dieser
Woche halten viele für eine Schande.
Reihenweise fliegen US-Politiker nun
nach Hongkong. Kritik an China gehört
plötzlich zum guten Ton. Wenn Peking
Hongkong von der Agenda streichen woll-
te, hat es das Gegenteil erreicht. Inzwi-
schen müssen die Behörden das Thema so-
gar im eigenen Land zensieren, um die
Kontrolle nicht zu verlieren.
Auch wenn die Kommunistische Partei
in vielen Ländern immer wieder erfolg-
reich Druck auf Partner ausübt, schadet
das aggressive Auftreten auf politischer
Ebene langfristig mehr, als es nützt. Ein
aktuelles Beispiel dafür ist Taiwan. Welt-
weit zwingt Peking Firmen wie die Luft-
hansa dazu, den Inselstaat als einen Teil
Chinas auf ihren Internetseiten aufzufüh-


ren. Es gab mal eine Zeit, da war das Hong-
konger Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“
auch für viele Menschen in Taiwan denk-
bar. Der allumfassende Machtanspruch,
die Gängelungen und die aggressive Hong-
kong-Politik führen dort nun dazu, dass
die China-kritische Präsidentin Tsai Ing-
wen voraussichtlich im Januar wiederge-
wählt wird. Vor einigen Monaten galt das
noch als unwahrscheinlich. China schei-
tert daran, die Herzen der Menschen zu ge-
winnen, also verbietet es ihnen den Mund.
In freien Gesellschaften wird diese Strate-
gie scheitern.
Das Problem ist, dass die chinesische
Regierung bisher keine außenpolitischen
Instrumente entwickelt hat, die über das
Erpressen, das wirtschaftliche Sanktionie-
ren und das Bedrohen der Partner hinaus-
geht. Peking hat der Weltgemeinschaft
kein Angebot vorzulegen, wie es in Zu-
kunft international eine konstruktive Rol-
le übernehmen will. Je größer der Druck,
desto massiver werden die Angriffe aus Pe-
king werden, um seine Interessen durch-
zusetzen. Die Reaktion auf die Kritik im
Umgang mit Hongkong gibt dabei einen
ersten Vorgeschmack.
Will Deutschland in Fragen wie dem
Ausbau des Mobilfunknetzes handlungs-
fähig bleiben, benötigt es endlich eine kla-
re Strategie im Umgang mit China. Dafür
braucht es gleiche Spielregeln für beide
Seiten und langfristig auch einen Abbau
der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Bisher
hat Berlin der deutschen Wirtschaft diese
Frage weitestgehend selbst überlassen. Ei-
ne Offenheit, die Peking für sich genutzt
hat. Die chinesische Regierung hat früh
verstanden, dass in offenen Marktwirt-
schaften Unternehmen frei agieren kön-
nen. Das Land ermöglichte ausländischen
Firmen auch deshalb, Milliarden in China
zu investieren, weil es erkannte, dass Kon-
zerne, erst einmal gebunden an China,
auch nach seiner Pfeife tanzen würden.
Sie hatten recht. Die deutschen Konzern-
chefs sind heute Pekings treueste Partei-
soldaten.
Die Lage ist längst nicht so aussichtslos,
wie sie von deutschen Konzernen manch-
mal dargestellt wird. Auch Pekings Ein-
fluss hat seine Grenzen. Wirtschaftlich ist
das Land auf ausländische Technologie
und Investitionen angewiesen. Der Han-
delsstreit setzt Peking unter Druck. Das
Land braucht Offenheit – zumindest die
Offenheit der anderen. Deutschland sollte
deshalb klarer gegenüber China auftreten.
Peking erscheint in diesen Tagen, in de-
nen es jeden und alle angreift, auch so
mächtig, weil seine Partner so bereitwillig
kuschen. Das Wegschauen und die Selbst-
zensur sind zu einem Ritual geworden.
Das ist langfristig auch eine Gefahr für die
freiheitlichen Grundrechte hierzulande.

Es war gerade zweieinhalb
Monate her, dass sie zur Vor-
steherin des Börsenvereins
des Deutschen Buchhandels
gewählt worden war, da stell-
te die künftige Titelträgerin den Titel
schon infrage. „Es ist eigentlich eine di-
plomatische Aufgabe“, sagte Karin
Schmidt-Friderichs, die den Posten nach
der Buchmesse von Heinrich Riethmüller
übernimmt und damit den weltweit einzi-
gen Dachverband, in dem drei Handels-
stufen zusammenarbeiten, Produktion,
Vertrieb und Verkauf. Vorsteherin – es ist
dies ein ebenso altertümlicher Begriff
wie Börsenverein an sich. Die Interessens-
vertretung wurde 1825 als „Börsenverein
der Deutschen Buchhändler zu Leipzig“
gegründet, benannt nach der Leipziger
Buchhändlerbörse. Der Verband wollte
das Abrechnungswesen vereinfachen
und setzte sich für die Abschaffung der
Zensur, ein länderüberschreitendes Urhe-
berrecht und feste Ladenpreise ein. In
der NS-Zeit passte er sich den judenfeind-
lichen Maßnahmen des Regimes an. Der
Krieg bedeutete auch das Ende des alten
Börsenvereins, 1955 erhielt dieser seinen
aktuellen Namen. Heute hat der Verein
rund 5000 Mitglieder und kämpft noch
immer für Urheberrecht und Buchpreis-
bindung. Er vergibt den Deutschen Buch-
preis, den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels und richtet die Frankfurter
Buchmesse aus. fzg

4 HF3 MEINUNG Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH


FOTO: BLOOMBERG

TÜRKEN IN DEUTSCHLAND

Und es kamen Menschen


VERKEHRSWENDE

Es gibt nur eine Chance


FRANKREICH

Auf Normalmaß geschrumpft


PKW-MAUT

Scheuers Bluff


KATALONIEN

Chaos statt Rechtsfrieden


Der Dichter in seinem Garten sz-zeichnung: wolfgang horsch

CHINA


Schwacher Riese


von lea deuber


AKTUELLES LEXIKON


Börsenverein


PROFIL


Jens


Weidmann


Geldpolitischer
Oppositionschef
in der EZB

Auch weil sie nicht richtig
aufgenommen wurden, jubeln
viele Gastarbeiter Erdoğan zu Um die Klimaziele bis 2030

zu erreichen, muss die Politik
voll aufs Batterie-Auto setzen

Peking hat keine Instrumente,


die über das Bedrohen


seiner Partner hinausgehen

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