Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE


Fiasko der amerikanischen Syrien-Politik


Trump verhilft Putin zum Triumph

Wie ein Kartenhaus aus leerenVersprechungen,
Halbherzigkeit undKurzsichtigkeit stürzt Ameri-
kasSyrien-Politik vor denAugen derWelt in sich
zusammen. Die von PräsidentTr ump abrupt ge-
fällte Entscheidung, einem türkischen Einmarsch
in Nordsyrien nicht länger imWeg zu stehen, hat
einen wahren Dominoeffekt ausgelöst. In kür-
zester Zeit haben die USA fast jede Möglichkeit
verloren, das Geschehen zu steuern, und sehen
sich zu einem fluchtartigenRückzug gezwungen.
Sie hinterlassen eineTeilregion, in der die in den
letztenJahren erkämpfte Stabilität jäh in neues
Blutvergiessen umschlägt. Es ist ein Debakel, das
wohl noch lange nachwirken wird.
Schuld daran haben nicht nur die Amerikaner.
Auch die Europäer hätten mit vertretbaremAuf-
wand helfenkönnen, diese Krise zu verhindern.
Oft übersehen wird dieTatsache, dassWashing-
ton in der erstenJahreshälfte intensiv für die
Idee einer von westlichenFriedenstruppenkon-
trolliertenPufferzone in Nordsyrien geworben


hatte. Doch in Europa stiess dies auf Desinter-
esse. Diese Gleichgültigkeit rächt sich nun.
Tr otzdem wirktTr umps Entscheid zum Abzug
impulsiv und steht imWiderspruch zu amerikani-
schen Interessen.Auch wenn dasPentagon noch
amFreitag beteuerte, man lasse die syrischen
Kurden nicht im Stich, ist genau dies geschehen:
DieAdministrationTr ump hat Amerikas einzigen
Verbündeten inSyrien verraten. Nachdem sich
dieKurden jahrelang alsPartner im Kampf gegen
dieTerrormiliz IS bewährt hatten, ist der Schaden
für die amerikanische Glaubwürdigkeiterheblich.
Künftig werden es sich potenzielle Alliierte ge-
nauer überlegen, ob auf Sicherheitszusagen aus
WashingtonVerlass sei.
DieKurdenmilizen jedenfalls habenrasch
dieKonsequenzen gezogen – und dies in einer
Weise, wie sieKenner stets vorhergesagt hatten:
Sie holten dieTr uppen des Diktators Asad zu
Hilfe. Für dieKurden ist dies ein bitterer Schritt,
nachdem sie Asad jahrelang auf Distanz gehalten
undeinen Quasistaat von einem Drittel des syri-
schenTerritoriums aufgebaut hatten. Doch ohne
die Präsenz von 20 00 Amerikanern, die als Ab-
schreckung gegen Angreifer dienten,war das kur-
discheAutonomiegebiet allzu leicht verwundbar.
NachTr umpsWahl vor dreiJahren hatten sich
Optimisten mit dem Gedanken beruhigt, dass

der unberechenbare Präsident ja zum Glück er-
fahrene Berater um sich haben werde. Wie viel
Wunschdenken darin steckte,entlarvtdas fatale
TelefonatTr umps mit Erdogan vom 6. Oktober:
OhneVorbereitung, ohne Abstimmung mit sei-
nen Beratern und ohneVorwarnung an die kurdi-
schenVerbündeten setzteTr ump eine verhängnis-
volleKettenreaktion in Gang. IhreFolgen lassen
sich in Umrissen erkennen. Der Kriegsverbrecher
Asad kann seine Macht schlagartig auf weitere
Landesteile ausdehnen. Mit einigerWahrschein-
lichkeit wird es ihm sogar gelingen, das ganze
Land unter seiner Knute zu vereinen, da dieRai-
son d’être der türkischen Besetzungszone dahin-
fällt, wenn Asad garantieren kann, dass dieKur-
denkeine Eigenstaatlichkeit erhalten.
EinTr iumph sind die jüngsten Ereignisse erst
recht fürRussland. Nicht nur hat der Kremlsein
Zielerreicht, das Asad-Regime zuretten. Es ist
auchgelungen, die Amerikaner aus demLand zu
treiben, sie international zu demütigen und einen
Keil zwischen dieTürkei und denRest der Nato
zu treiben.Tr ump mag sich im Glauben wiegen,
er erfülle einWahlkampfversprechen und bringe
einen «endlosen Krieg» zu Ende. Doch falls
Syrien wirklich je zurRuhekommt, wird es ein
Frieden nach dem Geschmack von Diktatoren
wie Asad und Putin sein.

Wirtschaftsnobelpr eis belohnt neue Formen der Entwicklungspoli tik


Experimente gegen die Armut

Was ist das Ziel der Ökonomie?Das wirtschaft-
licheWachstum voranzutreiben?Das Verhal-
ten der Menschen gewinnmaximierend zu nut-
zen? Oder neue Instrumente für hochkomplexe
Finanzanlagen auszudenken? All diese Antwor-
ten sind denkbar, doch all diese Anwendungen
dürften in der Öffentlichkeit auf kritischeReak-
tionen stossen. Kaum umstritten ist demgegen-
über das Ziel, dank vertieftem ökonomischem
Wissen die weltweite Armut zu bekämpfen und
jenen Menschen, denen es an den lebensnotwen-
digen Gütern mangelt, ein würdigeresDasein zu
ermöglichen.Ja, mankann gar argumentieren, die
Armutsbekämpfung sei letztlich die elementarste



  • und daher nobelste–Aufgabe der wirtschafts-
    wissenschaftlichenForschung.
    Insofern dürfte dieVergabe des diesjährigen
    Wirtschaftsnobelpreises kaum auf Kritik stossen.
    Mit Abhijit Banerjee, EstherDuflo und Michael
    Kremer werden dreiPersonen geehrt, die sich


allesamt mit der Entwicklungsökonomie befas-
sen. Alle drei stellen zudem die Armutsbekämp-
fung ins Zentrum ihrer Arbeit. Das alleine ist je-
doch nochkeinausreichender Grund für die hohe
Auszeichnung.Weit bedeutsamer und innovativer
ist die Methode, mit der die – noch vergleichs-
weise jungen –Forschenden dazu beigetragen
haben,dassentwicklungspolitische Massnahmen
heute wirksamer in derFeldarbeit umgesetzt wer-
denkönnen. So setzenBanerjee, Duflo und Kre-
mer aufFeldexperimente, präziser: auf «randomi-
si ertkontrollierte Experimente».
Was ist damit gemeint? Nichts anderes, als was
in der medizinischenForschung beimTesten neuer
Medikamentelängst üblich ist: Es wird mitKon-
trollgruppen experimentiert.Versuchspersonen,
imkonkretenFall etwa einkommensschwache
Menschen, werden zufällig in verschiedene Grup-
pen aufgeteilt.Während die eine Gruppe einer
bestimmten Interventionausgesetzt wird, etwa
einem subventionierten Bezug von Lebensmit-
teln,ist diesbei derKontrollgruppe nicht derFall.
Dabei wird oft getestet, wie sich kleinsteVerände-
rungen beim Design einer Massnahme auswirken.
In einem Interview mit der NZZ erklär-
tenBanerjee undDuflo vor zweiJahren, Öko-
nomen müssten in stärkerem Mass wie Klemp-

ner arbeiten. Es dürfe für Ökonomenalso nicht
allein darum gehen, grosseTheorien und Prinzi-
pien zu entwerfen. Notwendig sei auch, sich um
die zahllosen Details bei der Umsetzung gene-
reller Prinzipien in die Praxis zu kümmern.Not-
wendig hierzuseiein experimenteller Ansatz. Es
ist dasVerdienst der dreiAusgezeichneten, sol-
chenExperimenten denWeggeebnet zu haben.
Sie haben dabei nicht nur viel Unbequemes zu-
tage getragen, etwa die langfristig eher beschei-
deneWirkung von Mikrokrediten. Sie trugen
auch dazu bei, dass die Entwicklungsökonomie
wieder zu boomen begann.
Gewiss,auch die «Randomistas», wie dieVer-
tretersolcherExperimente bisweilengenannt
werden, sind nicht unumstritten. Einige Kritiker
finden die Idee verwerflich, «Experimente mit
Armen» durchzuführen. Andere monieren, die
Fokussierung auf kleinste Mikroprobleme führe
dazu, dass die grossenFragen zusehends ausser
acht gelassenwürden. DieseKritikpunkte mögen
berechtigt sein. Begründet ist aber auch der Ein-
wand, dass die Ökonomie, will sie Sinnvolles be-
wirken, stets auch die Umsetzung ihrerVorschläge
bedenken muss. Und bei dieser Aufgabe steckt der
Teufel oft im Detail, wieBanerjee, Duflo und Kre-
mer mit ihrerForschungeindrücklichzeigen.

Urteil gege n katalanische Separatistenführer


Dia log oder Eskalation

Vier Monate haben die obersten spanischen Rich-
ter gebraucht, um über Schuld oder Unschuld der
zwölfkatalanischenSeparatistenführer zu befin-
den, die nach denWirren um das Unabhängig-
keitsreferendum im Oktober 20 17 verhaftet wor-
den waren.Das Urteil ist hart: DieVerurteilten
erhaltenFreiheitsstrafen von 9 bis 13Jahren, die
höchste Strafe haben die Richterfürdenfrüheren
Vizeregierungschef OriolJunqueras vorgesehen.
Die Richterhaben zwar alle Angeklagten für
schuldig befunden, sie haben aber nichtalle Schul-
digen für dieverfahrene Situation in Spanien be-
nannt. Sie taten es nicht, weil es nicht ihreAuf-
gabe war: Der Katalonien-Konflikt ist ein politi-
scherKonflikt,kein juristischer. Dass er überhaupt
durch dieJustiz verhandelt werden musste,war
eineBankrotterklärung der spanischenPolitik.
Viele tragen die Schuld dafür, dass die Bezie-
hungen zwischen Madrid undBarcelona auch
zweiJahre nach demReferendum und der halb-


herzigen Unabhängigkeitserklärung vergiftet
sind: die katalanischen Unabhängigkeitspolitiker,
deren Rhetorik manchmal wahnhafte Züge trägt;
die spanischenRechtsparteien, dieeinem schrillen
Nationalismus verhaftet bleiben; auch dieRegie-
rung des SozialistenPedro Sánchez, die vor allem
an ihrem eigenen Überleben interessiert ist.
Die geringste Schuld trifft die Richter. Sie
haben ein Urteil gefällt,das innerhalb desrecht-
lichenRahmens, in dem sie sich bewegen, Sinn er-
gibt. Es war richtig,denAnklagepunkt derRebel-
lion zu verwerfen. Die Staatsanwaltschaft hatte
auf dieserBasis Haftstrafen von bis zu 25Jah-
ren gefordert. Sie wollte ein Exempel statuieren.
Das letzte juristischeWort ist damit nicht ge-
sprochen. Die zwölfVerurteilten werden mit gros-
serWahrscheinlichkeit dasVerfassungsgericht
undspäter den Europäischen Menschenrechts-
ge richtshof in Strassburg anrufen.
Doch dieWeichen für die künftigen Beziehun-
gen zwischen Madrid undBarcelona stellen nicht
Richter sondernPolitiker. Diese haben nun die
Wahl. Siekönnen nach derVerurteilung einen
Neuanlauf wagen, das hiesse: einen Dialog auf-
nehmen, der darauf zielt, einen für alle Seiten an-
nehmbarenAutonomiestatus zu definieren. Oder
si e können denKonflikt weiter befeuern.

Die erstenReaktionen nach der Urteilsver-
kündung waren wenig verheissungsvoll.Pablo
Casado, derVorsitzende deskonservativenPar-
tidoPopular, zeigte sich besorgt, dass derRegie-
rungschef Sánchez dieVerurteilten begnadigen
könnte. UndRogerTorrent, derVorsitzende des
katalanischenParlaments, sagte: «Heute haben
sie uns alle verurteilt.» Der Satz offenbarte ein-
mal mehr den Anspruch der Unabhängigkeits-
befürworter, für ausnahmslos alle Katalanen zu
sprechen.Dabei zeigen Umfragen seitJahren,
dass eine Mehrheit der Bevölkerung Kataloniens
keinen unabhängigen Staat wünscht.
Das schlimmstmögliche Szenario wäre,wenn
die MadriderRegierung die Proteste gegen das
Urteil zum Anlass nehmen würde, Katalonien wie-
der unter Zwangsverwaltung zu stellen. Dierech-
tenParteien sähen sich in ihrer Haltung bestärkt,
dass der katalanische Separatismus mit aller Härte
bekämpft werden muss.Und die Unabhängigkeits-
befürworter sähen sich in ihrer Opferrolle bestätigt.
So weit muss es nichtkommen. Die spanische
Bevölkerung wählt am 10. November ein neues
Parlament. Bis dahin wird das meiste, was diePar-
teien absondern,Wahlkampfrhetorik sein. Nach
derWahl wird es höchste Zeitsein,denWeg der
Normalisierung zu beschreiten.

SAMUEL MISTELI

SEITENBLICK


Kampfsport


für den Geist


Von MILOSZMATUSCHEK

Welche Kampfsportart derWelt halten Sie
für die effektivste:Kung-Fu, Karate, Jiu-Jitsu?
Schwierig, schliesslich wirkt jede für sich
genommen mit ihrem Ansatz abgeschlossen,
in sich stimmig, wahr. Und überhaupt:
Wie will man das annähernd objektiv
herausfinden?
Das gleiche Problem stellt sich, wenn wir
versuchen, derRealität Sinn abzugewinnen.
Uns fehlt der holistische Blick von aussen.
Wirkönnen uns lediglich durch die Bretter
der Informationen bohren, Meinungen bilden,
Überzeugungen herausschälen und landen
am Endevielleicht doch nur in der einen
oder anderenkomfortablen Doktrin, deren
Gitterstäbe wir für Haltestangen halten,
um – wie imTr am – nicht aus dem Gleich-
gewicht zu geraten, wenn dieFahrt losgeht.
Der etwas eigentümlicheAutor und
PhilosophRobert AntonWilson warnte
schonin densiebzigerJahren vor einer
«Verschwörung derDummen». Seiner
Ansicht nach befinden sich die meisten
Menschen in privatenRealitätstunneln und
halten schlicht das für wahr, was sie unmittel-
bar wahrnehmen, ein «naiverRealismus».
Die digitaleVariante davon diskutieren
wir seitJahren unter den BegriffenFilter-
Bubble, Echokammer und Meinungssilo.
Die Digital Natives gelten nicht zufällig als
zartbesaitete Schneeflocken:Wer im Zoo
geboren wurde, kommt in der freienWild-
bahn eben schlecht zurecht.Wie aber kann
es trotzdem gelingen?
Wilson empfahl «interactingand proces-
sing», einTr aining in heterodoxem Denken.
Er plädierte dafür, so vieleRealitätskanäle wie
möglich zusammenzuführen und Dogmen und
Doktrinenkonstant herauszufordern.Ver-
knüpfung ist ein Erfolgsrezept,es bedeutet
Wachstum. Niemand weiss das besser als Pilze,
mit die ältesten Lebewesen derWelt.Wilson
experimentierte sogar mit ihren psychedeli-
schen Sorten und schloss sich derReligion der
Diskordianer an, in welcher jedes Mitglied
zugleichPapst ist. Ins Internet setzte er
Hoffnung:Woso viel widersprüchlicher
«Bullshit» an einem Ort zusammenkomme,
könne der Mensch nur gezwungen sein, selbst
nachzudenken.
Die innereLandkarte heterodoxer Ansich-
ten entsteht nicht zufällig, sie ist das Ergebnis
vonkonstanter Arbeit.Wer sich aus der
Entweder-oder-Verdrahtung eines Glaubens-
systems befreit, schafft es, neue Informationen
besser zu integrieren, und entwickelt Ambigui-
tätstoleranz. Diskussionen und Streit sind
dannkein Angriff mehr auf das Glaubens-
system, sondern neue Knoten auf demTeppich
der innerenLandkarte. Freie Zirkulation von
Ideen,eklektische Selektion und Anschluss-
fähigkeit durchVerknüpfung:Das ist der Stoff,
aus dem derFortschritt ist.
Was die Mehrheit sagt, taugt als Indiz
dagegen wenig. Auch der Mainstream ist
nichts anderes als ein Silo, nur das grösste von
allen.Wer sich der Orthodoxie des Alltags
kampflos ergibt, wird, mit einem imWert
sinkenden Diplom ausgestattet, in der«Tages-
schau» erfahren, dass es Deutschland noch nie
so gut ging wie jetzt, während sein Geld auf
demKontokonstant anWert verliert, ohne
dass dieRente gesichert wäre. Dank den
Zentralbanken übrigens die privat angesparte
auch nicht.Für die Mitgliedschaft imKollektiv
derVertrauensseligen gibt es am Ende nicht
einmal einenTr ostpreis.
Aber zurück zu den Kampfsportarten:
Welche also ist die effektivste? Man fand es
durch den eben beschriebenen Prozess heraus,
durchKonfrontation und Selektion – und zwar
im Ring selbst. Die Antwort:«Mixed Martial
Arts», eineVale-Tudo-Kampftechnik, die das
Beste der anderen vereint.Das hätteWilson
gefallen.In seinem Buch«Illuminatus» steht
der Satz: «Nichts ist wahr.Alles ist erlaubt.»

Milosz Matuschekist stel lvertr etender Chefredaktor
des «Schweizer Monats». Zuletzt verö ffentlichte er
«Kryptopia» und «Generation Chillsta nd».
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