Dienstag, 15. Oktober 2019 SCHWEIZ 13
Der Beitritt zum Völkerb und war für die Schweiz
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Bei Nervenärzten liegen die Nerven blank
Dass Psychologen selbständigPsychotherapien anbietendürfensollen, ärgert die Psychiater –es geht umEinfluss und viel Geld
SIMON HEHLI
Es sind markigeWorte, die PierreVal-
lon in einer Mail an seine Psychiaterkol-
legen richtet:«Die Händler derIllusi o-
nen sind unter uns.Wir dürfen nicht zu-
lassen, dass sie den Zusammenhalt unse-
rer Fachgesellschaften gefährden!»Vallon
ist Präsident zweier eng verbundenerVer-
bände, jenes der Psychiater (SGPP) und
jenes der ärztlichen Psychotherapeuten
(FMPP). Die Leute, die er als «Händler
der Illusionen» abkanzelt, sindVertreter
der Swiss Mental Healthcare (SMHC),
der Vereinigung der psychiatrischen Kli-
niken und Dienste. Der heftigeKonflikt
der beidenÄrzteverbände hat sich an der
Frage entzündet, ob und in welcherForm
Psychologen, diekein Medizinstudium
absolviert haben, selbständig Psycho-
therapien anbieten dürfen.
Wer darf Patienten überweisen?
Patienten, die eine Psychotherapie be-
nötigen, können dafür die Dienste eines
Psychiaters oder eines Psychologen in
Anspruch nehmen. Psychologische Psy-
chotherapeuten müssen bis jetzt jedoch
bei einem Psychiater angestellt sein,
dieser stellt auch den Krankenkassen
die Rechnung.Das soll sich nun nach
dem Willen des Bundesrates ändern. Er
schlägt vor, dass entsprechend ausgebil-
dete Psychologen künftig eine eigene
Praxis für Psychotherapieeröff nen kön-
nen. Damit die Grundversicherung diese
Leistung übernimmt, braucht es ledig-
lich die Überweisung durch einen Haus-
arzt oder einen Psychiater. Man spricht
von einem Anordnungsmodell.
Gegen diese «Revolution» wehrt sich
Vallon. Eine Umfrage unter denVer-
bandsmitgliedern habe ergeben, dass
zwei Drittel der Psychiater denVorschlag
des Bundesrates für «schlecht» halten.
Keine andere medizinische Disziplin
sei bisher damitkonfrontiert worden,
ihr Tätigkeitsfeld auf solch eineArt und
Weise teilen zu müssen,schreibtVallon in
seiner Mail an die Mitglieder. Und fragt:
«Wie würden die Gynäkologenreagie-
ren, wenn derVerband der Hebammen
ein analoges Modellentwickeln und also
mit ihnenkonkurrieren würde?»
Der Vergleich hinkt allerdings:Gynä-
kologen haben eine deutlich längereAus-
bildung hinter sich als Hebammen; psy-
chologische Psychotherapeuten hin-
gegen müssen nach dem Studium noch
eine vier- bis sechsjährige Zusatzausbil-
dung absolvieren und sind damit ähnlich
lang inAusbildung wie ihre Mediziner-
kollegen.Dass Vallon zu solcherPolemik
greift, zeigt, dass die Nerven blankliegen.
Seinen Ärger provoziert derKonkur-
renzverband SMHC dadurch, dass dieser
Hand bietet für einenKompromiss.
Umstritten ist insbesondere, wel-
che Ärzte Patienten zu einem Psy-
chologen überweisen dürfen.Vallons
FMP P fordert, dass diesesRecht nur
Psychiatern und Allgemeinärzten mit
einer psychosomatischen und psycho-
sozialenWeiterbildung zustehen soll.
Die SMHC-Vertreter hingegen schla-
gen in ihremKonzept einen Mittelweg
zwischen dieserPosition und jenerdes
Bundesrates vor:Alle Hausärzte sollen
bei leichten Krisen – Beziehungskon-
flikte,Trauerreaktionen oder Stress am
Arbeitsplatz – Psychotherapien anord-
nen dürfen. Allerdings sollen diese auf
zehn statt auf fünfzehnTherapiestun-
den beschränkt sein.Falls dieser Zeit-
rahmen füreine angemessene Interven-
tion nicht genüge, handle es sich hö chst-
wahrscheinlich um eine schwere Stö-
rung– un d diese erfordere dann doch
eine fachärztliche Beurteilung.
Es geht auch um viel Geld.Einig sind
sich die Psychiaterverbände immer-
hin in der Befürchtung, dass eine libe-
ralere Regelung der psychologischen
Psychotherapie zu einer massivenAus-
weitung derTherapiestunden führen
werde. Und damit zu Mehrkosten, die
deutlich über den vom Bundesrat pro-
gnostizierten 100 MillionenFranken
liegen würden – die FMPP schreibt
von einer halben MilliardeFranken.
Deshalb geht in Psychiaterkreisen die
Angst um,dass diePolitik von ihnen
finanzielle Einschnitte erwartet, damit
es nicht zu einem starken Anstieg der
Krankenkassenprämienkommt. Somit
könnte der Stundentarif derPsychia-
ter, der heute rund 50Franken höher
is t als jener der psychologischen Psy-
chotherapeuten, unter Druck geraten.
Dies auch, weil die Psychologen «glei-
chen Lohn für gleicheArbeit» fordern.
Was Pierre Vallon sauer aufstösst –
und offenbar auch denTon seiner Mail
erklärt – ist, dass sich die Klinikpsych-
iater in dieTarifdiskussion einmischten,
ob wohl dies nicht ihre Sache sei. «Die
SMHC-Leute wollen einfach mehr Geld
für ihre Psychiatrieambulatorien heraus-
schlagen», sagt er gegenüber der NZZ.
Doch laut den SMHC-Vertretern geht
es weniger um einenVerteilkonflikt
zwischen den Institutionen und den frei
praktizierendenPsychiatern, wieVallon
insinuiert. Sondern vielmehr um einen
Verteilkonflikt zwischenÄrzten mit vie-
len psychisch schwer gestörtenPatien-
ten und jenen, die eherrelativ leichte
Fälle in Gesprächstherapien behandeln.
Denn die SMHC interpretiert die
bundesrätlicheVorlage so, dass künftig
dieärztlicheunddiepsychologischePsy-
chotherapie sowie die anderen psychia-
trischen Behandlungen – etwa Gesprä-
che mit Angehörigen, Medikamenten-
abgabe oder Klinikeinweisungen – alle
gleichgestellt werden.Wenn sich nun
die Tarife für Psychologen und Psychia-
ter angleichen, könnte dies dazu führen,
dass es auch für dieTherapie schwieri-
ger Patienten weniger Geld gäbe. «Eine
kostendeckende Behandlung dieser
Menschen wäre noch wenigerrealistisch
als heute», warnt SMHC-Vorstandsmit-
glied Erich Seifritz von der Psychiatri-
schen Universitätsklinik Zürich.Das
wäreumsogravierender,alsdieEinkom-
men in der Psychiatrie bereits heute tie-
fersindalsindenmeistenanderenmedi-
zinischenDisziplinen–esdrohtdamitein
Nachwuchsproblem.
Psychologen sind fastam Ziel
Die Ärztevereinigung FMH steht vor
einer heiklenAufgabe: Sie muss ent-
scheiden welchePosition der zanken-
den Psychiater sie unterstützen will.
Die Vernehmlassungsfrist läuft noch
bis Donnerstag, die FMH bekennt erst
dannFarbe. Später wird sich auch zei-
gen, welche Einwände Gesundheits-
minister Alain Berset bei der Umset-
zung des Anordnungsmodells berück-
sichtigt.Wenig Grund zur Klage haben
die Psychologen, die nach jahrelangem
Lobbying fast am Ziel sind. Sie be-
mängeln einzig, dass eine Anordnung
nur für15 Sitzungen gilt und dann er-
neuert werden muss. Heute kann eine
delegierte Psychotherapie 40 Sitzungen
dauern, bis ein Bericht an denVertrau-
ensarzt der Krankenkasse fällig wird.
Die Nachfolger von SigmundFreud (im Bild seineCouch) streiten sichüber die Handhabung derBehandlungen. KHUE BUI/AP
Ein Schweizer Alleingang gegen Erdogan würde wenig bringen
In der Schweiz und der EUsindForderungen nachSanktionen gegen die Türkei zu hören –eineinternationale Einigungdürfte schwierig werden
HANSUELI SCHÖCHLI
Vor einemJahr war Saudiarabien nach
der Tötung desRegimekritikers und
JournalistenJamal Khashoggi Objekt
weltweiter Empörung. Der vom saudi-
schenRegime 2015 angezettelte Krieg
in Jemen hatte zu jenem Zeitpunkt
schonTausende vonTodesopfern ge-
fordert, doch dieTötung von Khashoggi
schien inWesteuropa heftigereReak-
tionen auszulösen. DerRuf nachWirt-
schaftssanktionen wurde in der Schweiz
und andersworasch laut. Doch weder
die Uno noch die EU noch die Schweiz
haben bisher Sanktionen verhängt.
Nun ist dieTürkei nach ihrer Militär-
offensive inSyrien Objekt internatio-
nal er Empörung, und die Geschichte
könnte sich wiederholen.In d er EU
wie in der Schweiz ist derRuf nach
Wirtschaftssanktionen und nach einem
Stopp derWaffenexporte zu hören. Die
EU-Aussenminister haben am Montag
über Massnahmen gegen dieTürkei be-
raten, doch es gabkeinen Sanktionsbe-
schluss. Die Ministerkonnten sich auch
nicht auf einen Stopp derWaffenausfuh-
ren einigen,womit der Entscheid zu den
Kriegsgüterexporten bei den nationalen
Regierungen verbleibt. In der Schweiz
forderte die SP am Montag nebst dem
Stopp von Kriegsmateriallieferungen
auch die Sistierung desFreihandels-
abkommens der Efta-Staaten mit der
Türkei sowie weitere gezielte Sanktio-
nen wieReise- undKontosperren.
Seit 2017 strenger als die EU
Laut der Kriegsmaterialverordnung
des Bundesrats werden im PrinzipAus-
landgeschäfte unter gewissen Umstän-
den nicht bewilligt – etwa wenn das Be-
stimmungsland «in einen internen oder
internationalen bewaffnetenKonflikt
verwickelt ist».Allerdings gibt esAus-
nahmen.Das federführende Staats-
sekretariat fürWirtschaft betonte am
Montag, dass der Bund schon seit An-
fang 2017 angesichts desKonflikts der
türkischen Regierung mit den Kur-
den im Grundsatzkeine neuenWaf-
fenexporte in dieTürkei mehr bewil-
lige. Möglich seien nur noch die Liefe-
rung von Ersatzteilen sowie von «ein-
zelnen Hand- undFaustfeuerwaffen für
den Privatgebrauch durch Diplomaten».
Laut Bundesstatistik hatte die
Schweiz 2017 nur noch für rund 640 000
Franken Kriegsmaterialgüter in die
Türkei exportiert, 2018 noch für 96 000
Franken und im laufendenJahr bis Ende
September für 2400 Franken («eine
Sammlerwaffe»). GemässDaten des
StockholmerFriedensforschungsinsti-
tuts (Sipri) exportierten vier EU-Län-
der 2017 und 20 18 noch im grossen Stil
Waffen in dieTürkei: Spanien, Italien,
Deutschland und die Niederlande. Zu-
sammen verkauften diese vierLänder
in den zwei vergangenenJahren Waffen
für total 600bis 70 0MillionenFranken
an dieTürkei.
In derFrage derWirtschaftssanktio-
nen jenseits vonRüstungsgütern ist der
Spielraum des Bundesrats beschränkt.
Laut dem Embargogesetz kann der
Bund im Prinzip nur dann Sanktionen
gegen Dritte durchsetzen, wenn diese
San ktionen von der Uno, der OSZE
oder «von den wichtigsten Handelspart-
nern» (gemeint: von der EU) beschlos-
sen wurden.Das Prinzip erscheint ver-
nünftig, da ein Schweizer Alleingang
mit Sanktionen gegen dieTürkei,Saudi-
arabien oder andere Staaten kaumWir-
kung hätte und in erster Linie der innen-
politischen Selbstbefriedigung diente.
Generell zeigt die internationaleFor-
schungsliteratur ein unerfreuliches Bild
über dieWirkungvon Wirtschaftssank-
tionen.Tendenz: Die deklarierten Sank-
tionsziele (wie z.B. dieVerbesserung der
Menschenrechte) werden meist nicht er-
reicht,und die Sanktionen treffen oft die
Armen statt die Eliten. Als aussichts-
reich gelten am ehesten auf Eliten ge-
zielte Sanktionen wie etwaReisesper-
ren oderFinanzboykotte.
Sanktionen gegen 23 Regime
Zurzeit sind laut Bundesangaben
Schweizer Sanktionsmassnahmen gegen
23 Länder bzw. Organisationen in Kraft;
die Listereicht von al-Kaida überJemen
bis zuVenezuela. In zehn dieserFälle
gibt es entsprechende Uno-Sanktionen
(welche die Schweiz als Uno-Mitglied
vollziehen muss), in achtFällen hat die
EU ohne Uno-Plazet Sanktionen ver-
hängt, und in fünfFällen sind Uno- und
EU-Sanktionen in Kraft.
Im Fall Türkei sind derzeit Uno-
Sanktionen angesichts desWiderstands
der Vetomächte Russland und USA
unwahrscheinlich. Ob sich die EU auf
Wirtschaftssanktionen gegen dieTür-
kei einigen kann, wenn nicht einmal
eine Einigung bei denWaffenexporten
möglich ist, erscheint ebenfalls fraglich.
Beschliesst die EU Sanktionen, hat der
Bundesrat gewisse Spielräume. Er k ann
die EU-Sanktionen voll, teilweise oder
gar nicht übernehmen. Letztgenanntes
ist aber selten; das bekannteste Beispiel
ist derFall Russland.
Auch ein Schweizer Alleingang zu-
gunsten von Sanktionen wäre trotz dem
Embargogesetz theoretisch möglich.Die
Regierung müsste sich dafür direkt auf
die Bundesverfassung stützen. Gemäss
Verfassung darf der Bundesrat in den
Aussenbeziehungen zurWahrung des
Landesinteresses befristeteVerord nun-
gen erlassen. Beispiele lieferten 2011
die vorsorglichen Sperrungen vonBank-
konti mitPotentatengeldern ausTune-
sien und Ägypten nachAusbruch des
ArabischenFrühlings. Seit 2016 gib t es
für solcheFälle ein spezielles Bundes-
ge setz. Dieses ist fürFälle mitRegime-
wechseln vorgesehen und deshalb zur-
zeit auf dieTürkei nicht anwendbar.