Dienstag, 15. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3
Sieg mit Wermutstropfen
Polens Regierungspartei gewinnt die Parlamentswahl – die Opposition erhält mehr Störpote nzial
IVO MIJNSSEN, WIEN
Die Gemütslagen beiPolens grössten
Parteien amWahltag passten schlecht
zumResultat.RechtundGerechtig-
keit (PiS), seit vierJahren an der Macht,
hatte mit 43,6 Prozent derWählerstim-
men gerade einRekordergebnis einge-
fahren und kann inPolen erneut alleine
regieren.Das liberale Parteienbünd-
nis Bürgerkoalition (KO) wiederum
lag weit abgehängt bei 27,4 Prozent der
Stimmen. Doch währendder Anführer
der KO, Grzegorz Schetyna, die Nieder-
lagerasch schönredete und von zukünf-
tigen Siegen träumte, wirkte Kaczynski
fast enttäuscht.DasAbschneiden leicht
unterhalb der optimistischsten Progno-
sen von fast 50Prozent istaus Sicht eines
Mannes, der stets das ganzeVolk zu ver-
treten vorgibt, einWermutstropfen.
Dennoch kann sich die PiS rühmen,
trotz – oder gerade wegen – heftigsten
politischen Kontroversen 6 Prozent-
punkte dazugewonnen zu haben. Ge-
messen an der absoluten Zahl der Stim-
men ist das Ergebnis noch beeindru-
ckender, lag die Wahlbeteiligung imVer-
gleich zu 2015 doch deutlichhöher.Für
die PiS stimmten über 8 MillionenPolin-
nen undPolen, verglichen mit 5,7 Mil-
lionen vor vierJahren.Die rechtskon-
ser vativePartei siegte laut der Nach-
wahlbefragung des Instituts Ipsos in 14
von16 Regionen undverbesserte ihr
Resultatin allenLandesteilen.Auch
ihreGegner haltender PiS zugute,dass
dies unter anderem der Lohn für einen
engagiertenWahlkampf bis in die letz-
ten Winkel desLandes war.
Ideenlose Liberale
Deutlich weniger erfolgreich bei der
Mobilisierung neuerWähler war die
Opposition, allen voran die Liberalen.
DieKOverzichtete weitgehend darauf,
ausserhalb der grossen Städte für sich
zu werben. Die in der Bürgerkoalition
vereinigtenParteien, die einstigeRegie-
rungspartei Bürgerplattform (PO) und
kleinereFormationen,konnten ihre ab-
solute Stimmenzahl zwar einigermas-
sen halten. Doch angesichts der höhe-
ren Wahlbeteiligungresultierte netto ein
Minus von über 4 Prozentpunkten.
Wie tief das Malaise derBürgerkoali-
tionreicht, illustriert dieTatsache, dass
der PO-Chef Grzegorz Schetyna in sei-
ner HeimatstadtWroclaw(Breslau) von
einer deutlichwenigerprominenten PiS-
Kandidatin klar geschlagen wurde. Die
Unbeliebtheit des hölzernen Karrie-
repolitikers Schetyna und seine man-
gelndenFührungsqualitäten waren ein
Grund für die Niederlage der Opposi-
tion. Schetyna verhinderte eine Erneue-
rung der PO nach der Niederlage vor
vierJahren und entschied fast in letz-
ter Minute, eine neue Spitzenkandida-
tin zu präsentieren.Dass sein Intimfeind
Kaczynski die eigene Glaubwürdigkeit
als Schlüssel zum Erfolg nannte, ist auch
als Spitze gegen Schetyna zu verstehen.
Dazu kommtdie programmatische
Schwäche der Opposition:Während die
PiS dieWähler mit grosszügigen Sozial-
programmen köderte, konzentrierten
sich ihre Gegner aufRegierungskritik;
was diese nicht daran hinderte, bei der
Sozialpolitik dieRezepte der PiS zu
kopieren. Die proeuropäische Haltung
als Alleinstellungsmerkmal vor dem
Hintergrund des StreitsWarschausmit
Brüssel über dieJustizreform genügte
nicht – zu abstrakt war dasThema.
Kulturkampfthemen wie die gleich-
ge schlechtliche Ehe oder das engeVer-
hältnis zwischen Staat und katholischer
Kirche schliesslich spalteten die Oppo-
sition stärker als die nationalkonser-
vativeRegierungspartei. Sie waren ein
massgeblicher Grund dafür, dass der für
die Europawahl im Mai eingegangene
Schulterschluss gegen die PiS scheiterte.
Stattdessen traten die wichtigsten Oppo-
sitionsparteien in dreiWahlallianzen an.
Ob ein Zusammengehen erfolgver-
sprechender gewesen wäre, wird noch zu
reden geben.Das bescheideneResultat
der Europawahl im Mai spricht dagegen,
jenes vom Sonntag aber dafür:Für die
Wahl in den Senat, das Oberhaus, be-
stimmte die Opposition Einheitskandi-
daten. Es gelang ihr damit, der PiS die
Mehrheit zu entreissen. Sie kann nun
Gesetzesentwürfe, welche die PiS wie-
derholt im Eiltempo durch dasParla-
ment gebracht hatte, verlangsamen.
Junge und alte Rechte
DiePolarisierung und der aggressive
Ton inPolensPolitik werden nach die-
ser Wahl kaum abnehmen. Dafür sorgt
einerseits derkonfrontative bis auto-
ri täreRegierungsstil der PiS, in dem
sie sich durch dasResultat zweifel-
los bestärkt sieht. Sie schafft es, damit
die wachsende Gruppe der Älteren zu
mobilisieren – bei denWählern über 50
Jahren verfügtsie nun über eine abso-
lu te Mehrheit – und jene, die sich seit
der Wende von derPolitik abgewandt
hatten.Rentenerhöhung plusKonserva-
tismus, so liesse sich das Erfolgsrezept
zusammenfassen.
Zählt man die mit 6,9 Prozent der
Stimmen neu insParlament eingezoge-
nenRechtsextremen derKonfödera-
tion dazu, die nicht mit der PiS verbün-
det sind,aber einen sich vondieser nur
graduell unterscheidenden intoleranten
und fremdenfeindlichen Diskursbedie-
nen, gib t es inPolen seit derWahl eine
erzkonservative, rechte Mehrheit.
Dieses Gedankengut ist auch bei den
Jungen verankert, wie jene 20 Prozent
der unter 29-Jährigen zeigen, die für die
Konföderation gestimmt haben.Was
Polens jüngere Generationen aber vor
allem auszeichnet, ist ihreVielfältigkeit:
Eher linksliberaler und urbaner als ihre
älteren Mitbürger,teilen sich ihreStim-
men zwischen PiS, KOund der neu er-
starkten Linksallianz Lewicaauf.Letz-
tere hatte erfolgreich um die weltoffe-
nenPolen geworben und erreichte13,
Prozent. Diese dürften in Zukunft ihre
Stimmen noch lauter als bisher erheben,
in einemLand, das wohl noch stärker
polarisiert wird.
Jaroslaw Kaczynski istPolens starker Mann und derWahlsieger vom Sonntag.Ganz zufrieden kann er trotzdemnicht sein. K. PEMPEL /REUTERS
Ungarns Opposition erringt einen grossen Erfolg gegen Orban
Die vereinig ten Regierungsgegner er obe rn Budapest und sieben weitere wichtige Städte
IVO MIJNSSEN, WIEN
Kurz vor derWahl vom Sonntag sprach
wenig für die Opposition in Ungarns
Hauptstadt Budapest. Alle Umfragen
deuteten darauf hin, dass derregie-
rungsnaheLangzeit-Oberbürgermeister
IstvanTarlos gegen seinen Herausforde-
rer Gergely Karacsony gewinnen würde.
Doch in den letztenTagen weitete sich
ein Sexskandal um den Bürgermeister
der sechstgrössten Stadt, Györ, zu einer
eigentlichen Krise für dieRegierungs-
parteiFidesz aus, die bis nach Budapest
ausstrahlte. Sie führte Karacsony über-
raschend zum Sieg.
MobilisierteLinksliberale
DerVorsitzendeder grünen Minipartei
Parbeszed, übersetzt: «Dialog», kam auf
knapp über 50 Prozent. Der bisherige
Vorsteher des Bezirks Zuglo wird da-
mit neuer Oberbürgermeister in der
wichtigsten Stadt Ungarns. «Holen wir
gemeinsam Budapest zurück», lautete
Gergely KaracsonysWahlslogan – und
dieser wirkte: Als Einheitskandidat
der notorisch zerstrittenen Opposition
schaffte es der 44-Jährige, Budapests
mehrheitlich Orban-kritische, linkslibe-
rale Wählerschaft an die Urnenzu lo-
cken. DieWahlbeteiligung lag deutlich
höher als bei vergangenen Lokalwahlen.
«Istanbul undWarschau sind unsere
Vorbilder», erklärte Karacsony in An-
spielung auf jene Städte, in denen die
Oppositionein er dominantenRegie-
rungspartei jüngst empfindliche Nieder-
lagen zugefügt hatte.Wirklich gestalten
kann der Oberbürgermeister die Lokal-
politik aber nur mit einer Mehrheit im
Stadtrat. Diese errang die Opposition
ebenfalls. Ihre Kandidaten gewannen in
14 von23 Stadtteilen. DieRegierungs-
parteiFidesz verlor 8 Bezirke, darunter
solche, die seitJahren als bürgerlich-
konservativ gelten.
DerFidesz von Ministerpräsident
Viktor Orban musste auch in den ande-
ren wichtigen Städten Niederlagen
hinnehmen:Von den 23Verwaltungs-
zentren (ohne Budapest)kontrolliert
die Regierung noch 13 – 7 weniger als
vor derWahl. Sie verlor etwa Szeged,
Miskolc und Szombathely. Ein Drittel
der Ungarn lebt nun in von der Opposi-
tionregierten Städten.
In Györ hingegen gewann Bürger-
meister Zsolt Borkai knapp vor seiner
Herausforderin, die deshalb eine Nach-
zählung beantragt hat. Borkai ist mass-
geblich für die Niederlage desFidesz ver-
antwortlich: EinVertrauter von ihm hatte
kurz vor derWahl einVideo veröffent-
licht, in dem der wertkonservativePoliti-
ker beim Sex mit Prostituierten auf einer
Luxusjacht zu sehen ist. Zudem disku-
tiert er darin laut dem Blog desWhistle-
blowers überkorrupte Praktiken, in die
auch seineFamilie involviert sei.
Die imLand dominanten, Fidesz-na-
hen Medien versuchten zunächst, dem
Skandal mit Enthüllungen über die
Opposition zu begegnen. Doch er schlug
weiterWellen, was führendePolitiker im
Land dazu bewog, Borkai zweiTage vor
derWahl öffentlich zu kritisieren. Sie
versuchten damit zu verhindern, dass das
kompromittierende Sittenbild imVideo
als Sinnbild für dieKorruption der gan-
zenPartei genommen wird, die neben
der politischenauch die wirtschaftliche
Macht immer stärker zentralisiert hat.
OrbansTrümpfe
Viktor Orban versucht, dasBeste aus
seiner Niederlage – der ersten seit 2006 –
zu machen. Erredet den Sieg der Oppo-
sition einerseits klein, indem er zuRecht
betont, dass seinePartei landesweit eine
Mehrheit der Stimmen erhalten habe.
Gleichzeitig argumentiert er, das Resul-
tat beweise die Stärke der Demokratie
Ungarns – eine gewagteFeststellung.
DerRegierungschef will denWillen
der Wählerrespektieren.Das sind ver-
söhnlicheWorte, nachdem einerseiner
Minister vor wenigenWochen angekün-
digt hatte, zusätzlich für die Hauptstadt
in Aussicht gestellteFinanzmittel wür-
den nur bei einem Sieg desFidesz-Kan-
didaten ausbezahlt.
Symbolisch istder Sieg der Opposi-
tion sehr bedeutend.Er zeigt, dass ein
Zusammengehenerfolgversprechend ist
- nicht nur in Budapest, sondern auch
darüber hinaus. Orban verliert damit
den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Dies
verschafft seinen Gegnern im Hinblick
auf die nächstenParlamentswahlen 2022
Auftrieb. Ob die Einheit bis dahin hält,
ist jedoch offen. Als Galionsfigur wird
Karacsony eine wichtigeRolle spielen.
Weniger klar ist, ob er sich angesichts
der geringen Grösse seinerPartei gegen
bedeutendere und umstrittenereForma-
tionen der Opposition wie die Sozialis-
ten durchsetzen kann.
DieRegierung hält zudem mit ihrer
Zweidrittelmehrheit im nationalenPar-
lament dieTrümpfe in der Hand. Sie hat
diese genutzt, um die Macht in ihren
Händen zu konzentrieren und dem
Land eine autoritäre Richtung zu geben.
Dazu gehörte auch, dass sie die Bud-
gets undKompetenzen der Gemeinden
reduzierte, etwa im Bereich der Gesund-
heitsversorgung. Dass ihnen die Lokal-
politikwichtig ist, haben die Ungarn nun
demonstriert.Welche Gestaltungsräume
sie haben wird, dürftein einem harten
Machtkampf zwischenRegierung und
Opposition bestimmt werden.
Kommentar
Ein Triumph
wie eine Drohung
MERET BAUMANN
Die polnischeRegierungspartei PiS hat
dieParlamentswahl am Sonntag nicht
nur gewonnen, sie hat triumphiert. Die
Nationalkonservativen haben ihren Stim-
menanteil gegenüber 2015 nochmalsaus-
gebaut,können weitere vierJahre allein
regieren und haben den Abstand auf die
grösste Oppositionspartei, die Bürger-
plattform, deutlichvergrössert.Noch nie
seit der demokratischenWende inPolen
konnte einePartei so viele Stimmen auf
sich vereinen.Umsoparadoxer mutete der
Auftritt des PiS-ChefsJaroslaw Kaczyn-
ski am Sonntagabend an. Man hätte ein
noch besseresResultat verdient,erklärte
Polens stark er Mann. Noch zu viele hät-
ten die «idiotische»Vorstellung, dass es
die Opposition besser machen würde.
DieAussage ist bezeichnend für
Kaczynskis Denken. Obwohl seinePar-
tei nach vierJahren an der Macht fast alle
Schlüsselstellen im Staatkontrolliert und
sich die öffentlichrechtlichen Medien als
untertänige Propagandisten derRegie-
rung gebärden,hat eine Mehrheit der
Polen anderen Kräftenihre Stimme ge-
geben.Für Kaczynski ist das nicht ein
völlig normales, ja unabdingbares Ele-
ment des politischenWettbewerbs, son-
dern eskommt einemVerrat nahe. Ent-
sprechend hat die PiS in den letztenJah-
ren regiert: Sie umwarb dieWähler mit
sozialenWohltaten, während sie Gegner
von ihrenFunktionen absetzte, mundtot
machte oder diffamierte.
Wenn Kaczynski nun sagt, es müsse
noch viel getanwerden, ist das nicht
anders denn als Drohung zu interpretie-
ren. Noch mehr Geldgeschenke an die
Bevölkerung sind kaum möglich. Deshalb
dürfte derFokus auf der weiteren Anpas-
sung der demokratischen Spielregeln lie-
gen. Die PiS hatte imWahlkampf betont,
die Justizreform, die bereits zu einem dra-
matischenAbbauder Rechtsstaatlichkeit
geführt hat, vollendenzuwollen. Zudem
hegt sie schon lange Pläne, die unabhän-
gigen Medien mit demVorwand einer
«Nationalisierung» an die engere Leine zu
nehmen. Dies dürfte nunkonkret werden.
MitRecht kann die PiS argumentie-
ren, für all das ein Mandat derWähler zu
haben. Dasist eine Herausforderung für
die Opposition, die ihre Kräfte zurVer-
teidigung der Demokratie bündeln sollte.
Es ist aber auch ein Problem für die EU.
Die neueKommission möchte die Bezie-
hung zuPolen entspannen, nachdem das
Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der
Verträge festgefahren ist.Das ist begrüs-
senswert, doch wenn Grundwerte wie
die Rechtsstaatlichkeit und die Medien-
freiheit bedroht sind, darf Brüsselkeine
Kompromisse machen.