Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

44 SPORT Dienstag, 15. Oktober 2019


Die Footballer der Miami Dolphins


verlieren Spiel umSpiel –das ist so geplant SEITE 42


Ilkay Gündogan steht offenbar für dietürkische


Militäroffensive ein – er müsste es besser wissen SEITE 43


In der Summe belastend


Wollen die Schweizer Fussballer ihrem Selbstverständnis gerecht werden, sind gege n Irland Taten gefragt


PETERB. BIRRER, GENF


Am Samstag hatte sichGranit Xhaka im
Kopenhagener Stadion dasRecht her-
ausgenommen, an allen vorbeizugehen
und zu schweigen. Das darf er, wenn er
zu anderen Zeitenwieder Auskunft gibt.
Schliesslich hatte selbst sein Chef, der
Trainer VladimirPetkovic, nach der WM
2018 nach demrätselhaftenAusscheiden
die Abschluss-Medienkonferenz sausen
lassen.Dasindieser Situationrenitente
Verhalten Xhakas sollte nicht über-
interpretiert werden, zumal ihm aus der
Ferne anzusehen war, dass er denRasen
nach dem0:1 gegenDänemark nicht im
inneren Gleichgewicht verliess.
Zwei Tage später, Szenenwechsel,
Stade de Genève. Xhakaredet an der
Medienkonferenz. Er versprüht jenes
Selbstverständnis, das ihn schon im
Sommer 2011 als18-Jähriger bei sei-
nem Debüt in England (2:2) ausgezeich-
net hat. Die Mannschaft wisse, wie sie
mit einersolchen Situat ionumzugehen
habe, sagt er, «wir müssen gewinnen».
Das ist dieAusgangslage, zumal nach
alldem, was geschehen ist. Die Gedan-
ken drehen sich um späte Gegentore,
um den Match inDänemark, den die
Schweizer nie hätten weggeben dürfen.


«Ich bin immernoch da»


Auch derTrainer VladimirPetkovic
klammert sich an das Gute, an jene zahl-
reichen Minuten, die vor allem in den
Spielen gegenDänemark gut waren.
Dass er amWochenende in diversen
Medien gleichzeitig infrage gestellt
wurde, nimmt er gelassen hin, wie ein
ruhenderFelsen, zumindest äusserlich.
«Das ist normal imFussball», sagt er,
«ich werde seit fünfeinhalbJahren in-
frage gestellt, aber ich bin immer noch
da.» Es gehenicht um VladimirPetko-
vic,nicht um einzelnePersonen. Und
dann folgt noch der sonderbareAppell
an die Medien, als wären dieTeil des


Fussballverbands: «Ihrkönnt helfen,
die Mannschaft an die EM zu bringen.»
Man kann die EM-Qualifikation
drehen und wenden, wie man will. Man
kann von oben schauen, von unten, von
links, vonrechts. Die SFV-Auswahl ver-
lier t den Direktvergleich gegenDäne-
mark (3:3, 0:1), und sie wird dazu bis
jetzt von Irland (1:1) in Schach gehalten.
Jedes Spiel hat seine eigene Geschichte,
ein kollektiver Einbruch in den letzten
Minuten, ein spätes Offsidetor oder ein
finaler Geniestreich eines Gegners. Sol-
che Dinge sind die Zutaten desFuss-
balls, können die eine oder andereSeite
betreff en und sind nicht immer ein-
leuchtend erklärbar.
Doch einer Sachemüssen sich die
Schweizer bewusst sein: Die Summe
der Resultate entspricht nicht derLatte,
die sie sich selber hochsetzen, dasZiel
der Mannschaft ist derViertelfinal einer
Endrunde. In der Summe ist einRück-
schritt im Vergleich zumAufgalopp

zur WM 2018 zu konstatieren, als die
Schweizer am Ende und nur knapp von
Portugal ins Play-off verwiesen wurden.
Diesmal haben sie gegen weniger gut
eingestufteKontrahenten viel zu viele
Punkteliegenlass en. Die Dänen waren
selbst in ihrem imposanten und bis auf
den letzten Platz gefülltenParken-Sta-
dion seltsam bescheiden.Ja, derPass
Christian Eriksens aufYussufPoulsen
vor dem Siegtor war toll. Aber sonst?
Von den Iren bleibt von ihrem zähen
Heimspiel inDublin (1:1) Ähnliches in
Erinnerung. Angst flössten sie nicht ein.

Im schlechtesten Fall Play-off


Die Schweizer Rücklage ist über-
raschend, zumal für ein mit Bundesliga-
Spielern gespicktes Nationalteam,dem
seitJahren die baldige Erfüllung pro-
phezeit wird. Doch weil die Zeitrech-
nung eine andere als früher ist, fielen
selbst bei einer Niederlage gegen Irland

nicht alle EM-Türen ins Schloss.Weil die
Uefa auskommerziellen Gründen 20 16
das EM-Teilnehmerfeld von16 auf 24
aufgebläht hat,qualifizieren sichdie
zwei Gruppenersten direkt für dasTur-
nier. Der Schweiz stünde über denWeg
der Nations League zudem so oder so
die Option Play-off offen.
In der alten Zeitrechnung würde im
Moment der SchweizerBaum brennen,
in der neuen müsste es schon mit Mur-
phys Gesetz zu- und hergehen, sollte die
Mannschaft tatsächlich scheitern.Dass
selbst in der neuen Zeitrechnung einiges
eng blieb, zeigt der Blickzurück. Hätte
die Schweiz im September 2015 das
lange Zeit miserable Heimspiel gegen
Slowenien inBasel nicht ab der 80. Mi-
nute vom 0:2 zum 3:2 auf denKopf ge-
stellt, wärespäter der Gegner als Grup-
penzweiter direkt an die Euro gereist
und die Schweiz in derBarrage gewe-
sen. Es kann spät kippen. Zum Beispiel
mit einem Sieg gegen Irland.

Früherwäre das Schweizer Nationalteamindie Krise gestürzt, heute ist die EM-Qualifikation kaum gefährdet. DI NOLFI / KEYSTONE

Warten auf einen


neuen Keane


Der irische Fussball verkörpert
Solidität und Bescheidenheit

bir. Genf· Derweil irische Beobach-
ter das 0:0-Remis von Irland in Geor-
gien am letzten Samstag mit denWor-
ten «terrible, really terrible» umschrei-
ben, kämpft der irische Coach Mick Mc-
Carthy gegen Negativität an.Wenn ihm
jemand vor der Qualifikation 4 Punkte
gegen Georgien angeboten hätte, «hätte
ich die genommen». McCarthy dreht die
Sacheand ersherum:«Wir müssen ent-
weder die Schweiz oder am Schluss
Dänemark besiegen», sagt er, «wir sind
90 Minuten von der Euro entfernt. Das
ist doch ein gutesGefühl.»Je länger Mc-
Carthy in Genf vor den MedienPositi-
vität sucht, desto deutlicher wird, wie
der irischeFussball auf Bescheidenheit
gebaut ist.«An wie vielen Endrunden
waren die Schweizer in den letztenJah-
ren dabei?», fragt er rhetorisch. Nach
der WM 2002 folgten für Irland die EM-
Endrunden 2012 und 2016. Das war’s.
Die irischen Nationalspielerrackern
entweder in der Premier League, in der
zweitobersten englischen Spielklasse
(Championship) oder in Schottland.
Die Iren sehnen sich nach einem neuen
Keane, weil die zweinichtmiteinander
verwandtenRoy undRobbieKeane
die irischeAuswahl überJahre geprägt
haben. Die Galionsfigur ist der Stür-
merRobbieKeane, der zwischen 1998
und 2016 in 146 Länderspielen 68Tore
schoss. Heute istKeane Assistenztrainer
McCarthys. Der frühere ManU-Hau-
degenRoy Keane assistierte dem Mc-
Carthy-Vorgänger Martin O’Neill, doch
mit McCarthy ginge das nicht.
McCarthy war bereits zwischen 1998
und 2002 irischer Nationaltrainer. Er
brachte die Iren an die WM 2002 in
Japan/Südkorea, entzweite sich aber vor
demTurnier mit dem SpielerRoy Keane.
Nach zwei Niederlagen in der folgen-
den EM-Qualifikation gegenRussland
und die Schweiz trat McCarthy zurück.
Die 1:2-Niederlage inDublin gegen das
Team vonTrainerKöbi Kuhn war seine
Dernière. Fabio Celestini schoss eines
seiner zweiLänderspieltore. Etwas spä-
ter kehrteRoy Keane in die irischeAus-
wahl zurück. Immer, wenn ein Pflänz-
chen blüht,keimen Gedanken an «einen
neuenKeane». Der19-jährige Aaron
Connolly debütierte in Georgien und
hatte ein paargute Minuten. Man dürfte
ihn auch in Genf sehen. Offenbar muss
man sich auch einen anderen Namen
merken, derPotenzial fürKeane-Reife
hat:TroyParrott,17-jährig, U21 Irland,
NachwuchsTottenham.

EM-Qualifikation, Gruppe D
Dienstag
Schweiz - Irland 20.45 Gibraltar - Georgien 20.45



  1. Irland 6/12 4. Georgien 6/5

  2. Dänemark 6/12 5. Gibraltar 5/0

  3. Schweiz 5/8
    Die restlichen Spiele.15. November: Schweiz - Georgien, Dänemark -
    Gibraltar. – 18. November: Gibraltar - Schweiz, Irland - Dänemark.


Auf schnellen Sohlen


Die 25 -jährige Brigid Kosgei unterbietet in Chicago den Marathon -Weltrekord um 81 Sekunden – wie ist das möglich?


JÜRG WIRZ


Was war das für ein Marathon-Wochen-
ende: Am Samstag lief Eliud Kipchoge
in Wien als erster Menschdie 42,195
km unter zwei Stunden, und am Sonn-
tag kam seinekenyanischeLandsfrau
Brigid Kosgei beim Chicago-Mara-
thon nach 2:14:04 Stunden ins Ziel – 81
Sekunden schneller als derWeltrekord
der BritinPaula Radcliffe aus demJahr



  1. Sieben Mal wurde derWeltrekord
    der Männer in diesen sechzehnJahren
    verbessert, vonPaul Tergat (2:04:55) bis
    Eliud Kipchoge (2:01:39).Radcliffes
    2:15:25 Stunden hielt allen Anstürmen
    stand; niemand erreichte auch nur eine
    Zeitvon unter 2:17. Und nunkommt
    eine 25-jährigeKenyanerin und läuft in
    eine neue Dimension, Kosgeis Bestleis-
    tung lag vor demWelrekordbei 2:18:20,
    gelaufen am letzten London-Marathon.
    EinWeltrekord, der für die Ewig-
    keit schien, wurde nicht nur in die Ge-


schichtsbücher verbannt, Kosgei pulve-
risierte ihn.Wie ist das möglich?
Die Strecke beim Chicago-Marathon
gilt als einer der schnellsten. Hier wur-
den schonzwei Weltbestzeiten bei den
Männern und zwei bei denFrauen er-
zielt, allerdings zu Zeiten, als es noch
keine offiziellenWeltrekorde gab. Brigid
Kosgei startete hinter ihren zwei männ-
lichenTempomachern sehr schnell,
absolvierte die ersten fünf Kilometer in
15:28 Minuten und passierte die Halb-
marathonmarke in 1:06:59.Wer dachte,
sie würde für dieses horrendeTempo
büssen, sah sich getäuscht. Sie hielt
durch, undals die Tempomacher ausstie-
gen, half ihr dasAdrenalin über den letz-
ten Streckenteil: 2:14:04 Stunden.
Brigid Kosgei hatte schon beim
Great NorthRun am 8. September an-
gedeutet, in welch grossartigerForm
sie sich befand. Die64: 28 Minutensind
die schnellste je von einerFrau gelau-
fene Halbmarathonzeit, aberkein Welt-

rekord, weil die Strecke von Newcastle
nach South Shields leicht abfällt.Dass
dieser schier unglaublicheRekordlauf in
Chicago möglich war, hat aber zweifel-
los auch mit dem Schuh zu tun. Die fünf
schnellsten Marathonzeiten der Män-
ner wurdenin den Nike-Vaporfly gelau-
fen. Die amerikanische Plattform «Lets-
run.com» schreibt, BrigidKosgei hätte
eigentlich im gleichen Modell laufen
wollen wie bei ihrem Sieg imFrühling
in London, demVaporfly 4% Flyknit.
Sie hätte sich aber im letzten Moment
überzeugen lassen, ihreFüsse in das

neueste Nike-Modell zu stecken, nach-
dem sie von Kipchoges Erfolg inWien
gehört hatte. Den letzten Zweiflern, ob
die neuen Nike-Laufschuhe tatsächlich
schnellere Zeiten ermöglichen, gehen
langsam die Argumente aus.
Anders als andereLäuferinnen aus
Kenya fiel BrigidKosgei nicht schon
im Nachwuchsbereich auf. Sie wuchs in
einerFamilie mit sieben Geschwistern
auf und musste vor dem Abschluss 2012
die Schule verlassen, weil die Eltern
das nötige Geld nicht mehr aufbrin-
genkonnten. Sie trainierte mehr, aber
nur während zweierJahre. 2014 brachte
sie Zwillinge zurWelt. Zusammen mit
ihremPartner enschied sie nach der
Geburt, voll aufsLaufen zu setzen; der
Partner übernahm unter derWoche
die Kinderbetreung, Kosgei trainierte.
Sie ging nach Kapsait im Elgeyo-Ma-
rakwet-County imWesten desLandes,
wo die italienische Managementgruppe
Rosa & Associati unter der Leitung von

Erick Kimaiyo auf 2500 Meter über
Meer einTrainingscamp hat. Im Camp
sind sehr viele junge Athleten; einTeil
des Camps wurde zuletzt in eine Schule
umgewandelt.
ManagerFedericoRosa: Dawird
jeder, der sich in der Szene auskennt,
hellhörig. UnterRosas Athleten gab es
in den letztenJahren eine alarmierende
Anzahl von Dopingfällen. Die promi-
nen testen: Rita Jeptoo, dreifacheSie-
gerin in Boston,Jemima Sumgong, die
Marathon-Olympiasiegerin von Rio,
und zuletzt Asbel Kiprop, der dominie-
rende1500-m-Läufer der letzten zehn
Jahre. Auch Brigid Kosgei wird sich
diesenVerdächtigungen ausgesetzt se-
hen.Wer denWeltrekord so pulverisiert
und ausKenya stammt, muss damit le-
ben. Bisher gab es gegenKosgeikeine
Doping-Beweise. In Kapsait war bis jetzt
noch nie ein Dopingfall zu verzeichnen,
Jeptoo und Sumgong trainierten in Kap-
sabet, Kiprop in Iten.

BrigidKosgei
Weltrekordläuferin
REUTERS im Marathon
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