Dienstag, 15. Oktober 2019 SPORT43
Ilkay Gündogan und der Lerneffekt
Erneut steht der deutsche Nationalspieler im Mittelpunkt einer Debatte, erneut geht es nicht um Fussball, sond ern um türkische Politik
STEFAN OSTERHAUS
Einen solchen Abend hat Ilkay Gündo-
gan im deutschen Nationalteam noch
nie erlebt. Er, der Mittelfeldspieler von
Manchester City, war mit zweiToren
und einerVorlage aufden Leipziger
Timo Werner nicht nur der massgebliche
Spieler des DFB-Teams beim 3:0-Sieg
in Estlands HauptstadtTallinn. Allent-
halben wurde ihm bescheinigt, nie bes-
ser im Nationaltrikot gewesen zu sein als
an diesem Sonntag.
Gündogan war sowohl vor wie auch
nach dem Abpfiff der Mann, um den
sich die Diskussionen drehten.Dass sein
sportlicherWert ausserordentlich sein
kann, es aber bisher längst nicht immer
gewesen war, das wissenalle, die sich mit
der Karriere des Strategen beschäftigen.
Aber daran allein lag es nicht, dass über
ihn und auch seinen ebenfalls türkisch-
stämmigen Mitspieler Emre Can gespro-
chen wurde.
Die beiden hatten eineFoto, aufge-
nommen nach dem Sieg der türkischen
Equipe gegen Albanien in der vergan-
genenWoche, auf Instagram mit einem
Like versehen.Was für sich genommen
belanglos ist, erhielt durch die abgelich-
tete Geste eine politische Dimension:
Die türkischen Nationalspieler salutier-
ten – und erwiesen damit der türkischen
Militäroff ensive im NordenSyriens, wel-
che dieVertreibung der dort ansässigen
Kurden zum Ziel hat, ihreReverenz.
Der türkische StaatschefRecepTayyip
Erdogan bezeichnet dieKurdenmilizen
als Terroristen. Der Begleittext der vom
Torschützen CenkTosun ins Netz ge-
stelltenAufnahme lautet:«Fürunsere
Nation, vor allemfür diejenigen, die für
unserLand ihr Leben riskieren.»
KeineMinute zufrüh
Schnellregte sich Kritik, in derenFolge
sowohl Can als auch Gündogan den
Like zurücknahmen. Sie waren darum
bemüht, die Situation zu entschärfen.
Can erklärtesich zumPazifisten; als sol-
cher lehne er jedeForm der militäri-
schenAuseinandersetzung ab. Gündo-
gan gab an, den Likesofortentferntzu
haben, als ihm bewusst geworden sei,
das dieser als eine politischeAussage
aufgefasst worden sei.
Die Distanzierung war zweifellos nö-
tig – undkeine einzige Minute zu früh,
denn Gündogan hat bereits Erfahrun-
gen mit solchen Situationen sammeln
können, und man darf sich fragen, wie es
kommt, dass einer wie er so unbedacht
verfährt. Im Mai 2018 hatte sich Gün-
dogan während einerVeranstaltung in
London an der Seite des türkischen Prä-
sidenten Erdogan gezeigt,er hatte ihm
ein Trikot seines Klubs Manchester City
überreicht,das er mit derWidmung«Für
meinen Präsidenten» versehen hatte.
Mesut Özil vom FC Arsenal,seinerzeit
noch dieNummer eins unter Deutsch-
lands Spielgestaltern, überreichte eben-
falls einVereinstrikot, verzichtete aber
auf dieWidmung. Der damalige Liver-
pooler Emre Can, der demVerneh-
men nach auch eine Einladung erhalten
hatte,blieb dem Anlass aus unbekann-
ten Gründen fern.
Was daraufhin folgte, war eine
Debatte, wie sie das kultursensible
Deutschland zuvor nicht einmal in
Jubeljahren erlebthatte. Grob verlief
die Front zwischen demLager derjeni-
gen, die die Pfiffe gegen Özil und Gün-
dogan alsRassismus brandmarken woll-
ten, während die Gegenseite betonte:
Ein Nationalspieler, der sich an der Seite
eines Mannes zeigt, der denRechtsstaat
in seinemLand konsequent schleift und
sich nicht scheut, der deutschenRegie-
rung Nazimethoden vorzuwerfen, hat in
einer DFB-Auswahlmannschaft nichts
zu suchen.
Zu klären war die Sache nicht. Gün-
dogan warb immerhin umVerständnis
undrelativierte: Er habe sichrespektvoll
gegenüber demLand seinerVorfahren
zeigen wollen. Özil, ohnehinkein Mann
derWorte, schwieg sich lieber gleich
aus. So fuhr dasDuo an dieWeltmeis-
terschaft, doch es gärteim Team. Regel-
recht bizarr wurde es, als nach missrate-
nemTurnier Özil unter grossem Getöse
seinenRücktritt viaTwitter inszenierte:
Dabei spielte er dieRassismus-Karte
aus, nannte namentlich den ehemali-
gen DFB-PräsidentenReinhard Grin-
del, ohne diese Behauptung auch nur
im Ansatz belegen zukönnen.
Özil und dessen Berater kannten ihr
Publikum offenbar gut: Sie formulier-
ten eine Anschuldigung, die in Deutsch-
land nur allzu gern angenommen wird –
und erhielten daher den womöglich ein-
kalkulierten Beifall. Hinterfragt wurde
die windschiefe Argumentation kaum.
Ihrer eigentlichenAufgabe, die Strate-
gie des Özil-Lagers offenzulegen, kamen
derweil wenige deutsche Medien nach;
manche segelten stattdessen hart am
vom Özil-Lager entfachtenWind. Umso
grösser war bei manchen daher die
Überraschung, als Özil den Staatschef
Erdogan im vergangenen Sommer als
Ehrengast an seiner Hochzeit begrüsste.
Somit gab Özil im Nachgang seinen
Kritikernrecht – und auch das Handeln
der deutschen Offiziellen, die damals
hart angegangen worden waren, stand
nun in einem anderen Licht da. Seiner-
zeit hatte Oliver Bierhoff, der Mana-
ger des Nationalteams, noch versucht,
die Sache herunterzuspielen – vergeb-
lich, denn sie war schnell zu gross gewor-
den , als dass sie noch einzufangen gewe-
sen wäre.
Nun ist Bierhoff wieder als Mittler
gefragt. Offiziell vertritt er diePosition
Gündogans, der von einer politischen
Absicht nichts wissen will: «Es ist mitt-
lerweile auch für sie schwer, das einzu-
schätzen.Es gibt viele Spieler auf der
Welt, die das geliked haben.Dann kann
man ja nicht allen unterstellen, dass sie
für Krieg undTerror sind», sagt Bierhoff.
Ebenso versuchte der Bundestrainer
Joachim Löw zu beschwichtigen:«Wer
beide Spielerkennt, der weiss, dass sie
gegenTerror ,gegen Krieg sind. Beide
wollten dem Spieler, mit dem sie einmal
zusammengespielt haben, einfach nur
gratulieren.»
Tatsächlich stehen die Dinge etwas
andersals noch imWM-Sommer. Jener
CenkTosun, auf dessenAccount Can
und Gündogan das Bild mit einem Like
adelten, ist ein alter Bekannter der bei-
den Nationalspieler. Er wurde im hes-
sischenWetzlar geboren, er spielte für
deutscheJunioren-Auswahlteams, ent-
schied sich dann aber für dasA-Team
der Türkei.Auch Tosun überreichte im
Mai 2018 Erdogan einTrikot seines
Klubs, der junge Mann spielt ebenfalls
in der Premier League, für Everton.
Wenn Löw allerdings nun glaubt,
dass Gündogan «die Antwort auf dem
Platz» gegeben hat, so lässt sich fest-
halten: DieFrage, die sich stellt, näm-
lich ob Gündogan einfach nurgedan-
kenlos auf denTouchscreen getippt hat
oder ob er nicht doch insgeheim mit der
Invasion in Nordsyrien sympathisiert,
die ist mit sportlichen Mitteln in Gestalt
zweierTore und einerVorlage nicht zu
beantworten. Zumal GündogansAus-
kunft, «das Letzte», was er nach seinen
Erfahrungen im vergangenenJahr wolle,
sei es, eine politischeAussage zu tätigen,
wachsweich ist. Cans Bekenntnis zum
Pazifismus kann da als eine wesentlich
deutlichere Distanzierung verstanden
werden.
«Überzeugungstäter»
Zwar wundertesich Gündogan, dass die
Sache amTag des Spiels thematisiert
wurde, doch man darf sich fragen, ob
es sich dabei bloss um Naivität handelt.
Angesichts derVorgeschichte Gündo-
gans ist dieVermutung, er habe imWis-
sen, was er da tut, das Bild mit einem
Like versehen, eher naheliegend als ab-
wegig. Die«Welt» urteiltdemzufolge mit
Blick auf den Mai 2018 scharf: «Seine
halbherzige Distanzierung geschah wohl
aus Opportunismus. Nun zeigt er mit sei-
nem Like, wo er wirklich steht. Er ist ein
Überzeugungstäter.» Die «Frankfurter
Allgemeine» hielt fest: «Auch dieFra-
ge n, wem vor allem Gündogans Loyali-
tät gehört – Deutschland oder/und der
Türkei –,kehrten wieder zurück in eine
teilweise abgründige Diskussion.»
Noch aber ist das tiefe Niveau des
vergangenenJahres nicht erreicht. Der
Match derTürken gegen Albanien be-
schäftigt aber mittlerweile die Uefa, die
Ermittlungen aufnehmen will – nicht
gegen Emre Can und Ilkay Gündogan,
sondern gegen den türkischenFuss-
ballverband wegen einer weiterenAuf-
nahme:Auf dieser salutieren sämtliche
türkischen Nationalspieler nach ihrem
Sieg gegenAlbanien.DieRegelnvon
Fifa und Uefa untersagen Aktionen mit
politischer Bezugnahme. Auch inFrank-
reich, Gegner derTürkei in der EM-
Qualifikation, beschäftigt derFussball
Politiker: AussenministerJean-Yves Le
Drian verzichtetdarauf,gegen dieTür-
kenauf derTribüne des Stade deFrance
zu sitzen.
IlkayGündogan (Mitte) spielt am Sonntag so gut wie nochnie im Nationalteam–ausgerechnet. RAUL MEE/AP
Der Retter der Squadra Azzurra
Mit 20 Jahre n behauptet Gianluigi Donnarum ma seinen Platz im Nationalteam – ein alles überragender Goalie ist ab er nicht aus ihm geworden
TOM MUSTROPH, MAILAND
Geradeeinmal20 Jahre zählt Gianluigi
Donnarumma, und doch ist der Goa-
lie bereits einVeteran.148 Pflichtspiele
in der SerieAhat er absolviert und 15
Länderspiele fürItali en. Einst adelte ihn
der grosse Gianluigi Buffon: «Er hat das
Talent, um eine Epoche zu prägen.»
Von einer Ära mag man noch nicht
sprechen, aber am Samstag gegen Grie-
chenlandrett ete Donnarumma immer-
hin die Squadra Azzurra. Als «Parade
Marke Playstation» feiertedie «Gaz-
zetta dello Sport» die Art undWeise, in
der die linke Hand desTorhüters her-
vorschnellte und den straffen Schuss von
Dimitrios Limnios parierte. Die knapp
60 000 Zuschauer imRömer Olym-
piastadion schnauften durch. Dennfür
einen Moment waren dieDämonen der
Vergangenheit wieder quicklebendig.
WiebeimVerpassen der WM-Endrunde
2018 gegen Schweden schien Italien
wieder einmal nicht in derLage, einen
schwächeren Gegner zu bezwingen.
Donnarummas Hand verscheuchte die
Albträume. Italien gewann 2:0 und qua-
lifizierte sich vorzeitig für die EM 2020.
DieParade gegen Limnios war eine
typische aus DonnarummasRepertoire.
Auf der Linie ist er extremreaktions-
schnell undfür seine Grösse ausser-
ordentlich beweglich. Sehenswert sind
auch seine Flugübungen. Mit ihnen hat
er seinem HeimklubAC Milan manchen
Punkt gerettet.Aber beim Herauslaufen
macht er häufigerFehler.
Fehlgriffe gegenTorino
GegenPescara fing er sich einst ein
Eigentor ein. GegenTorino verschätzte
er sich jüngst zwar einmal folgenlos,
doch mit dem Match gegen den klei-
nen Klub ausTurin wurde es dennoch
ein schwarzerTag für den Mann mitder
Nummer 99. Nachein emWeitschuss
Andrea Belottis tauchte er zu spät in
die Ecke. Einen weiteren Schuss liess er
abprallen. Belotti staubte ab, drehte den
Match. Milans Krise verschärfte sich –
auch wegen Donnarumma.
Besonders bitter für den Keeper
war, dass auf der Gegenseite Salva-
tore Sirigu fehlerfrei hielt. Sirigu, zwölf
Jahre älter als Donnarumma, ist des-
sen ärgster Rivale in der Nationalmann-
schaft.Er kam schon auf 22 Einsätze –
die meisten davon erfolgten allerdings,
bevor der Stern Donnarummas aufging.
Sirigu galt lange als Erbe Buffons. Er ist
auf der Linie etwas weniger spektakulär
als Donnarumma, verhält sich beim Her-
auslaufen aber überlegter und hält auch
mehrBälle fest. Sirigus Befürworter in
den Medien übten zunehmend Druck auf
den NationaltrainerRoberto Mancini aus.
Rückenwind verlieh ihnen, dass Donna-
rumma am letzten Spieltag vor der Natio-
nalmannschaftspause passen musste. Die
Ärzte gaben Magenprobleme beimAuf-
wärmen als Grund an. Spötter meinten,
der sensibleJüngling hätte dem psychi-
schen Druck nicht standgehalten.
All diesenQuerelen zumTrotz hielt
Mancini an Donnarumma fest. «Auf die-
ser Position haben wir garkein Problem.
Wir haben vier, fünf gleichwertigeKee-
per, die ich alle ohne Qualitätsverlust
bringen kann», sagte er – und gab dem
jüngsten denVorzug.
Grösse in der Kabine
Rückschläge hat Donnarumma also
schon hinnehmen müssen.Aus dem
einstigenWunderkind ist bisher nicht
der Überkeeper geworden, den manche
in ihm sehen wollten, als er mit erst 16
Jahren sein Serie-A-Debüt gab und in
der Folgezeit einenJungmänner-Rekord
nach dem andern brach. Aber Donna-
rumma hat seinexzellentes Niveau ge-
halten und es vor allem im Spielmit dem
Fuss auch verbessert.
Trotz seinerJugend ist er auch in
der Kabineeine Grösse. «SeinWort
hat Gewicht bei seinen Mitspielern. Er
lebtFussball und hat den Milan-Geist
in sich», lobte ihn der Manager Zvoni-
mir Boban. Inzwischen allerdings muss
Boban um seine Kabinengrösse ban-
gen.Das Tauziehen um dieVertrags-
verlängerung hat begonnen. Donna-
rummas Manager MinoRaiola forderte
einen neuenVertrag mit 8 statt6Mil-
lionen EuroJahreslohn. Milankonterte
kühl mit einem Angebot von nur4Mil-
lionen.Jetzt musst Donnarumma be-
weisen, dass er auch nervlich zugelegt
hat, dass er zum gestandenen Profi ge-
reift ist. BeimVertragspoker vor zwei
Jahren liessen seine Leistungen prompt
nach.Aber damals war er gerade einmal
volljährig. Jetzt ist er 20, der Flaum ums
Kinn ist zu einem echtenBart gewor-
den. Er sollte auch verdauenkönnen,
dass am Dienstag gegen Liechtenstein
wohl Sirigu im Kasten steht.
Die Distanzierung
Gündogans war zweifel-
los nötig – und keine
einzige Minute zu früh.