Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1
I

m Vergleich mit anderen poli-
tisch aufstrebenden oder be-
reits erfolgreichen jungen
Frauen ist Lucie Hammecke
anders: ruhiger, zurückhaltender,
bedachter. Lilly Blaudszun (18)
von den Jusos inszeniert sich mit
manchmal überbordender
(Selbst-)Ironie bei Twitter. „Fri-
days-for-Future“-Kopf Luisa
Neubauer (Grüne, 23) lenkt auf
Podien und in Talkshows mit
Pointenfeuerwerken und gern
auch Frontalangriffen die Auf-
merksamkeit auf sich. Hammecke
dagegen steht beim Landespar-
teitag der Grünen in Sachsen am
Samstag auf der Bühne und liest
eine vorher detailliert ausgear-
beitete Rede von vier kleinen No-
tizzetteln fast wortgetreu ab.

VON CURD WUNDERLICH

WWWährend andere Landtagsab-ährend andere Landtagsab-
geordnete zuvor händeschüttelnd
durch den Saal in Leipzig laufen,
sitzt Hammecke in der letzten
Reihe und schreibt ihre Rede ein-
mal auf. Und dann noch ein zwei-
tes Mal in Schönschrift. Jedes
WWWort soll sitzen. Die 23-Jährigeort soll sitzen. Die 23-Jährige
nimmt sich zurück – unterschät-
zen sollte man sie deshalb nicht.
Ohne die junge Frau zu spre-
chen, könnte man sie für noch
zwei, drei Jahre jünger halten.
Das weiße T-Shirt mit buntem
„Female“-Aufdruck und der grau
karierte Blazer darüber symboli-
sieren die zwei Welten, zwischen
denen Hammecke gerade hin-
und herpendelt, sich auch noch
ein bisschen überlegt, wohin sie
besser passt: die Party- und De-
mofreizeit einer jungen Grünen
oder der von Diskussionen und
Kompromissen geprägte realpoli-
tische Alltag einer Abgeordneten.
Seit Anfang Oktober sitzt sie als
Jüngste im sächsischen Landtag.
„Ich überlege manchmal, ob ich
im schwarzen Blazer und Bluse
Bahn fahre, damit man mir eher
glaubt, dass ich Abgeordnete bin“,
erzählt sie am Rande des Parteita-
ges im mondänen „Park Hotel“ in
Leipzig. Als Mitglied des Landta-
ges darf Hammecke kostenlos
Bahn fahren, in ganz Sachsen und
bis Berlin. In ihren eigentlichen
Klamotten würde ihr doch erst-
mal keiner glauben, dass sie ge-
wählte Abgeordnete ist, meint sie.
Das könnte auch daran liegen,
dass sie sich lieber in die zweite
Klasse setzt, obwohl sie die erste
Klasse nutzen dürfte. Sie fühle
sich da einfach wohler, sagt
Hammecke. Es zeigt aber vor al-
lem, dass sie sich über vieles Ge-
danken macht. „Vielleicht bin ich

noch etwas unsicher“, fragt sie
mehr, als dass sie es sagt. Dabei
dürfte der eigentliche Grund für
ihren freiwilligen Luxusverzicht
darin liegen, dass sie sehr auf so-
ziale Gerechtigkeit und Gleich-
heit achtet.
Gleichheit ist sowieso dasThe-
ma für die gebürtige Magdebur-
gerin, die 2016 fürs Studium nach
Sachsen zog. Mitglied ihrer Partei
wurde sie nach der Bundestags-
wahl 2017 nicht etwa primär we-
gen der Klimapolitik, sondern
weil sie nach den „erschrecken-
den Ergebnissen der AfD“ im Os-
ten „heftig was ändern“ wollte –
und in den Grünen gesellschafts-
und sozialpolitisch die einzig
wirklich progressive Kraft sah.
Sie will die Hartz-IV-Sanktionen
ersatzlos abschaffen, eine höhere
Frauenquote für Führungsposi-
tionen im öffentlichen Dienst per
Gesetz erzwingen und keine neu-
en sicheren Herkunftsstaaten für
Migranten definieren.
AAAlles Themen, die auch und ge-lles Themen, die auch und ge-
rade in Ostdeutschland kontro-
vers diskutiert werden. Bei der
Frage, wie sie als Nachwende-Ge-
borene Ostdeutschland und die
Ostdeutschen sieht, wird Hamm-
ecke nachdenklich: „Früher gab es
fffür mich diesen Unterschied zwi-ür mich diesen Unterschied zwi-
schen West und Ost eigentlich gar
nicht“, sagt sie. „Aber mittlerwei-
le habe ich gemerkt: Etliche Men-
schen begreifen sich als Ostdeut-
sche.“ Das mache sie schon allein
daran fest, dass im Osten viel
mehr Menschen AfD wählten als
im Westen. Ob das daran liegen
könnte, dass ostdeutsche Belange
bei bundespolitischen Entschei-
dungen zu wenig berücksichtigt
wwwürden? „Das weiß ich nicht“,ürden? „Das weiß ich nicht“,
sagt Hammecke geradeheraus.
„„„Weil ich gar nicht sagen kann,Weil ich gar nicht sagen kann,
was ostdeutsche Belange sind.“
Sollte jemand, der spontan
nichts über ostdeutsche Belange
weiß, Landtagsabgeordnete in
Sachsen werden? „Warum nicht?“,
fffragt Hammecke erst nur zurück.ragt Hammecke erst nur zurück.
Es sei kein Frevel zuzugeben, dass
man über gewisse Fragen erst
noch nachdenken müsse. Ein Ein-
geständnis, dass sie von vielen an-
deren Berufspolitikern abhebt,
die, wenn sie keine Antwort wis-
sen oder geben wollen, um die
Frage herumlavieren. Doch diese
Frage arbeitet in Hammecke. –
Gut 20 Minuten später kommt sie
im Gespräch unvermittelt auf das
Thema zurück. Sie wolle dazu
jetzt noch was sagen: „Es gibt ja
viele junge Menschen wie mich,
die nach der Wende geboren und
nie mit der DDR in Kontakt ge-
kommen sind.“ Die seien ein ge-

nauso relevanter Teil der Gesell-
schaft wie die Generation ihrer
Eltern – und dürften daher genau-
so politisch partizipieren, auch
wenn sie nicht so scharf zwischen
Ost- und Westdeutschland unter-
scheiden würden.
Dadurch dass Hammecke es als
Jüngste in den Landtag geschafft
hat – bei der Wahl und bis vor ei-
ner Woche war sie noch 22 –, wird
sie für andere junge Menschen,
vor allem Frauen, zum Vorbild.
Auf Instagram nimmt sie ihre
Follower mit in den Alltag einer
Berufspolitikerin. „Weil viele sich
gar nicht richtig vorstellen kön-
nen, was man da so den ganzen
Tag macht.“ Das wolle sie ändern


  • und stoße damit auf viel positi-
    ve Resonanz. Andere junge Politi-
    ker, insbesondere Grüne, hätten
    sich bereits bei ihr gemeldet, ge-
    fragt, wie sie das alles so jung ge-
    schafft habe.
    Hammecke erzählt das alles
    mit leiser, aber fester Stimme. Die
    2 3-Jährige denkt so schnell wie sie
    redet – und das ist sehr schnell.
    Nicht alle Sätze sind dadurch
    grammatikalisch druckreif, inhalt-
    lich sitzen sie aber immer. Drei-
    mal sagt sie: „Das haben andere
    schon so viel klüger gesagt als
    ich.“ Eine sympathische Selbster-
    kenntnis, die aber auch Unsicher-
    heit zeigt. Dabei hätte Hammecke
    die gar nicht nötig. Denn im Zwie-
    gespräch ist da plötzlich das Cha-
    risma, das auf der Bühne auf dem
    Parteitag in Leipzig, wo sie ihre
    Rede vorlas, noch fehlte: ausla-
    dende Gesten, herzliches Lachen,
    smarte Nachfragen.
    Die sächsischen Grünen ent-
    schieden sich am Samstag in
    Leipzig für die Aufnahme von Ko-
    alitionsverhandlungen mit der
    CDU um Ministerpräsident Mi-
    chael Kretschmer und der SPD.
    Die Euphorie über das beste je in
    Sachsen eingefahrene Ergebnis
    (8,6 Prozent, 12 Sitze) war da
    längst verflogen. Die Sondie-
    rungsergebnisse ließen viele er-
    nüchtert zurück: Zu wenig hatte
    sich der besonders konservative
    sächsische CDU-Landesverband
    in den Augen vieler bewegt.
    So sieht das auch Marie Müser,



  1. Sie ist Mitglied der Grünen Ju-
    gend in Leipzig. Eine rot-rot-grü-
    ne Koalition wäre ihr deutlich lie-
    ber gewesen, Kenia – also
    Schwarz-Rot-Grün – sei nicht
    mehr als eine „realpolitische Not-
    wendigkeit“. Eine von allen betei-
    ligten Parteien gewollte Koalition
    ohne die CDU ist nach der Wahl
    in Sachsen rechnerisch unmög-
    lich. Müser und andere Junggrü-
    ne, wie der Leipziger Quentin


Lucie Hammecke sitzt seit 1. Oktober als jüngste Abgeordnete


im Sächsischen Landtag. Sie nimmt sich zurück – unterschätzen


sollte man sie deshalb aber nicht


2 3 Jahre alt, grün,


bildet Regierung


30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019


GRUPPENVERGEWALTIGUNG


Freiburger Gericht


nennt Vorstrafen


Die meisten der elf im Fall der
Freiburger Gruppenvergewalti-
gung angeklagten Männer sind
schon wegen früherer Verbre-
chen mehrfach mit dem Gesetz
in Konflikt gekommen. Es gebe
umfangreiche Vorstrafen, sagte
der Vorsitzende Richter Stefan
Bürgelin vor dem Landgericht
Freiburg. Die Mehrzahl der
Männer sei in den vergangenen
Jahren von Gerichten zu Haft-
und Geldstrafen verurteilt wor-
den. Es habe sich dabei unter
anderem um Diebstähle, Sach-
beschädigungen, gefährliche
Körperverletzungen, Nötigun-
gen und Beleidigungen gehan-
delt. Angeklagt in dem Prozess
sind elf Männer von 18 Jahren
bis 30 Jahren wegen Vergewalti-
gung oder unterlassener Hilfe-
leistung. Die meisten von ihnen
sind Flüchtlinge, acht von ihnen
sind in Untersuchungshaft.
Ihnen wird vorgeworfen, vor
rund einem Jahr eine 18-Jährige
nachtsnach einem Diskobesuch
in einem Gebüsch vergewaltigt
oder ihr nicht geholfen zu ha-
ben.


FELSBROCKEN-UNFALL


Unglücksursache


geklärt


Nach dem tödlichen Unfall
durch einen herabgestürzten
Felsbrocken auf der Autobahn
81 in Baden-Württemberg steht
die Unglücksursache offenbar
fest: Der drei Tonnen schwere
Fels sei durch Baumwurzeln in
der Sandsteinbank gelockert
worden und habe sich dadurch
gelöst, berichtete das Radio-
programm „SWR Aktuell“.
„Hinter dem Block ist ein


mächtiges Wurzelwerk gewach-
sen. Weil der Hang mit Jung-
bäumen und Sträuchern dicht
bewachsen ist, war er von unten
nur schwer bis gar nicht ein-
sehbar“, sagte der zuständige
Geologe des Landesamts für
Geologie Baden-Württemberg,
Clemens Ruch, dem Sender. Die
Abbruchstelle befand rund 22
Meter über der Fahrbahn.

AUSTRALIEN

Vier Millionen Euro
für 19 Jahre Haft

Ein Australier, der zu Unrecht
19 Jahre lang im Gefängnis saß,
soll nun eine Entschädigung in
Höhe von 7,02 Millionen aust-
ralischen Dollar (etwa 4,3 Mil-
lionen Euro) bekommen. Das
entschied ein Gericht in Can-
berra. Der 74-Jährige war 1995
wegen Mordes an einem Poli-
zeibeamten zu einer lebens-
langen Haftstrafe verurteilt
worden. Erst 19 Jahre später sei
er freigekommen, nachdem
Zweifel an der Beweislage auf-
gekommen waren.

IRLAND

Stimme kommt
aus dem Sarg

Ein Mann aus Irland hat mit
einer Botschaft aus dem Sarg
für Gelächter bei seiner Be-
erdigung gesorgt. Die Trauer-
gäste am Grab hörten plötzlich
Klopfgeräusche aus dem Sarg
und dann die Stimme des ver-
storbenen Shay Bradley: „Wo
verdammt noch mal bin ich?
Lasst mich hier raus. Es ist
verdammt dunkel hier. Ist das
der Priester, den ich höre? Hier
ist Shay, ich bin in der Kiste!“
Nach anfänglicher Verblüffung
lachten die Trauernden, wie ein
Video zeigte.

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