Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von gottfried knapp

D


er Maler und Bildhauer Henri Ma-
tisse (1869 bis 1954) ist fast von
seinen Anfängen an als radikaler
Neuerer, als frech die akademischen Re-
gelnbrechenderWilderbestaunt,beneidet
und bewundert worden. Vor allem Maler-
kollegen haben sich von seiner spontanen
Experimentierlust zu vergleichbaren Ver-
suchenanregenlassen. JaeineganzeReihe
von jungen Künstlern ist zwischen 1908
und 1910 in Paris direkt bei Matisse in die
Schule gegangen. Was dabei entstanden
ist, könnte man unter dem Stichwort
Matissmus zusammenfassen. In mono-
grafischen Ausstellungen und Katalogen
französischer und deutscher Künstler sind
Bezüge zu Werken von Matisse immer mal
wieder angedeutet worden. Doch wie viele
der später bekannten Maler der Moderne
sich irgendwann, quasi in einer Ver-
beugung, auf den französischen Kollegen
bezogen haben, ist nie zusammenfassend
dargestellt worden.

Die Kunsthalle Mannheim schließt
dieseLücke.SiehatunterdemTitel„Inspi-
ration Matisse“ Gemälde, Skulpturen und
Grafiken des Meisters aus den Jahren 1895
bis 1930 mit vergleichbaren Werken seiner
Verehrer und Schüler in Deutschland und
Frankreichkombiniertundsoeine verblüf-
fend schlüssige und anregende Ausstel-
lung zusammengestellt. Die Schau zeigt,
auf welchem Niveau französische und
deutsche Künstler vor allem in den ersten
Jahrendes20. Jahrhundertsaufdiekünst-
lerischen Provokationen von Matisse re-
agiert haben. Sie lässt aber auch erkennen,
wie sich Matisse, der ewig Suchende, der
seine hochgesteckten Ziele nicht immer
aufdirektemWegeerreichte,vondenWag-
nissen seiner zeitweiligen Mitstreiter zu
eigenen Kühnheiten hat anregen lassen.
Was für die Zeitgenossen frech und neu
war an der Malerei von Matisse, lässt sich
am schönsten zeigen, wenn man vom frü-
hesten Matisse-Gemälde in der Ausstel-
lung ausgeht, vom 1895 gemalten „Atelier
von Gustave Moreau“, das noch nichts
verrätvonden späteren Brüchen.DerAteli-
erraum ist von einem düsteren Einheits-
braun erfüllt, das alle physischen Details
verschlingt. Selbst das nackte weibliche
Modell im Vordergrund wird fast aufgeso-
gen vom braunen Dämmer. Alles, womit
Matisse später als Maler und Grafiker Auf-
sehen erregt hat – kraftvolle Farben und
markante Linien – fehlt hier noch, obwohl
in dem sich drehenden weiblichen Körper
schon eines der späteren Lieblingsmotive
anklingt. Noch ahmt Matisse als Autodi-
dakt brav den Galerieton nach, den die als
Vorbild dienenden alten Gemälde im Lou-
vre zeigten.
Umso imposanter sind die Sprünge, mit
denen sich Matisse aus dem Atelierdäm-
mer befreit hat. Auf einer Korsika-Reise
1898 entdeckt er die leuchtenden Farben
desSüdens,dieerzunächstinPointillisten-
Manier punktweise auf die Leinwand
setzt. Doch bald erkennt er, dass sich die
Wirkung dieser additiven Methode wir-
kungsvoll steigern lässt, wenn die Farbflä-
chen größer werden, ja wenn, wie er später
selbst über diese Arbeiten schreibt, nur
noch wenige „farbige Flächen größter In-
tensität“ nebeneinanderstehen.
Zur Vollkommenheit gebracht hat Ma-
tissediesesPrinzipimJahr1905imFerien-
ortCollioure, als er,quasiim Wettstreitmit
dem Kollegen André Derain, Landschaften
fast nur noch aus den drei Kardinalfarben
Rot, Gelb und Blau flächig zusammensetz-
te. Die in diesem Sommer geschaffenen
Bilder und ihre Schöpfer sind noch im
gleichenJahr bei einer Ausstellung inParis
als „Fauves“ (wilde Bestien) beschrieben
worden. Das hat sich dem Kunstpublikum
soeingeprägt,dassdas Wortbaldschonals
Stilbezeichnung verwendet wurde.

Man kann den Fauvismus als die erste
künstlerische Revolution des 20. Jahrhun-
derts bezeichnen. Die Maler, die sich die-
serBewegunganschlossen–Marquet,Vla-
minck,Dufy,Herbin,Friesz,Braque,Camo-
in–sind,wiedieAusstellungzeigt,ihrenre-
volutionären Anfängen lange treu geblie-
ben, haben also den einmal entwickelten
Individualstilnurgeringfügigweiterentwi-

ckelt. Matisse aber probiert schon nach
den ersten Resonanzen auf diese Stilphase
etwasNeuesaus.Er fängtan,dieabgebilde-
ten Gegenstände im Bild radikal zu abstra-
hieren und auf wenigekräftige Striche und
Flächenzureduzieren, wasauchalsReakti-
on auf Picassos kubistisch freches Treiben
in jenen Monaten gedeutet werden kann.
Picasso hat damals die abzubildenden Ge-

genstände auf der Leinwand immer ent-
schiedener in einzelne Flächen und Kuben
zerstückelt und in einer zweiten Phase aus
denisoliertenTeilensynthetischwiederzu-
sammengesetzt. Matisse reduziert in den
Gemälden dieser Jahre den malerischen
Aufwand auf ein für die Zeitgenossen
manchmal fast schockierendes Minimum.
Im Porträt seiner Tochter Marguerite von

1906 etwa hat er sich auf drei eigentümli-
che Farbtöne beschränkt: Orangebraun
für den Hintergrund, Blaugrün für dieBlu-
se und Rosarot für die Wangenflecken im
Gesicht. Um diesen mechanisch hingepin-
selten Farbflächen Leben einzuhauchen,
arbeitet er mit zeichnerischen Mitteln:
Dunkle Linien trennen die Farbflächen
voneinander und setzen in skizzenhafter
Vereinfachung den Umriss des Gesichts,
die Masse des Haars, die Gesichtszüge und
das Halsband in die quasi abstrakte Kom-
position. Der am oberen Bildrand hinge-
krakelte Name der Tochter hat sogar etwas
Kindliches. Doch gerade diese primitiven
Mittel geben dem Gesicht eine ins Auge
springende Direktheit, wie sie ein male-
risch ausgearbeitetes, koloristisch diffe-
renziertes Porträt niemals erreicht hätte.
Dass Picasso dieses radikal vereinfachte
Bild des Konkurrenten besessen und ge-
schätzt hat, ist also nicht verwunderlich.

Am auffälligsten an diesem Menschen-
bildistaberderVerzichtaufjeglicheRaum-
tiefe. Das Porträt besteht nur aus planen
Flächen und Umrissen, verliert also seine
Plastizität. Die Formen treten in die Fläche
zurück, ordnen sich in ein Muster ein, das
ein räumliches Vorne und Hinten leugnet,
nur noch ein Nebeneinander kennt. Mit
diesem Verzicht auf räumliche Illusion,
mit dieser Gleichstellung aller im Bild-
raum verteilten Elemente und diesem
Bekenntnis zur rein malerischen Ordnung
des Bildgeschehens hat Matisse einen der
wichtigsten Beiträge zur Entwicklung der
modernen Kunst geleistet.
AmliebstenhatMatissedieWirkungsei-
ner antiillusionistischen Einebnungsme-
thode an plastisch besonders ausgepräg-
ten oder räumlich auffällig tiefen Motiven
demonstriert. So haben ihn die Körperfor-
men von Frauen, die auf prallen Kissen
hingebreitet sind, immer wieder zu artisti-
schen Umwidmungen in die Fläche ani-
miert. Und in seinen vielen Interieurs, die
oft durch ein Fenster zusätzlich nach hin-
ten geöffnet sind, bannt er die vielen hin-
tereinander liegenden Schichten so in die
Fläche, dass das Lesen der Komposition
und der in ihr aufeinanderprallenden Grö-
ßenverhältnisse eigenen Reiz entfaltet.
Was aber hat deutsche Künstler des Ex-
pressionismus, die selber schon ein Stück
weit in Richtung Moderne vorgestoßen
waren, am Werk von Matisse fasziniert? Es
war wohl das scheinbar gänzliche Fehlen
eines gestalterischen Systems, die impro-
visatorische Leichtigkeit, mit der Matisse
Neues zu erproben schien, was die stets
heftig an ihrem Individualstil arbeitenden
deutschen Avantgardisten verblüfft und
zu vergleichbar entspannten Versuchen
miteigenenMittelnanimierthat.Sodürfte
Ernst Ludwig Kirchner, der später einen
möglichen französischen Einfluss gerade-
zu verdächtig hartnäckig geleugnet hat,
bei einigen seiner farblich wildesten Akte
von entsprechenden Farbgegensätzen bei
Matisse inspiriert worden sein. Und auch
Max Pechstein kommt in seinen farbpral-
len Darstellungen liegender Frauenkörper
dem Vorbild Matisse immer wieder er-
staunlich nahe.
Die deutschen Maler aber, die bei Ma-
tisse in die Schule gegangen sind, haben in
denvomMeistergeprägtenGenresverblüf-
fend direkt zu sich selbst gefunden. So
könnte man die erstaunlichen Gemälde,
die in dieser Abteilung ausgestellt sind –
die atmenden Stillleben und prangenden
Landschaften von Hans Purrmann und die
malerisch anspruchsvollen Bilder von Ru-
dolf Levy, Mathilde Vollmoeller und Oskar
Moll – als die künstlerischen Erfüllungen
dessen empfinden, was Matisse zuvor
quasi im Vorübergehen angerissen hat.

Inspiration Matisse.Kunsthalle Mannheim. Bis


  1. Januar. Katalog im Museum 29,90 Euro.


EsbrauchtCourage,umes mitAchimFrey-
er,PeterMussbachundRobertWilsonauf-
zunehmen. Von ihnen und anderen Thea-
ter-Granden ist Helmut Lachenmanns
„Mädchen mit den Schwefelhölzern“ be-
reits bearbeitet worden. Seit Freyer 1997
dieUraufführunginHamburgbesorgte,ist
das als „Musik mit Bildern“ ausgewiesene
Multiklangereignis sieben Mal inszeniert
und von Japan bis in die USA konzertant
gespielt worden.
Noch nie aber hat sich ein Choreograf
damit befasst, und noch nie ist es an einem
Schweizer Opernhaus aufgeführt worden.
Bis Helmut Lachenmann den Zürcher
Ballettchef Christian Spuck für die Idee
begeisterte, das „Mädchen“ in Bewegung
zu gießen. So kam es zu einer faszinieren-
den Premiere und einem tief berührenden
Abend. Denn Spuck konkurriert erst gar
nicht mit Freyer, Mussbach und Wilson, er
setzt eigene Akzente.

Gesellschaftskritikübt schondieliterari-
sche Vorlage, das von Hans Christian An-
dersen1845veröffentlichteMärchen.Eser-
zählt vom armen Mädchen, das am Silves-
terabend keine Abnehmer für seine Zünd-
hölzer findet und deshalb eins ums andere
selbst entflammt, bis es zuletzt erfriert.
Statt die Handlung musikalisch nach-
zustellen, dekonstruiert Lachenmann das
Wortgerüst und löst es in Vokal- und Ins-
trumentalströme auf. Da fliegen einzelne

Silben durch den Raum, schnarren, knis-
tern, keuchen und flüstern die Stimmen
der beiden Sopranistinnen und des Chors,
während das Orchester seinen Werkzeu-
gen unerhörte Klänge abringt. Das zwan-
zigJahrealte„Mädchen“entfesseltdieSin-
ne,pendeltzweiStundenlangzwischen De-
lirium und Dynamik und ist ganz auf der
Höhe des 21. Jahrhunderts. Umso mehr,
als Lachenmann das traurige Märchen um
zwei historische Bezüge erweitert hat: Da
istzum einen ein Brief der RAF-Terroristin
Gudrun Ensslin. Zum anderen eine Passa-
ge von Leonardo da Vinci, die um die ewige
Zerrissenheitdes Menschen zwischen Ver-
langen und Furcht, Erkenntnisdrang und
Selbstschutz kreist. Was aber kann der
Tanz mit solchen Kalamitäten anfangen?
Helmut Lachenmann hat enormes Ge-
spür bewiesen, als er sich mit Christian
Spuck zusammentat. Seit seinen Anfän-
gen als Stuttgarter Hauschoreograf ist der
gebürtige Marburger ein Mann der Bilder,
dessen Fantasie sich an den Fabeln der
Romantik, an E.T.A. Hoffmanns „Sand-
mann“ oder Franz Schuberts „Winterrei-
se“entzündet.Dafürhaterden„PrixBeno-
isde laDanse“,denOscarderTanzwelt,be-
kommen und von Zürich eine Vertragsver-
längerung bis 2025. Er liest „Das Mädchen
mit den Schwefelhölzern“ als politische
Parabel, ja als Reminiszenz an den linken
Terror der RAF und an Gudrun Ensslin.
Die Perspektive steht dem Publikum vor
Augen,kaumdassLichtin denBühnenkas-
ten von Rufus Didwiszus fällt. Dessen
Rückwand zeigt, als Negativrelief, die Zer-
störung nach dem Kaufhausbrand in
Frankfurt, mit dem 1968 der kriminelle

Terror begann. Vor diesem Hintergrund
choreografiert Spuck die ersten Szenen,
die den Irrlauf des Mädchens nachzeich-
nen: seine Begegnung mit einer selbst-
süchtigen Protzgesellschaft, mit einer
gewalttätigen Jugendgang (in Matrosen-
anzügen – einer der wenigen Ausrutscher
desAbends)undschließlichseine abgrund-
tiefe Einsamkeit.
Spuck besetzt das Mädchen – analog zur
Sopranpartie–als Doppelfigur.Zwei junge
Tänzerinnen, Emma Antrobus und Mi-
chelle Williams, bringen die geschundene
Seele dieses jugendlichen Menschenkin-
des zum Leuchten.

Von eisiger Kälte ist der Aufritt, der die
nächsten Bilder überstrahlt und mit einer
FrostschichtbundesdeutscherVergangen-
heit überzieht. Die Ballerina Katja Wün-
sche ist Gudrun Ensslin – im Uschi-Ober-
maier-Look, oben ohne, unten superkur-
zer Mini über Plateaustiefeln.
Spuck überblendet nicht nur Kommu-
nardinundTopterroristin,zweiIkonen der
Siebzigerjahre. Vielmehr zeigt er, wie viel
Selbstüberhebung und -stilisierung im
patriarchalen RAF-Milieu unterwegs war.
Was nichts daran ändert, dass die Ensslin-
Zitate, die Lachenmann in die Akustik-
schleifen hineinmontiert hat, Bedenkens-

wertes enthalten, nachvollziehbare Kritik
am Status quo einer Welt ohne Mitleid.
Augenblicke später zieht Christian
Spuck die Fäden seiner Inszenierung zu-
sammen und beschert dem Abend einen
Moment, der ihn in die Annalen einschrei-
ben wird. Helmut Lachenmann erscheint
auf der Bühne. Er liest Leonardo da Vincis
Extempore über „Zwei Gefühle“. Schwarz
gekleidete Tänzer ziehen vor und hinter
ihm auf, rücklings zum Publikum schrei-
ben sie Linien in den Raum, verschieben
ihre Körper zu abstrakten Gebilden, zu
Gestirnen, die den menschlichen Gefühls-
kosmos bewohnen. Bis Katja Wünsche
alias Gudrun Ensslin sich aus dem Dunkel
schält. Die Frau, die zum mörderischen
„Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wur-
de. Die Tänzerin, die der Toten ein Gesicht
gibt und sie wieder lebendig macht. Ver-
gangenheit und Gegenwart, Kunst und Le-
ben, Imagination und Wirklichkeit fallen
zusammen. Für einen Ewigkeitsfunken.
Präzise bebildert Christian Spuck auch
den Exitus, den Tod des Mädchens. Keine
Großmutter nimmt es mit sich in den
Himmel. Stattdessen flimmern Bilder von
Kriegstotenüber dieWände,Leichenunter
Schneemassen, die Hände zu Klauen ge-
krümmt – Leningrad im Winter 1942. Die
deutscheSchuldalseinMotivdesRAF-Ter-
rors heraufzubeschwören, ist der Schluss-
punkt einer konsequenten Inszenierung.
Die Tänzer, die Musiker, der Dirigent Mat-
thias Hermann, die Sängerinnen Alina
Adamski und Yuko Kakuta sowie die Bas-
lerMadrigalisten habendasBesteerreicht:
einTanzoratorium,dasseinesgleichender-
zeit nicht hat. dori on weickmann

Fundstücke, Raritäten nicht nur der


Musik,können zu Kostbarkeiten wer-


den. Sie schärfen die Wahrnehmung für


das Seltene oder gefühlt Abseitige. Rou-


tine muss vermieden werden, Abnut-


zung des allzu Geläufigen. Das hat gera-


de bei den großen Komponisten seinen


Reiz, so bei Beethoven, in dessen nach


Opuszahlen geordnetem dicken Schaf-


fenskatalog auch all die nummerierten


„Werke ohne Opuszahl“ (WoO) aufgelis-


tet sind – Jugend-, Gelegenheits- und


Nebenwerke, denen Beethovens Nach-


welt die Bekenntnisgröße verweigerte.


Das anstehende Beethoven-Jahr bietet


Gelegenheit zum Ausgraben rarer Musi-


ken des Meisters aus Bonn. Wer hat


gewusst, dass es neben den bekannten


fünf KlavierkonzertenBeethovens


„Nulltes“in Es-Dur gibt, das WoO4 des


14-Jährigen.Mari Kodama und Kent


Naganohaben die knapp halbstündige,


pubertär-frische Talentprobe mit dem


Deutschen Symphonie-Orchester Ber-


lin aufgenommen. Dreisätzig prunkt


das Konzert mit längst nach vorn drän-


gendem Erfindungspotenzial und star-


kem, wenngleich noch eng an Patrone


wie Haydn und Mozart orientiertem


Ehrgeiz. Nach dem pointiert graziösen


Larghetto sprudelt das Rondo-Allegret-


to nur so vor virtuoser Laune. Form und


Timing werden schon gesteuert. Als


„Zugaben“ musizie-
ren Kodama und
Nagano sorgfältig
und belebt Beetho-
vens fünf Klavier-
konzerte sowie das
Tripelkonzert (Ber-
lin Classics).

AuchSophie-Mayuko Vetterhat Beet-


hovens Klavierkonzert Nr.0 neu aufge-


nommen, mit den von Peter Ruzicka


dirigierten Hamburger Symphonikern:


Auf einem historischen Hammerflügel


liefert sie ein transparentes, leichtgängi-


ges Spiel. Glänzen will die Pianistin


aber mit einem Fundstück der besonde-


ren Art, dem hier erstmals eingespiel-


tenBeethoven-Klavierkonzert Nr. 6,


in D-Dur, einem von Nicholas Cook


1987 eingerichteten, von Hermann De-


chant ergänzten Fragment. Erhalten


sind 70 Seiten Skizzen zu einem Allegro-


Kopfsatz, heißt es, sogar ein Partitur-


Autograph (Staatsbibliothek Berlin).


Warum der Komponist 1814 ein sechst-


es Klavierkonzert nicht beendet hat,


erschließt sich beim Hören: Die Noten


zeigen „Anzeichen von Unentschlossen-


heit oder Unzufriedenheit“ (Booklet).


Eine routinierte
Virtuosität ist in
dem imposanten,
doch seltsam zer-
fahrenen Entwurf
Beethovenschen
Zugriffs nicht zu
leugnen (Oehms).

Wenige dürften dasKlavierkonzertin


a-Moll vonIgnaz Jan Paderewski


(1860–1941) kennen. Der weltberühmte


Pianist, Komponist und Politiker, Po-


lens erster Ministerpräsident nach dem


Ersten Weltkrieg, komponierte das


reißerische Stück, sein Opus17, in den


Achtzigerjahren des 19.Jahrhunderts.


Claire Huangci, die junge Amerikane-


rin chinesischer Abstammung unter-


zieht sich der exzentrischen Aufgabe


mit der nötigen Brillanz. Sie und die


Deutsche Radio-Philharmonie, dirigiert


von der Koreanerin Shiyeon Sung, füh-


ren die pompöse Gestik des Kopfsatzes


massiv ins Feld, die sprungbereit rasen-


den Passagen des Vivace-Finales. In der


sinnierenden Romanza entfaltet sie


feinsinnig schöne Lyrismen. Huangci


wählte als „Rausschmeißer“ den ande-


ren großen Polen: Chopin, das Klavier-


konzert in e-Moll. Die leicht behäbigen


Grundtempi lassen
das vehemente und
durchgehend poe-
tisch artikulierte
Musizieren der
Pianistin nicht
verkümmern (Ber-
lin Classics).

„Mit Heinz über ein neues Werk zu


sprechen war schwierig“, erinnert sich


Dennis Russell Davies, jener Dirigent,


der die fünfSymphoniendes Kompo-


nistenHeinz Winbeck(1946–2019)
aufgeführt hat. Denn „für Heinz war


das Komponieren eine Auseinanderset-


zung mit Leben und Tod“. Solche Musik


zu hören bietet sich jetzt die Gelegen-


heit – lohnend, weil hier ein komponie-


render „Unzeitgemäßer“, der aus Nieder-


bayern stammte und in München von


Wilhelm Killmayer auf seinen Weg


geführt wurde, zur eigenen schwierigen


Individualität gefunden hatte, befreit


von allen musikalischen Moden oder


Dogmen der Zeit. Winbeck bezog seine


Kraft aus Anton Bruckners kathedral-


hafter Symphonik: Aus Bruckners Skiz-


zen zum Finale der unvollendeten Neun-


ten baute er seine eigene große Fünfte,


die mit Glockenschlägen beginnt und in


quaderhafter Architektur, Misterioso-


Geisterbeschwörung und monumenta-


len Schüben endet. Ihr Untertitel „Jetzt


und in der Stunde des Todes“. Das Deut-


sche Symphonie-Orchester Berlin unter


Russell Davies ist zur Aufbietung aller


Kraftreserven bereit. Drei weitere Or-


chester bestreiten
die charakteristi-
schen Symphonien
1-4 – Heinz Win-
becks klingendes
Erbe (TYXart).
wolfg ang
schreib er

Die rosarote Tochter


Der Autodidakt Henri Matisse ist einer der großen Anreger seiner Epoche.


Eine Ausstellung der Mannheimer Kunsthalle folgt seinen Spuren


In den Interieurs prallen


die Größenverhältnisse


unvermittelt aufeinander


Ewigkeitsfunken


Faszinierendes Tanzoratorium: Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird in Zürich zur politischen Parabel


Der Maler ließ sich von den


Wagnissen seiner Mitstreiter zu


eigenen Kühnheiten anregen


Ein Abend mit dem
einen Moment, der in die

Annalen eingehen wird


10 HF2 (^) FEUILLETON Dienstag, 15.Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH
Zwei Gemälde von Matisse:
„Stillleben mit Skulptur und
Efeuvase“ (oben), und Porträt
der Tochter „Marguerite“. Im
Jahr 1910 wurden Matisse und
seine Schüler Weisgerber und
Purrmann im Münchner
Löwenbräukeller fotografiert.
FOTOS: SUCCESSION H. MATISSE / VG BILD-
KUNST BONN 2019. HANS-PURRMANN-ARCHIV
Katja Wünsche ist Gudrun Ensslin – im Uschi-Obermaier-Look.FOTO: GREGORY BATARDON
KLASSIKKOLUMNE

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