Wolf-DieterNarrverstarbamvergange-
nen Samstagim Alter von 82 Jahren
nach langer Krankheit, die ihm zuletzt
dieBewegung unddasSprechenschwer
gemacht hatte. Aber nicht das Denken,
und so blieb sein Zorn erhalten über die
Verhältnisse,indenenBürger-undMen-
schenrechte mit Füßen getreten wer-
den.Das„KomiteefürGrundrechteund
Demokratie“, das er 1980 mit anderen
gründete, war sein Kind. Narr war als
Kind noch Zeitzeuge der Nazi-Diktatur,
politisch sozialisiert im Studentenkon-
gressgegenAtomrüstungsowieimSozi-
alistischenBüro. Das„SB“warein kam-
pagnenstarkes Sammelbecken undog-
matischer Linker. Die Anti-Parteien-
Partei, in der neben ihm Gleichaltrige
wieOskarNegt,UrsulaSchmiederer,An-
dreas Buro, Elmar Altvater und Klaus
Vack den Ton angaben, war eine Art lin-
kes Akademikerparlament, offen für
die Vielzahl der in den 1960er Jahren
entstandenen sozialen Bewegungen.
An der Hochschule und der etablier-
ten Politikwissenschaft störte ihn vie-
les. Besonders in Erinnerung geblieben
ist, wie Narr mit seinem Kollegen Peter
Grottian 1985 auf ein Drittel ihres Ge-
halts verzichtete, um eine Professur für
Frauenforschung zu finanzieren – und
die Ausreden der Hochschulverwaltun-
gen und der Kollegen, als wir anregten,
es ihnen andernorts gleichzutun. Narr,
der von 1971 bis 2002 am Otto-Suhr-In-
stitut (OSI) der Freien Universität Berlin
lehrte, war Studierenden und Genossen
sehr zugetan, doch wenn er etwas für
falsch hielt, bekam man seinen Dissens
wortmächtig zu spüren. So war es eine
Lust, den Disput mit ihm auszutragen.
Einig waren wir uns in der Bewunde-
rung für Albert Camus und bei aller
Herrschaftskritik in der Notwendigkeit
der Stärkung des institutionellen Rück-
grats der Demokratie, der Grundrechte,
namentlich der Versammlungsfreiheit.
Ebenso ärgerten ihn Zustände in
psychiatrischenAnstaltenundin Unter-
künften von Geflüchteten. Die Liste der
Interventionen in den öffentlichen Dis-
kurs ist lang und das Meiste im Internet
zugänglich; der Titel seines letzten,
2012 erschienenen Buchs „Trotzdem:
Menschenrechte! Versuch, uns und an-
derennachnationalsozialistischerHerr-
schaft Menschenrechte zu erklären“
könnte das Lebensmotto dieses radika-
len politischen Unternehmers gewesen
sein. cla us leggewie
Wir befinden uns im Jahre 2019 n.Chr. In
ganz Gallien kämpfen die Frauen um
Gleichberechtigung. In ganz Gallien? Nein!
Im Dorf der Männerfreunde A.undO. ist
das Geschlechterverhältnis noch so, wie es
vor 60 Jahren zur Ge-
burtvon„Asterix“ war.
Im Jubiläumsjahr soll
dasanderswerden.Ad-
renalineheißtdieTeen-
ager-Heldin des neuen
Bandes „Die Tochter
desVercingetorix“,des-
sen Cover(ABB.: ASTERIX®
–OBELIX® –IDEFIX®/©2019 LES ÉDI-
TIONS ALBERT RENÉ/EGMONT
EHAPA)und Handlungsdetails am Montag in
Paris präsentiert wurden. Der Band, der
am 24.Oktober erscheint, ist der vierte des
neuen Autoren-Duos Jean-Yves Ferri
(Text) und Didier Conrad (Zeichnungen),
die die Verjüngung von „Asterix“ nun im
gallischen Dorf selbst thematisieren. kno
von anna f ast abend
H
erbert Fritsch ist ein Schlitzohr.
Nach anderthalb Stunden meister-
lich zubereitetem Theaterspaß un-
terlegen seine beiden Musiker, der Haus-
und Hofkomponist Ingo Günther und die
Percussionistin Taiko Saito, den Applaus
miteiner treibenden Melodie, diewie beim
Grand Finaleim Zirkus schneller wird,und
alle klatschen schneller mit. Das sei jetzt
ein riesiger Erfolg gewesen, soll das wohl
heißen,undalsdannnocheinPaketaufge-
rissen wird und der Regisseur heraus-
schlüpft, gibt es kein Halten mehr. Klar,
die Schauspieler lieben ihn, weil sie Faxen
machen dürfen, und das Publikum liebt
ihn, weil sie Faxen sehen dürfen und sich
dabei nicht schämen müssen wie bei einer
schnöden Stand-up-Comedy. Aber man
fühlt sich nach der Premiere von „Amphi-
tryon“nachMolièreanderBerliner Schau-
bühne auch ein wenig zwangsbespaßt.
Jedes Haus braucht seinen Pausen-
clown, wobei damit nicht gemeint ist, dass
HerbertFritschundseinFaxenmacher-En-
semblenurBlödsinnmachenum desBlöd-
sinns Willen. Quatschmachen hat immer
aucheineausgleichende,jafriedensstiften-
deFunktion,weilsoeinintellektuellerHau-
fen wie ein Theaterbetrieb ansonsten ver-
mutlich implodiert. „Amphitryon“ aber
sei, nach drei vorherigen Arbeiten, die
wohl letzteArbeitdesVolksbühnenvertrie-
benenanderSchaubühne,hörtmanvorBe-
ginn. Nicht, weil etwas vorgefallen sei,
aber die Zusammenarbeit zwischen Haus
undKünstlerseibeendet,undetwas Neues
in Berlin habe Fritsch noch nicht.
Da ist es gut, dass mit Joachim Meyer-
hoffeinneuerPausenclownansTheaterge-
kommenist,denktmansich.Demvormali-
gen Burgschauspieler eilt allein durch sei-
ne vier autobiografischen Bestseller ein
Ruf voraus. Meyerhoff ist einer, der dem
größten Schlamassel einen komischen An-
strich geben kann. In einem Interview mit
demStandardspricht Meyerhoff davon,
dass er sich auch ein Projekt ohne Regis-
seur vorstellen kann – womit man ihn
auch als konsequente Weiterentwicklung
von Fritsch begreifen könnte. Erst kommt
derRegisseur,dannderSchauspielerregis-
seurFritsch,dannderSchauspieler Meyer-
hoff, der es ohne Anleitung machen will.
Dashättebestimmtauchbei„Amphitry-
on“ gut funktioniert, dieser klassischen
Verwechslungskomödie, in der sich Moli-
ère zum einzigen Mal einen antiken Stoff
vornahm.Nachdem er wegen seines religi-
onskritischen„Tartuffe“Problemebekom-
menhatte,habeereinbisschenwenigeran-
spielungsreich texten wollen, heißt es.
So ist diese 1668 in Paris uraufgeführte
Komödie schnell erzählt: Der Gott Jupiter
hat es auf die schöne Alkmene abgesehen
und gibt sich als ihr Gatte Amphitryon aus.
Immeranseiner Seitesein GehilfeMerkur,
dersotut,alsober AmphitryonsDienerwä-
re. Als die beiden Originalmänner aus dem
Krieg heimkehren, ist das Chaos perfekt,
und es passiert, was bei Fritsch-Abenden
immer passiert: Der große Klamauk geht
los, der aber zugleich auch eine Überbie-
tungsspirale der Schauspielkunst ist, und
das wirkt im Zuschauersaal ein bisschen
anstrengend.
Das Kostümdesign ist natürlich hinrei-
ßend, ein echter Victoria Behr, schrill, ne-
onpinkund orange,barockig,einegelunge-
neMischungausProvinz-KarnevalundHa-
rald Glööckler. Auch die Bühne, wie stets
von Fritsch selbst, kann sich sehen lassen
mitihrenandiealteTheatertraditionange-
lehnten Auf- und Abgängen aus regenbo-
genfarbenen Papiervorhängen, die die Be-
leuchtung in eine glamourös-kitschige
Showbühne verwandelt, nach hinten ver-
jüngt für den dramatischen Auftritt. Die-
ses Bühnenbild kann rascheln, man kann
es abreißen und einer nervigen Figur, wie
Cleanthis, die von Carol Schuler als Lady-
Gaga-Verschnitt interpretiert wird, in den
Mund stopfen.
Großartig wie Klavier und Schlagwerk
ganz stummfilm-like die Stimmung der
nächsten Szene vorgeben: So wirkt das Fi-
gurenensemble mal wie in einem Rosa-
munde-Pilcher-Set und mal wie in einem
vonJamesBond.DieSchauspielerinterpre-
tierendieSzenenvöllig frei,gebensichmal
als perverser Priester und Lustknabe, mal
als Bonnie und Clyde, obwohl das mit dem
InhaltnurimEntferntestenzutunhat, was
dem Konflikt eine wunderbare zusätzliche
Ebene gibt. Die Slapsticknummern wer-
den manchmal zu minutenlangen Schat-
tenkämpfen, in denen Bastian Reiber alias
Merkur sämtliche Kampfsportarten vor-
führt. Und die Musikeinlagen bewegen
sich ideal zwischen Herbert Grönemeyer
und Helene Fischer.
Das Dilemma an diesem Schauspieler-
theater der Extraklasse ist aber, dass es
wie ein Wettbewerb wirkt: Wer von den
Darstellenden treibt es am tollsten – und
dies verstärkt durch die Doppelgänger-
schaft? Wer kann den Diener Sosias bes-
ser: Meyerhoff, der ihn im Original spielt,
oder Reiber, der in dessen Rolle schlüpft?
Wer ist der größere Pausenclown? Eindeu-
tig Meyerhoff, werden die einen sagen:
Wie er die Szene mit der ausgedachten
Kriegsstory spielt, mit seinem viel zu lan-
gen Ärmel, den er dabei als Alkmene-At-
trappe benutzt. Oder geht der Sieg eindeu-
tig an den Fritsch-Wiedergänger Reiber?
So dauerbekifft, wie der die ganze Zeit ge-
schaut hat, dieses dicke Engelchen mit der
Ausstrahlung des Tatortreinigers aus dem
Fernsehen oder eines Türstehers vor einer
Dorfdisco.
Und so amüsiert man sich eine Dreivier-
telstunde ganz prächtig. Als sich die komi-
schen Nummern dann aber wiederholen,
schauen die ersten auf die Uhr, den Kra-
nichgabesschonundauchdiesenHampel-
manntanz. Und jetzt? Eingefleischte
Fritsch-Fans stört das natürlich nicht. Die
Zuschauer der Schaubühne werfen zum
Schlussapplaus Rosen auf die Bühne. Sie
liebenFritschundMeyerhoffsehr.Manch-
mal, so scheint es, haben sie schon gelacht,
bevor es richtig losging.
Herrschaftskritik
Zum Tod des Politikwissenschaftlers Wolf-Dieter Narr
Mit dem Schauspieler
Joachim Meyerhoff kommt ein
neuer Pausenclown ans Theater
Es ist ein Nebengestirn zu der vor sieben
Jahren eingeweihten Louvre-Dependance
in der nordfranzösischen Stadt Lens. Nur
ein Steinwurf von jenem eleganten Muse-
umsbau des japanischen Architektenkol-
lektivs SANAA entfernt ist nun das neue
Zentrallager für den Pariser Louvre ein-
geweiht worden. Entworfen wurde es vom
britischen Architekturbüro Rogers Stirk
Harbour+Partners. Ein „Gebäude aus
Landschaft“ nennen es die Architekten. Es
besteht aus einer schiefen Ebene mit
begrüntem Dach, die auf 18500 Quadrat-
metern aus dem Erdboden von Liévin, der
Nachbarstadt von Lens, emporwächst. Die
Hälfte dieses neuen „Centre de conservati-
on“ bietet Lagerraum für die Kunstschät-
ze. Funktional ist der Bau gut durchdacht.
Alles ist ebenerdig, Aufzüge sind unnötig.
Hinter der hohen Glasfassade am einen
Ende liegen die Arbeitsräume für Konser-
vatoren und Forscher. Von dort führt eine
breite Innenstraße zu den Lagerräumen
mit abnehmender Höhe.
250000 Werke sollen in den nächsten
Monaten aus Paris dorthin verfrachtet
werden.DieSituationimLouvre wurdeun-
haltbar. In über 60 Lagerräumen des am
Seine-Ufer gelegenen ehemaligen Königs-
palasts stapelten sich bisher die nicht aus-
gestellten Werke, das heißt 95 Prozent der
620000 Objekte umfassenden Museums-
sammlung.Diemeistendieser Räumesind
überschwemmungsbedroht. Während ei-
nerHochwasserflutvor dreiJahrenmusste
ein Teil der Werke in einer Nacht-und-Ne-
belaktion in höhere Etagen umgelagert
werden. Dieser Vorfall hat das seit Langem
geplante Projekt eines neuen Zentralla-
gersunweitdesLouvre-Lensbeschleunigt.
Nur die grafische Sammlung bleibt in
Paris. 60 Millionen Euro hat der Neubau
gekostet. Der Louvre bestreitet davon gut
die Hälfte und schöpft aus den Einkünften
seiner Museumsfiliale in Abu Dhabi.
WarumjedochsoeinLager200 Kilome-
terentferntvonParis, fragten manche Kri-
tiker. Das lange Hin- und Herfahren sei für
das Personal ein Zeit- undfür das Museum
ein Kostenverschleiß. Diese Lösung hat
indessen ihre innere Logik. Die Baufläche
im Pariser Großraum wird knapp und die
Vorstädte sind wenig interessiert an einem
abgeriegelten Kunstbunker, der für die
Ortsbevölkerung nichts bringt. In Lens ist
der Louvre durch seine Außenstelle schon
präsent und er hat dort im Untergeschoß
des Museums von Anfang an auch einen
für die Besucher zugänglichen Lagerbe-
reich eingerichtet.
Dieses Modell eines „visible storage“,
dasin den Vitrinendes NewYorker MoMAs
seit 30 Jahren praktiziert wird, hat sich in
den Museen mittlerweile stark verbreitet.
Der Blick hinter die Kulissen gehört heute
mitzum Programm. Der 2006eingeweihte
Jean-Nouvel-Bau des Pariser Museums
Quai Branly zeigt in einem 27 Meter hohen
Glasturmseine10000 Instrumenteumfas-
sendeMusiksammlung.Indernordfranzö-
sischen Industriestadt Lens ein Museum
mit Schaulager und in Liévin gleich da-
neben das nur für Fachleute zugängliche
Hauptlager zu haben, ist also kohärent.
DassdieserNeubaunichteinfacheinfunk-
tionaler Kasten ist, sondern ein Objekt mit
eigener ästhetischer Ambition, grenzt
schon an Luxus. joseph hanimann
Mehr Diversity im
gallischen Dorf
Wolf-Dieter Narr
(1937–2019) war
seit 1971 Professor
für empirische
Theorie an der
Freien Universität
Berlin.FOTO: DPA
Zu viel
Liebe
Die Berliner Schaubühne feiert „Amphitryon“
als letzte Arbeit des Regisseurs Herbert Fritsch
An diesem Dienstag beginnt die Frankfur-
ter Buchmesse. Dazu gehören auch Klagen
über die maßlose Bücherflut und die
schwindende Macht der gehobenen Litera-
turkritik. Wer glaubt, diese Klagen seien
neu,sollte vernehmen, was FriedrichSchle-
gel, der große Kritiker, Philologe und Philo-
soph der deutschen Frühromantik, in einer
Sammelrezension in der „Allgemeinen Lite-
ratur-Zeitung“ im Jahr 1797 schrieb:
„Unter den zahlreichen Romanen, welche
mit jeder Messe unsre Bücherverzeichnis-
se anschwellen, vollenden die meisten, ja
fast alle, den Kreislauf ihres unbedeuten-
den Daseyns so schnell, um sich dann in
die Vergessenheit und den Schmutz alter
Bücher in den Lesebibliotheken zurückzu-
ziehen, daß der Kunstrichter ihnen unge-
säumt auf den Fersen seyn muß, wenn er
nicht den Verdruß haben will, sein Urteil
auf eine Schrift zu verwenden, die eigent-
lich gar nicht mehr existiert. Auf der an-
dernSeite wirkt auchderfrühzeitigste und
noch so gegründete Tadel nur wenig gegen
die Verbreitung dieser losen Waare unter
denjenigen Lesern, auf die dabey eigent-
lichgerechnetist.DerbloßsinnlicheRoma-
nenhunger muß gestillt werden, sey es
durch welche Nahrung es wolle.“ sz
DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 (^) FEUILLETON 11
Wer treibt es am tollsten? Joachim Meyerhoff und Bastian Reiber (von links). FOTO: THOMAS AURIN
Das Büro Rogers Stirk Harbour hat das
Kunstdepot entworfen. FOTO: JOAS SOUZA
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Buchmessenklage
Gebäude aus Landschaft
Der Louvre bezieht sein neues Sammlungslager in Nordfrankreich
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