von f elix stephan
E
dward Snowden, dessen Buch
derzeit auf allen bekannten
Bestsellerlisten steht, hat vor
Kurzem den Namen seines
Ghostwriters bekannt gegeben.
Es handelt sich um den amerikanischen
Schriftsteller Joshua Cohen, was ungefähr
so ist, als hätte Friedrich Engels, der be-
kannteste Whistleblower unter den engli-
schen Fabrikbesitzern, bekannt gegeben,
seine Bücher seien von James Joyce ver-
fasst worden. Historisch kam das leider
nicht infrage, die beiden waren keine
Zeitgenossen,allegorisch aberschon: Vor
vierJahrenhatCohenden800-Seiten-Ro-
man „Buch der Zahlen“ veröffentlicht, der
die neuen Wahrnehmungsmuster in der
Digitalisierung auf ähnliche Weise in eine
adäquate Literatursprache übersetzt hat
wie „Ulysses“ einst die der Industrialisie-
rung. Bei Joyce ergab das Experiment die
berühmtendisparat-assoziativenSatzkas-
kaden und Bewusstseinsströme, bei Co-
hen nun einen Zustand permanenter Vor-
läufigkeit. Im „Buch der Zahlen“ sind gan-
ze Absätze durchgestrichen, um anzuzei-
gen, dass der Text seine endgültige Form
noch nicht erreicht hat und ihn wie eine
Softwareauch nie erreichen wird.Eine der
beiden Hauptfiguren spricht streng nach
einem Algorithmus, den Cohen selbst
programmiert hat. Ein Absatz kann in
dem Roman schon einmal so aussehen:
„De Groeve und OQuinn kodierten den
Algorithmus mit C++ [WITZ EINFÜGEN?
„Die einzige Note, die wir alle in jenem Se-
mester erhielten“?]. Cohen wollte mit dem
Programmieren selbst nichts zu tun ha-
ben,schlugaberPerlalsbessereProgram-
miersprache vor, mit einem Dollarzeichen
- „$“ – zu Anfang jeder Zeile [ERKLÄREN:
UNTERSCHIED CODEN/PROGRAMMIE-
REN, ALS VERB UND SUBSTANTIV].“ Es
ist jedenfalls leichter, diese Prosa aus
sicherer Distanz zu bestaunen, als sie tat-
sächlich zu genießen, und das wurde dann
auch weitestgehend so gehalten.
Edward Snowdens Enthüllung zeigte
nun, dass dieser Roman im Grunde nur
der Auftakt zu einem Gesamtkunstwerk
war. „Buch der Zahlen“ handelt von einem
erfolglosen Schriftsteller namens Joshua
Cohen, der als Ghostwriter für einen
kalifornischenTech-Tycoonarbeitet,des-
sen Konzern private Daten seiner Kunden
mit der amerikanischen Regierung teilt.
Dabei handelte es sich kaum verhüllt um
Google. Wenn der echte Joshua Cohen
jetzt als Ghostwriter für Edward Snowden
arbeitet, ist das so etwas wie die Fortfüh-
rung des eigenen Opus magnum mit
anderen Mitteln. Die New York Times
stellte erfreut einen „reziproken Zirkel“
fest: „Leben, das Kunst imitiert, die das
Leben imitiert.“
Vier Jahre nach dem „Buch der Zahlen“
und fast gleichzeitig mit dem Snowden-
Buch ist jetzt der neue Roman von Joshua
Cohen auf Deutsch erschienen. Er heißt
„Auftrag für Moving Kings“und istformal
sehr viel näher am klassischen bürger-
lichen Realismus als der Vorgänger. Er hat
Figuren, in deren ziellosem Selbsthass
und metaphysischer Unbehaustheit man
sich leicht einfühlen kann, wenn man
schon einmal mit amerikanischer Kultur
zu tun hatte, und am Ende wird geschos-
sen. Man kann sich gut vorstellen, wie
irgendwo in New York ein Verleger Cohen
bekniet haben muss, doch einfach mal
einen Roman zu schreiben, der sich auch
verkaufen lässt.
Im Mittelpunkt steht das New Yorker
Umzugsunternehmen „Moving Kings“,
das von einem halbseidenen Unterneh-
mer namens David King betrieben wird,
benannt nach dem biblischen König, der
sich in Jerusalem keinen Tempel bauen
durfte. King lebt schon sein ganzes Leben
in New York, hataber noch Familiein Isra-
el,woseinNeffeYoav soebendenobligato-
rischen dreijährigen Militärdienst absol-
viert hat, an einem „Kontrollpunkt an der
Grenze zwischen Israel und einem Land,
das die Palästinenser Palästina nannten,
die Israelis hingegen Judäa und Samaria,
weil Juden sich nie auf irgendwas einigen
können, nicht mal untereinander, darum
wurden beide Namen verwendet“. Jetzt ist
Yoav fertig und weiß nichts mit sich anzu-
fangen. Ohne jede Charaktereigenschaft
sitzt er in seinem Zimmer und trinkt
Dosenbier, weshalb ihn seine Eltern nach
New York schicken, um im Umzugsunter-
nehmen des Onkels auszuhelfen und sich
auf diese Weise die ersten eigenen Dollars
seines zivilen Lebens zu verdienen. Yoav
wird also Packer und weil in New York
gerade die Gentrifizierung im Gange ist,
gehört es zu seinen Aufgaben, mit seinem
Trupp regelmäßig in die ärmeren Rand-
bezirke vorzurücken und dort Zwangs-
räumungen zu vollstrecken.
Diese Touren in die Vororte erinnern
Yoav fatal an die Exkursionen, die er vor
Kurzem noch in anderer Uniform nach
Gaza unternommen hat: „Eine Gruppe
vonMännern, diehartzuschlagen,inHäu-
ser von Fremden ausschwärmen, die Mö-
bel auseinandernehmen, die Möbel mit-
nehmen, aus Versehen Sachen kaputtma-
chen, mit Absicht Sachen kaputtmachen,
aus Versehen Bagatelldiebstähle begehen,
oder auch nicht aus Versehen und auch
nichtimmernurBagatellen,dieLinoleum-
böden zerstören, alles leer hinterlassen,
allesimChaoshinterlassen–werhättege-
dacht,dass die Armee ihn fürs Speditions-
business ausbildete?“ Yoav ist noch keine
25 und schon zum zweiten Mal als indiffe-
rent ausführende Kraft einer expansiven
Macht tätig.
Mit dieser Figur des bräsigen, antriebs-
losen, deprimiert vor sich hin masturbie-
rendenYoavnimmtsichJoshuaCohenwie
einst Philip Roth das Tabu vor, einen
Juden als abscheulichen Menschen dar-
zustellen. Der Unterschied besteht in der
Kampfzone: Während die Soziopathen bei
RothnureineJugendindentraditionalisti-
schen jüdischen Vorstadtmilieus New Jer-
seys auszustehen hatten, geht Cohens
Antiheld aus der Desensibilisierungsma-
schine der israelischen Streitkräfte her-
vor. Als „Moving Kings“ 2017 in den USA
erschien, schlug Cohen in einem Inter-
view vor, den „Tag der Emanzipation von
demkulturellen Tabu,Juden vonihrer ab-
solutgrässlichstenSeitezuzeigen“alsneu-
en jüdischen Feiertag einzuführen. „Wenn
nicht die Juden Juden von ihrer absolut
grässlichsten Seite zeigen, wer dann?“
Trotzdem geht der Roman nicht ins
Gericht mit seinem Protagonisten, er
behandelt seinen unbändigen Drang zur
Unterwerfungvoller Verständnis. Als isra-
elischerSoldathatYoavgelernt,dieAutori-
tät der Armee nie zu bezweifeln: „Wenn
dein Fallschirm nicht aufging oder dein
MotorabsoffoderdeineTragflächenabfie-
len, dann war es besser so: Es hatte seinen
Grund. Nichts geschah jemals aus einer
Laune des Zufalls. Alles war logisch,
logistisch, systematisch, jede Mission von
einer sakrosankten Weisheit getragen, in
die der gemeine, grunzende Gefreite nie-
mals eingeweiht würde.“ Die Autorität der
Armee jedoch war nur so lange unantast-
bar, wie die Wünsche des einzelnen Sol-
daten ignoriert wurden, ja, es sollte ihm
schlechtgehen:„NurdurchdasIgnorieren
aller Vorlieben konnte die Theologie sich
halten.“ Als Dienstleister der New Yorker
Gentrifizierung verhält sich Yoav nach
demselbenMuster:Ersetzt dasGesetz des
StärkerendurchundleidetunterderSinn-
losigkeit seines Tuns. Gerade deshalb
fühlt es sich richtig an.
Cohens gesamtes Werk ist durchsetzt
mit alttestamentarischen Bezügen: Die
„Moving Kings“, die der Schöffling-Verlag
in der deutschen Version auch im Titel
zum Glück unübersetzt gelassen hat, sind
ein Verweis auf die umherziehende jüdi-
sche Diaspora. Das „Book of Numbers“
bezeichnet das Buch Mose, eines der fünf
Bücher der Tora. Trotzdem ist Cohen kein
Mystiker, sondern Humanist, er betrach-
tet immer den Einzelnen. In seinen Roma-
nen sind es nicht die Orthodoxien, die
Menschen zu Mitleidslosigkeit erziehen.
Es sind im Gegenteil die Menschen, die
Schutz suchen in höheren Ordnungen, die
ihnen einen Platz zuweisen, die süchtig
sindnach AutoritätundOrientierung.Dar-
über könnte man zum Pessimisten wer-
den. Oder aber man macht es wie Joshua
CohenunderzähltdieFabelvommenschli-
chen Makel als Slapstick-Komödie.
DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 SZ SPEZIAL
LITERATUR
Joshua Cohen:
Auftragfür Moving Kings.
Roman. Aus dem
Englischen von Ingo
Herzke. Schöffling & Co.,
Frankfurt am Main 2019.
288 Seiten, 24 Euro.
Cohen ist kein Mystiker,
sondern Humanist, er betrachtet
immer den Einzelnen
Einmal im Jahr versammelt sich die internationale Buchwelt
auf der Frankfurter Buchmesse. Fünf Tage lang
ist die Stadt das Zentrum des literarischen Geschehens.
Für diese Literaturbeilage haben wir den Frankfurter Fotografen
Ramon Haindl gebeten, die Menschen zu fotografieren,
die das literarische Leben der Stadt an den restlichen 350 Tagen
im Jahr prägen. Wir haben sie gebeten, uns den Ort zu zeigen, an
dem sie am liebsten lesen. Die Schriftstellerin Anja Kampmann,
derzeit Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim, zeigte uns die
Streuobstwiesen am Rande der Stadt.
(Witz einfügen)
Tech-Theoretiker, Bibel-Gelehrter, Edward Snowdens Ghostwriter:
Joshua Cohen ist der Schriftsteller,
den die Digitalisierung eigentlich nicht verdient hat