von christoph haas
Z
wei Tendenzen gibt es unter
den autobiografischen Comics.
Da sind einerseits diejenigen,
die Alltägliches, fast schon Ba-
nales erzählen. Sie leben vom
Reiz der Exhibition, von der schamlosen,
teils selbstironischen Zurschaustellung
mittelständischerNeurosen.EinerderBe-
gründer und unbestrittener Meister die-
serDisziplinistRobertCrumb.Undande-
rerseitssinddadieComics,dievonschwe-
ren Schicksalsschlägen erzählen, von
furchtbaren Ereignissen, nach denen für
die Beteiligten nichts mehr sein kann wie
zuvor. Hierzu gehören etwa „Maus. Die
Geschichte eines Überlebenden“ von Art
Spiegelman (1986, 1991) oder „Die Leich-
tigkeit“ (2016) der früherenCharlieHeb-
do-Redakteurin Catherine Meurisse.
In „Das Licht, das Schatten leert“ geht
es nicht um den Holocaust, auch nicht
um einen blutigen Terroranschlag, und
dochist dies eineherzzerreißendeLektü-
re: Die in Berlin ansässige Zeichnerin Ti-
na Brenneisen berichtet mit maximaler
Offenheit von der Totgeburt ihres Kindes
und davon, was diese katastrophale Er-
fahrung in ihrem Leben angerichtet hat.
Tini, wie sie sich im Comic nennt, und ihr
Partner Fritzemann sind zunächst guter
Dinge. Zum ersten Mal werden sie Eltern.
Sie freuen sich auf ihren Sohn, der Lasse
heißen soll, und als die Fruchtblase
platzt, fahren sie nicht weiter beunruhigt
ins Krankenhaus. Dort erfahren sie die
Schockdiagnose: Das Kind ist tot. Ursa-
che: ein von den Ärzten fahrlässig nicht
erkannter Schwangerschaftsdiabetes.
Was folgt, ist eine Tortur, der vergebliche
Versuch,dasBabywenigstensaufnatürli-
che Weise zur Welt zu bringen, bevor es
nachStundenschließlichdochperKaiser-
schnitt geholt werden muss.
Aber das ist erst der Anfang. Aus dem
Krankenhaus heimgekehrt, fühlt Tini
sich doppelt versehrt, physisch wie psy-
chisch. „Ich selbst habe gerade über-
haupt kein Verhältnis zu meinem Kör-
per“, denkt sie, im Bett liegend wie in ei-
nem Grab. „In meinen Augen hat er ver-
sagt. Er hat mich nicht rechtzeitig ge-
warnt. Ich vertraue ihm nicht mehr.“ Ein
Panel zeigt sie mit einem Rumpf, der
durch einen offenen, leeren Sarg ersetzt
worden ist. Immer wieder kritzeln sie
und Fritzemann sich den Namen ihres
SohneswechselseitigmitFilzstiftenüber-
allaufdenKörper–einverzweifelterVer-
such, den Verlust, den sie erlitten haben,
sich begreiflich zu machen und das Kind
wenigstensimMediumderSchriftsonah
wie möglich präsent zu halten. Zugleich
hadert Tini, obwohl sie, in der DDR gebo-
ren, zuvor nie etwas mit Religion zu tun
hatte, heftig und in hilfloser Wut mit
Gott, dem sie seine „extreme Fiesheit“
vorwirft:„Was istes denn sonst, einMen-
schenkind neun Monate gedeihen zu las-
sen und ihm dann einfach die Luft abzu-
schnüren?“
Wie Wellen um einen Stein, den man
ins Wasser geworfen hat, dehnt sich das
Unglück, das Tini heimsucht, in konzen-
trischen Kreisen aus. Als sie sich zu-
nächst völlig von allem zurückzieht, will
sie auch ihre Eltern und ihre Schwester
nicht sehen. Diese reagieren beleidigt,
mit völligem Unverständnis. Bei einem
BesuchderEltern kommtesdannzupein-
lichen Szenen und einem Zerwürfnis. In
Tini brechen alte Wunden auf; sie erin-
nert sich schmerzlich daran, wie ihre El-
tern stets ihre Bedürfnisse und Interes-
senignorierthaben.EinegelungeneKom-
munikation, geschweige denn ein liebe-
voller Umgang der Eltern mit ihrer Toch-
ter, erweistsichalsunmöglich.AlsderVa-
ter am Gartentor den Außenspiegel des
Autos abfährt, führt dies bei der Mutter
zueinemheftigenGefühlsausbruch:Gin-
gejetztnochderMotorkaputt,eswäreei-
ne Katastrophe! Tinis Leid dagegen lässt
sie unberührt.
Allein die Wucht, die dieser Comic in
rein stofflicher Hinsicht besitzt, ist unge-
heuerlich. Umso beachtlicher ist, dassTi-
na Brenneisen sich hierauf nicht verlas-
sen, sondern sich auch um einen drama-
turgisch kluge Gliederung bemüht hat.
Sieerzähltnichtstriktchronologisch,son-
dern beginnt mit hochemotionalen
Schlüsselszenen nach der Geburt; Erklä-
rungen,wieeszuihnengekommenist,lie-
fert siespäternach.Inihrenherbstlichko-
loriertenZeichnungenkümmertBrennei-
sen sich oft wenig um Perspektiven und
Proportionen. Was sonst ein Mangel wä-
re, erscheint hier,woesum denVerlustso
vielerSicherheitengeht,geradeangemes-
sen. In der erschütterndsten Szene des
Bandes schreit Tini, während sie den aus
der Leichenkammer geholten Lasse im
Arm hält, zwei Mal halb irre: „Wir müs-
sen hier weg! Wir sind die Toten!“ Ange-
sichts solcher Erfahrungen kann am En-
de kein Happy End stehen. Tini kann sich
nur langsam, vorsichtig in die Welt zu-
rücktasten – und schon diese Erfahrung
hat für sie wohl etwas Erlösendes.
Sein Name
überall
TinaBrenneisen erzählt vom Verlust ihres
Kindes: „Das Licht, das Schatten leert“
Tina Brenneisen
(Text/Zeichnungen):
Das Licht, das Schatten leert.
Edition Moderne, Zürich 2019.
240 Seiten, 29 Euro.
Es breitet eine stille Heimeligkeit sich aus
in denBildern dieser Graphic Novel, in
den Hinterhöfen, wo vereinzelte Wäsche-
stücke auf den Leinen herumhängen, als
wären sie vergessen oder würden nicht
mehr gebraucht, mit einem Stuhl in der
Ecke und einem gekippten Wagen neben
dem Tor, aber auch vor den großen Häu-
sernmitihren großbürgerlichen Fassaden
und hohen schmalen Fenstern, in denen
man noch die Damen sehen kann, die dar-
in verschwunden sind. Ein stiller Frieden
liegt über dem Helden der Geschichte,
Knud Pedersen, wenn er erst mal einen
PlatzzumSchlafengefundenhat,eineLie-
ge mit einer Decke, oder eine geschützte
Stelle im Wald oder eine Bank im Park. Da
liegt er dann, lang ausgestreckt wie eine
Puppe, die genug gezappelt und gespielt
hat an diesem Tag.
Es ist ein fantastisches Stück Literatur,
Knut Hamsuns „Hunger“, sein erster Ro-
man, den er 1890 veröffentlichte, dreißig
Jahre alt, und der ihn berühmt machte
und zu einem der großen Autoren der Mo-
derne. Das Setting der Geschichte ist vom
Endedes 19.Jahrhunderts,aber darintum-
meln sich all die Absurditäten und Trau-
mata, die dann das 20.Jahrhundert heim-
suchen sollten. Der erste Satz des Buchs –
legendärgewordenwieersteSätzebeiKaf-
ka, Proust oder Joyce – ist so idyllisch wie
gespenstisch. „Damals lief ich hungernd
durch Kristiania, diese wunderliche Stadt,
die keiner verlässt, ohne von ihr gezeich-
net zu sein ...“ Martin Ernstsen hat den
SatzübernommenfürseinegroßartigeAd-
aption,weilerschonmaldasganzeComic-
Spektrum aufreißt, seine aufregenden
Möglichkeiten, rasch und intensiv – ra-
scher noch und intensiver als der Film –
die Grenzen zu sprengen zwischen dem
Realen und dem Fantastischen. Martin
Ernsten hat in England und Stockholm Il-
lustrationstudiert,erarbeitet heutein Os-
lo, das einst den Namen Kristiania trug.
Knud macht es sich nicht leicht, trotz
seiner Misere, er ist ein Schreiber und täg-
lich auf der Suche nach dem schreiberi-
schen Erfolg. Er setzt sich damit unter rie-
sigen Druck, manchmal droht ihn dann
einüberdimensionalgroßerFingernieder-
zudrücken. Manchmal gelingt es ihm tat-
sächlich, einen Beitrag fertigzukriegen –
„Ich dankte Gott für seine große Güte an
diesem Morgen und taxierte den Text auf
etwa zehn Kronen“ – und bei einem wohl-
wollendenRedakteurunterzubringen.An-
dernfalls versetzt er eben seine Weste –
und gibt das Geld dafür einem Bedürfti-
gen. Es soll ihm bloß keiner seine eigene
Armseligkeit ansehen! Sein schlimmster
Feind ist der Hunger, nicht ganz so
schlimm sind die Vermieterinnen, die
doch sehr geduldig sein können, wenn es
umihreMiete geht. Immerhin,erhatnoch
die Kraft für eine Imagination, sie trägt
den Namen Ylajali.
Knud Pedersen ist der wirkliche Name
vonHamsun.DerComic-Knudistkeinein-
dividuelle Figur, vielmehr ein zeitloses
Hamsun-Icon. Mit seinen runden Brillen-
gläsern,demschwarzenHutunddemtrau-
rigen Gesicht, die Hosen ein wenig zu eng
und die Jacke ein wenig zu kurz, schaut er
aus wie man Hamsun von zahlreichen Fo-
tos kennt – den alten Hamsun. Manchmal
verwandelt er sich innerhalb weniger Bil-
dervorlauterFröhlichkeitineinengelbfar-
bigen Wonnekloß, einem Smiley nicht un-
ähnlich.DieStadtisthart,aberauchunge-
heuer dynamisch. Gernquatschter, insei-
ner Euphorie, Passanten an. In der Weste,
die er versetzte, steckte sein wertvollstes
Utensil, sein Bleistiftstummel: „Mit ihm“,
erklärt er dem Pfandleiher, „habe ich mei-
ne dreibändige Abhandlung über die Er-
kenntnis verfasst.“ fritz göttl er
Knut Hamsun, Martin Ernstsen:Hunger. Aus dem
Norwegischen von Ina Kronenberger. Avant Ver-
lag, Berlin2019. 220 Seiten, 30 Euro.
Wie sanft das Meer aussieht, dessen Wel-
len als blassblaue Farbwolken vor sich
hindümpeln. Zwischen ihnen ein
himbeerroter Schwimmreifen mit einem
Mädchen darin, es treibt zum Strand. In
der Ferne winkt eine alte Frau. „Oma?“
fragt das Mädchen. Und entdeckt im Nä-
herkommen ein Pflegebett im Sand, in
demdieOmaals wässrigrote Strichzeich-
nung liegt. Eine einzige Berührung ihrer
Handgenügt,dasssichdieStrichfrau auf-
löst und zu einer Pfütze zerfließt.
Es sind Bilder wie dieses, die Sheree
Domingos Graphic Novel so besonders
machen. Wenn der Comic Wirklichkeit
halluziniert, ist er ganz bei sich. „Fernge-
spräch“ ist Domingos Abschlussarbeit an
der Kunsthochschule in Kassel. Darin er-
zählt sie die Geschichte ihrer Familie, die
von den Philippinen stammt. 1982 ka-
men ihre Mutter und ihre Tante nach
Schwaben,wodieMutteralsAltenpflege-
rin arbeitete.
Die Erzählerin ist ein Mädchen von
acht oder zehn Jahren, es träumt vom
Meer und vom Strand, das ist ihr Bild der
Philippinen.Wann siewohldasletzteMal
dortwar?Vorbildfür ihreTraumbilderist
ein Fächer, der wie ein Urlaubsmitbring-
sel in ihrer Wohnung in Deutschland an
der Wand hängt und ein exotisches Insel-
paradies zeigt. Darunter steht das Tele-
fon der Familie, das den Traum des Kin-
des stört: RING, RING klingelt es bedroh-
lich, in Großbuchstaben. Die Oma auf
den Philippinen stirbt. Und weil die Mut-
ter im Pflegeheim, wo sie arbeitet, keinen
Urlaub bekommt, kann sie die Sterbende
nicht einmal besuchen, nur am Telefon
ist sie ihr nah. Immer wieder taucht die
Großmutter als roter Schatten oder als
Strichzeichnung im Meer auf. Fast hätte
sie die Mutter zu sich hinunter gezogen.
Es ist ein aktuelles Thema, das Sheree
Domingo in ihrer Graphic Novel behan-
delt: Menschen aus den ärmeren Teilen
der Welt lassen ihre eigenen Familien zu-
rück, um die Angehörigen der Menschen
in den reicheren Weltgegenden zu pfle-
gen. Jeder im Buch fühlt sich fehl am
Platz: Weil niemand da ist, um auf es auf-
zupassen,mussdasMädchenindenSom-
merferien mitinsAltenheim,woesgleich
mal feststellt: „Da stinkt s.“ Außerdem
gruselt sich das Kind vor den Runzelge-
stalten im Rollstuhl, die am helllichten
Tagvorsichhinschnarchen.Aberauchei-
ne greise Bewohnerin des Heims träumt
sich weg.Sieführtebenfalls„Ferngesprä-
che“ – mit ihrem verstorbenen Mann.
Domingo zeichnet ihre Geschichte in
Aquarellfarben, die eine verführerische
Leuchtkraft haben, wie eine Fata Morga-
na. Die Technik garantiert Durchlässig-
keit:EinhellerHintergrundkanndieFar-
ben zum Strahlen bringen, den Traum-
strand beispielsweise in einem satten
Gelb. Wo die Farben einander überla-
gern, können aber auch toxisch wirkende
Mischungen entstehen. Ein krankes
Grün, dazu Senfgelb und Braun kenn-
zeichnet das Pflegeheim; und das deut-
sche Zuhause der Familie leuchtet in ei-
nem intensiv düsteren Violett. Im Wässe-
rigendesAquarellsverschwimmtschließ-
lich jede Eindeutigkeit. Was zu einer Ge-
schichte passt, in der jeder subjektiv
„richtig“handelt,sichaberimmeramfal-
schen Ort fühlt. martin a knoben
Sheree Domingo:Ferngespräch. Edition Moder-
ne, Zürich 2019. 96Seiten, 24 Euro.
„Es gehörtzu meinem besonderen Verhältnis zu meiner Geburtsstadt
Frankfurt am Main, dass ich sie als eine der verdorbensten und
hässlichsten Städte Deutschlands erlebe und in meiner Phantasie und
in meinem inneren Bild von der Stadt an sie als eine der schönsten Städte
denke, die ich kenne“, schrieb Martin Mosebach in „Mein Frankfurt“.
Den Palmengarten kennen die Leser etwa aus seinem Roman „Ein lange Nacht“
und den Stadtteil, in dem der Palmengarten liegt, aus Mosebachs Roman „Westend“.
Von der Stadt gezeichnet
Martin Ernstsens Comic-Adaption von Knut Hamsuns „Hunger“
Das Pflegebett
im Sand
„Ferngespräch“: Ein Comic
über Migration
DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR BELLETRISTIK V2 13
»AxelHacke ist
immer mitten im
Leben, in seinem
eigenen undauchim
Lebender Anderen.
Er sprichtmir aus
dem Herzen.«
CHRISTINE WESTERMANN, NDR
Axel Hacke
wozu wirdasind
WalterWemuts Handreichungen
für eingelungenesLeben
240 Seiten|Euro20,–(D)
ISBN978-3-95614-313-7
Auch als Hörbuch:
ungekürzteLesung
ISBN978-3-95614-331-1
gekürzte Lesung mit Musik
ISBN978-3-95614-333-5
kunstmann
verlagantje
Tourdaten:15.10.Nürnberg|19.10.Frankfurt|04.11. Erfurt|05.11. Magdeburg|
Foto: ThomasDashuber 06.11.Zwickau|07.11. Ansbach|12.11. München|weitereTermineunteraxelhacke.de