Joaquin Phoenix versteht es derzeit wie
keinanderer Hollywoodstar, den Schmer-
zensmann zu verkörpern. In seiner Rolle
als Arthur Fleck, der zum Joker wird, setzt
er in Todd Phillips gleichnamigem Film
noch eins drauf. Zum Interview in West
Hollywood erscheint er in Jeans, Pullover
und Chucks, er strahlt große Dankbarkeit
aus und versichert immer wieder, wie
glücklich er mit diesem Film ist, und mit
seinem Leben überhaupt.
SZ: Arthur Fleck ist eine wirklich kontro-
verse Figur. Hatten Sie Hemmungen, die-
se Rolle anzunehmen?
Joaquin Phoenix: Es war keine leichte Ent-
scheidung! Letztlich haben die Gespräche
mit dem Regisseur Todd Phillips den Aus-
schlaggegeben,wirhaben unseinpaarmal
getroffen. Er wirkte auf mich wie jemand,
derwirklichetwaswagenundetwasEinzig-
artiges schaffen will, ohne von irgendwem
abhängig zu sein. Manchmal findet man
einfach etwas Verbindendes, und während
der Arbeit fordert man einander heraus.
Aber der größte Zweifler war ich!
Warum das?
Ichwussteeinfachnicht,obichdiepatholo-
gische Lache des Jokers draufhabe. Also
bat ich Todd vorbeizukommen. Ich wollte
ausprobieren,obichdieLachevorihmhin-
kriege, denn wenn ich dabei versagt hätte,
wär s das für mich gewesen. Also kam er,
und dann war es erst sehr peinlich. Er saß
aufmeiner Couch, und ich konntemehrere
Minutenlang nicht lachen. Und dann sagte
er, du musst dir das nicht antun, du hast
die Rolle sowieso. Aber ich musste in dem
Momentwissen,obichdaskann.Undwirk-
lich, als das Lachen kam, war das ein
Schlüsselmoment. Es fühlte sich so an, als
hätten wir zusammen einen wichtigen Teil
vonArthurFlecks Persönlichkeitentdeckt.
Wie finden Sie diese Rollen, denen Sie sich
dann vollständig hingeben wollen?
Oft ist es nur ein bestimmtes Gefühl, ich
weiß gar nichtgenau, wonachich suche.Es
ist ein wenig so, als ob man sich verliebt.
Wenn man nach einem Partner Ausschau
hält, kann man alle möglichen Dinge
benennen, nach denen man sucht, aber
warum es dann Liebe wird oder nicht, ver-
stehtmanim Grundedochnie.Abernatür-
lichsucheichnacheinergewissenKomple-
xität in einer Figur. Nach etwas, das mich
herausfordert.
Sie haben sich wirklich total im Joker auf-
gelöst. Konnten Sie ihn nachts überhaupt
noch ablegen?
Das sagt man immer so für die Presse, in
der Rolle sein, oder sie ablegen. Aber
stimmt das überhaupt? Im besten Fall
weiß ich doch gar nicht, in welchem Zu-
stand ich gerade bin, und es ist auch keine
bewusste Entscheidung, in der Rolle zu
bleiben oder rauszugehen. So fühlt es sich
für mich jedenfalls nicht an. Aber ich hatte
jede Menge Spaß als Arthur Fleck, das
kann ich Ihnen versichern! Der Film hat so
viele Schattierungen, und Arthur macht so
vieleunterschiedlicheStimmungendurch.
Ichhattenichterwartet,wiesehrichdasge-
nießen würde.
Und Sie tanzen sogar. Wie kam das denn
zustande?
Im Drehbuch gab es die Tanzszene auf der
Treppe und seine Nummer als Clown. Ein
Choreograf namens Michael Arnold sollte
mit mir arbeiten. Normalerweise lehne ich
es ab, mit Leuten an meiner Rolle zu arbei-
ten(lacht).DocherwolltemirnurdasVoka-
bular des Tanzens nahebringen. Ein Video,
in dem Ray Bolger zu dem Song „The Old
Soft Shoe“ tanzt, machte den größten Ein-
druck auf mich. Bolger hat einen Hauch
von Arroganz, und da dachte ich plötzlich,
das ist es! Dann hab ich sein Ding, das er da
macht, im Grunde einfach gestohlen
(lacht).
Arthur Fleck wird als Mensch mit starken
psychischen Problemen gezeigt, er ist in
Behandlung. Haben Sie viel über diese
Krankheiten recherchiert?
Nicht wirklich. An dieser Stelle wird es für
mich immer schwierig, weil ich die Sicht-
weise der Zuschauer nicht zu stark beein-
flussen will. Aber der Film spielt in einer
Zeit, in der Antidepressiva und deren Wis-
senschaftrelativneuwaren.UndArthurbe-
kommt nicht die Betreuung, die er ver-
dienthätte.Stattdessenwirderseitfrühes-
ter Kindheit medikamentiert. Er ist von ei-
ner traumatischen Jugend geprägt, an die
er sich gar nicht erinnern kann, ihm fehlte
menschlicher Austausch und die Möglich-
keit, seine Gefühle zu offenbaren. Für
mich war Arthur nie psychisch krank. Ich
denke,dasisteinStigma,dasihmseingan-
zes Leben lang eingeredet wurde.
Wichtig ist Arthurs Beziehung zu seiner
Mutter. Wie haben Sie diese gestaltet?
Das lief ungefähr so ab wie alles in diesem
Film. Wenn ein Drehtag vorbei war, gingen
zwischen Todd Phillips und mir immer
nochTextnachrichtenwildhinundher,lau-
terIdeen,waswirmachenkönnten,manch-
mal fünf Stunden lang. Dann riefen wir
uns an und redeten noch endlos weiter.
Wenn wiraberamnächsten Tag wieder am
Setwaren,habenwirallesüberBordgewor-
fen. Und sind einfach auf Entdeckungsrei-
se gegangen, aus dem Moment heraus, mit
tausend Fehlern, bis wir etwas fanden. So
war es auch mit Frances Conroy, die meine
Mutter spielt, sie war toll!
Arthur Fleck wird zufällig zu einer Sym-
bolfigur und zum Maskottchen einer neu-
en Protestbewegung. Warum fürchten
und lieben wir den Joker? Was fasziniert
die Menschen an dieser Figur?
Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist es bei
jedem etwas anderes? Mich fasziniert die-
se gewisse Respektlosigkeit, die der Joker
in sich trägt. Sei einfach du selbst, sagt
man uns doch immer, vom Kindesalter an.
Was aber, wenn dein Selbst darin besteht,
dass du Verwüstung in dir trägst? Dieses
Entfesselte des Jokers kann attraktiv sein.
Und in dem Moment, wo er sein wahres Ich
annimmt, sieht er auch einfach verdammt
cool aus.
Davor ist er aber ein Häufchen Elend, ein
Knochengerüst ...
Ich hatte vorher schon einmal so viel Ge-
wicht für eine Rolle verloren und mir ge-
schworen, das nie wieder zu tun. Als ich
dann Arthurs Medikamente recherchierte,
war Gewichtsveränderung die häufigste
Nebenwirkung. Die Leute nahmen entwe-
der enorm zu oder ab. Ich entschied mich
fürs Zunehmen, weil das viel einfacher
war. Doch Todd Phillips wehrte das gleich
abundmeinte:‚Nixda,dumusstdünnwer-
den‘(lacht). Und er war in diesem Punkt
sehrentschieden.Arthurwurdealsounter-
ernährt und übermedikamentiert.
Wie steht man diesen enormen Gewichts-
verlust durch?
Der eigentliche Vorgang ist sehr
unangenehm. Als ich mit dem Choreogra-
fen an der Tanznummer arbeitete, hatte
ich ganz wenig Energie. Du schaust diese
Treppehochunddenkst,dakommeichnie-
mals rauf. Aber ab einem gewissen Punkt
ist es dann in Ordnung, der Körper passt
sich an.
Halten Sie „Joker“ für einen politischen
Film, hat er wirklich etwas zum Problem
der Ungleichheit in der Gesellschaft zu sa-
gen?
Das war es ja, was mich an der ganzen Sa-
che interessiert hat! Diese wichtigen Fra-
gen werden auf jeden Fall gestellt, aber der
Film sagt dir nicht einfach, was du denken
sollst, du musst deine eigenen Antworten
finden. Und das sollen die Zuschauer jetzt
auchmachen,damöchteichmitmeinerei-
genen Meinung gar nicht vorgreifen! Es ist
ebennichtdertypischeFilmausderComic-
Welt, wo meistens sehr klar ist, wer die
Guten und wer die Bösen sind. Ich habe
nichts dagegen, das schaue ich auch gern
mal an, aber wenn ich selbst irgendwo ein-
steige, sollte es doch komplexer und realer
werden. Und wirklich zum Denken anre-
gen.
Sehr real wirkt dann auch die Protestbe-
wegung im Film, die vor Gewalt nicht zu-
rückschreckt ...
Ja, dieses Gefühl der Unzufriedenheit ist
verständlich, ich hoffe schon, dass das
rüberkommt. Aber das Mittel der Gewalt
ist für mich nicht akzeptabel, ich bin ein
verdammter Pazifist! Und vergessen wir
nicht, der Joker ist auch ein echter Schur-
ke. Normalerweise halten sich die Helden
inden Comics anihreeigenen moralischen
Regeln, wenn sie unter Druck geraten, wie
zum Beispiel Spiderman. Wenn die Gesell-
schaft ihre Moral verliert, muss du an dei-
ner eigenen Moral festhalten. Und genau
das macht der Joker eben nicht.
inter view: r ichar d pleu ger
„Als das Lachen kam, war das ein Schlüsselmoment“
Mit seinerPerformance als „Joker“ gilt er als Oscarkandidat: Joaquin Phoenix über das Leiden seiner Figur – und den Spaß, den man als Schurke haben kann
von l aur a weissmüller
D
as Ganze soll mit einem Witz an-
gefangen haben. Tatsächlich klingt
ja auch die Idee, auf einer Müll-
verbrennungsanlage Ski zu fahren, ziem-
lich verrückt, eher nach Nonsens als nach
durchdachtem Plan. Und dann noch in
Sichtweite zu all den Sehenswürdigkeiten,
die Kopenhagen zu bieten hat.
Am 4. Oktober wurde eingeweiht. Wer
nun auf dem Dach der 41000 Quadratme-
ter großen Industrieanlage steht, die Sky-
line Kopenhagens auf der einen Seite, den
Øresund auf der anderen, der kann nur sa-
gen:Ja,esistverrückt.Abergenausokönn-
te sie aussehen, unsere Zukunft. Mit Häu-
sern, die viele und vor allem unterschiedli-
cheFunktionenbesitzen.DiealsoMüllver-
brennen und dabei Strom und Wärme für
150000 Haushalte produzieren können,
aber auch Spaß machen. Wo man auf dem
Dach über grüne Plastikmatten 450 Meter
Ski und Snowboard fahren, an den Seiten
zwischen Bäumen und Sträuchern wan-
dern und an der Fassade bald 85 Meter in
dieHöhe kletternkann.WoSchülerlernen,
wasmitihremMüll passiert.UndwodieAr-
chitektur nicht signalisiert: „Bitte Abstand
halten!“, sondern einer Einladung gleich-
kommt, sich hier aufzuhalten. Die Fassade
wartet neben der Kletterwand mit einem
Ornament aus Aluminiumpaneelen auf,
dasaussieht, alshätte hier jemandeinNetz
aus silbern glänzenden Riesenbriketts
darüber gespannt. Der gläserne Aufzug im
Inneren gibt dann den Blick frei auf eine
faszinierende Konstruktion aus gewalti-
genRöhren,Kesseln undStegen,dieesalle-
samtbraucht,umeinesolcheMüllverbren-
nungsanlage am Laufen zu halten.
Copenhill, wie der künstliche Berg ge-
tauft wurde, liefert damit für ein Problem
die Lösung, die gerade händeringend
gesucht wird. Denn das Projekt zeigt, wie
Städte nicht nur dichter, sondern dabei
auch lebenswerter werden können. Diese
Müllverbrennungsanlage ist schließlich
nichts, was man verschämt am äußersten
Stadtrand versteckt, auf einem neu ausge-
wiesenen Industrieareal, das den Flächen-
fraß noch weiter antreibt. Amager Bakke,
wie die Anlage auch heißt, ist stattdessen
ein Gebäude, das sich schon im Entstehen
stolz ins Stadtbild eingefügt hat. Es klingt
albern, aber was Hamburg seine Elbphil-
harmonieist,könnteKopenhagenbaldsei-
ne Müllverbrennungsanlage sein.
„Copenhill ist der architektonische
Ausdruck von etwas, das sonst unsichtbar
geblieben wäre“, sagt Bjarke Ingels dazu.
EristderGründerdesdänischenArchitek-
turbüros BIG, das dieses Projekt feder-
führend entworfen hat. Das Kraftwerk sei
sosauber,dassdasGebäudeinein„Funda-
ment des gesellschaftlichen Lebens“ ver-
wandelt werden konnte. Für Ingels „ein
glasklaresBeispielfürhedonistischeNach-
haltigkeit: Eine nachhaltige Stadt ist nicht
nur besser für die Umwelt, sondern auch
angenehmer für das Leben ihrer Bürger.“
Damit ist das Projekt exemplarisch für
den45-jährigenArchitektenundseinwelt-
weit agierendes Büro. Von Pessimismus,
geschweige denn Untergangsszenarien in
Zeiten des Klimawandels hält Ingels so
wenig wie von Understatement. BIG steht
zwar eigentlich für Bjarke Ingels Group,
doch auch das Denken in Großbuchstaben
scheint hier Pflicht zu sein. Der Däne hat
das Büro 2005 gegründet, für das heute ei-
nige Hundert Architekten in Kopenhagen,
NewYork, London undBarcelona arbeiten.
Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre.
Und die Produktivität ist enorm. Kaum ein
Monatvergeht,indemnichteinneuesPro-
jekt lanciert wird. Mal ist es ein Legohaus
in Dänemark, das aussieht, als hätten hier
einige Riesen bunte Monstersteine aufein-
andergestapelt. Dann ein neues Kunstmu-
seum in Norwegen, das sich wie eine in
sich gedrehte Brücke über einen Fluss
schwingt. Dazu kommen futuristische
Visionen wie der einer Mars Science City,
die BIG für Dubai entwickelte. Unter einer
gewaltigen Glaskuppelkonstruktion in der
Wüste Dubais sollen hier zu Forschungs-
zwecken Bedingungen wie auf dem Mars
erzeugt werden. Für UN-Habitat, das Pro-
gramm der Vereinigten Nationen für
menschliche Siedlungen, entstand dieses
Frühjahr die Idee einer schwimmenden
Stadt für 10000 Menschen.
Nicht alleProjektesind dabeiso heraus-
ragend wie Copenhill. Um ein Riesenbüro
wie BIG am Laufen zu halten, sind Kom-
promisse nötig. Und nicht immer hält die
kreative Idee der Realität stand. Selbst
BIGs Projekt „8 House“, ein gewaltiges
Wohnhaus in Form einer liegenden Acht
amRandevonKopenhagen,dasdenArchi-
tektenvoretwazehnJahrenschlagartigbe-
kannt gemacht hat, altert nicht besonders
gut. Was vor allem an dem unausge-
gorenen Nutzungskonzept liegen dürfte:
Besitzer von Eigentumswohnungen haben
eherwenigSinnfüroffeneGemeinschafts-
flächen, dementsprechend stiefmütterlich
werden diese dort gepflegt, die eigene
Terrasse dafür lieber abgeschirmt. Und
das bringt die dynamische Energie des
Entwurfs nahezu zum Erliegen.
Ingels lässt sich von Kritik wenig irritie-
ren. Big ist auch sein persönliches Motto.
InZeiten,indenenschondasEndederStar-
architektenausgerufenwurde,fingderDä-
ne mit dem Dauerlächeln noch mal an, die
Gattungneufür sichzudefinieren.Integra-
ler Bestandteil dabei: sein Spieltrieb. Der
prägt zum einen Ingels Auftreten. Seine
Karriere ließ er bereits vor Jahren in dem
Comic „Yes is More“ feiern,und auf derAr-
chitekturbiennale in Venedig, wo die Stars
gerne zu Cocktails in Edelhotels laden, bit-
tet Ingels lieberaufs Segelschiff,wo er Piz-
zaschnittenservierenundDJsohrenbetäu-
benden Elektropop spielen lässt.
Zum anderen ist es aber auch gerade In-
gels Spieltrieb in seinen Entwürfen,die ein
Projekt wie Copenhill so visionär werden
ließ. Am besten wird das in Kopenhagen
sichtbar, der Stadt, die den Architekten
groß gemacht hat und die ihn aktuell in ei-
nerEinzelschauimDänischenArchitektur-
zentrum feiert. Ingels ist hier zu einer Art
Baumeister der Nation geworden. Er hat
dem Noma, einem der besten Restaurants
derWelt,ein neuesZuhauseentworfen.Für
den dänischen Pavillon auf der Expo in
Shanghai ließ er das Wahrzeichen Kleine
Meerjungfrau von der Kopenhagener Ufer-
promenade nach China bringen. Und nun
ist das gewaltige Massiv von Copenhill fast
von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen.
Dabei sind es vor allem Ingels frühe,
eher kleinen Projekte, die seinen Ansatz
amdeutlichstenmachen. DaistetwadieSe-
gelschule,diegleichzeitigaucheinJugend-
zentrum ist. Um die beiden Nutzungen zu
verknüpfen, entwarf Ingels 2004 ein
mehrfach gewelltes Holzdeck ähnlich ei-
nerDünenlandschaft,dasunterseinenHü-
geln Platz für die Boote bietet. Das, was die
unterschiedlichen Funktionen miteinan-
der verbindet – das Holzdach –, animiert
gleichzeitig zum Herumtollen. Ähnlich
funktioniert Ingels simples Hafenbad.
Was wie ein Schiffsbug in eines der drei
Schwimmbeckenragt,istderSprungturm.
Bei dem Projekt Superkilen schließlich,
der Gestaltung eines großflächigen Stadt-
raums in einem Viertel mit vielen Migran-
ten,machte BIGzusammen mitderKunst-
gruppeSuperflexunddendeutschenLand-
schaftsarchitekten Topotek 1, aus dem
Areal einen bunten Großraumspielplatz.
Es ist kein Zufall, dass alle drei Beispiele
Projekte der öffentlichen Hand sind.
Kopenhagen hat wie keine andere Stadt in
den letzten 20 Jahren konsequent am
eigenenUmbau zu einer lebenswerten und
gleichzeitig nachhaltigen Metropole gear-
beitet. Auch Copenhill ist Teil der Strate-
gie, bis 2025 CO2-neutral zu werden. Die
Gestaltung des öffentlichen Raumes spielt
dabeieine entscheidende Rolle.Und genau
das ist der Grund, warum BIG-Projekte in
Kopenhagen so sympathisch sind: Weil
sich ihre Aufforderung, das Leben in der
Stadt zu genießen, hier an alle richtet.
„Was aber, wenn dein
Selbst darinbesteht, dass du
Verwüstung in dir trägst?“
Der Schriftsteller Saša Stanišić hat seine
Dankesrede bei der Verleihung des Deut-
schen Buchpreises für sein Buch „Her-
kunft“ dazu genutzt, seine Erschütterung
überdenNobelpreisan PeterHandkezuer-
klären. Stanišić,der1978in Višegrad gebo-
ren ist und 1992 mit seinen Eltern von dort
nach Deutschland geflohen ist, sagte, er
spreche als einer, der „das Glück hatte,
dem zu entkommen, was Peter Handke
nicht beschreibt“. Auf Handkes Text über
seine Heimatstadt Višegrad bezog sich
Stanišić, dort habe er von Milizen lesen
müssen, „die barfuß nicht die Verbrechen
begangen haben können, die sie begangen
haben sollen“. Es sei „komisch, dass man
sich die Wirklichkeit so zurecht legt, dass
sie nur noch aus Lüge besteht“, sagte der
Autor und machte klar, was genau Peter
Handkein seinenjüngstprämierten litera-
rischen Texten nicht beschreibt: „Die Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit er-
wähnt er nicht. Sie sind aber geschehen.“
Dieser andere Preis habe ihm die Freu-
de an seinem eigenen Preis „vermiest“, so
der von einer Schilddrüsenentzündung
sichtlich angeschlagene Saša Stanišić („Ich
trage 1200 Ibuprofen in mir“). Der Ernst,
mit dem er sich in der Sache Handke aus-
spricht, ist um so bemerkenswerter, als
das Selbstironische, Vergnügte, Schelmi-
sche sonst überwiegend sein Modus in der
Öffentlichkeit ist. Um mit einer versöhnli-
chen Note zu enden, feierte er zum Schluss
die andere Nobelpreisträgerin Olga Tokar-
czuk und eine „Literatur, die uns Leser
nicht für dumm verkaufen will“, indem sie
das Poetische über die Tatsachen stellt.
StanišićistderAutorvondrei Romanen,
zahlreichen Erzählungen, Hörspielen und
Essays. Für sein Debüt „Wie der Soldat das
Grammofon repariert“ erhielt er 2008 den
Adelbert-von-Chamisso-Preis, für „Vor
dem Fest“ 2014 den Leipziger Buchpreis.
Das Buch, für das er jetzt den Deutschen
Buchpreis erhalten hat, ist Stanišićs bis-
lang persönlichstes. Nur wenig fiktionali-
sierthandeltesvonseinerFamilieinBosni-
en,vonderFluchtunddenerstenJahren in
Heidelberg, von der harten Arbeit und der
sozialen Herabstufung, die seine Eltern als
Migranten in Deutschland in Kauf neh-
men mussten. „Herkunft“ ist zudem ein
großer Abschied und ein Trauergesang auf
die Großmutter des Autors: Die Geschich-
ten von den Wurzeln seiner Familie sieht
der Erzähler mit ihrer Demenzerkrankung
und ihrem Tod verschwinden und ver-
sucht die Erinnerung zu sichern,obwohler
sich vor „Herkunftskitsch“ scheut.
So ist es auch ein Buch, in dem über die
Fragenachgedachtwird, wiemanvonHer-
kunft überhaupt erzählen kann. Seine Ge-
schichten beschäftigten sich doch immer,
schreibtStanišić, „inirgendeiner Formmit
Menschen und Ortenund damit, was esfür
dieseMenschenheißt,andiesembestimm-
ten Ort geboren zu sein. Auch, wie das ist:
dort nicht mehr leben zu dürfen oder zu
wollen. Was ist einem, qua Abstammung
oder Hervorbringung, gegeben und ver-
gönnt?Und genauso:Was bleibteinem qua
Abstammung vorenthalten? Ich schrieb
darüber, über Brandenburg, über Bosnien,
die geografische Verortung war gar nicht
so entscheidend, Identitätsstress schert
sich nicht um Breitengrade.“ Und auch die
Ereignisse, über die Peter Handke, wie
Stanišić sagte, nicht schreibt, kommen in
„Herkunft“vor:„1991waren Zugehörigkei-
ten ein Zündstoff geworden. Alle tranken
dasselbe Benzin. Jede Herkunft konnte die
falsche sein. Das Feuer wurde angefacht“,
heißt es da etwa, und, nur zum Beispiel:
„Im August 1992 massakrierte die Armee
der Republik Srpska unweit von Višegrad
ein ganzes Dorf. Barimo. Barimo heißt das
Dorf.SechsundzwanzigMenschen wurden
umgebracht.“
Für das Versuchsartige, Unsichere des
Schreibens über das wirklich gelebte Le-
ben findet Stanišić in „Herkunft“ klare
und besondere sprachliche und erzähleri-
sche Formen. Für seine zahlreichen Leser
dürfte es keine Überraschung sein, dass er
unter den sechs Kandidaten der Shortlist
für den Buchpreis ausgewählt wurde. Für
ihn selbst war es, nach Tagen der auch öf-
fentlich zum Ausdruck gebrachten Wut
über die Ehrung von Peter Handke, auch
einZeichen:„Ichstehenichtalleinemitdie-
ser Erschütterung da“. marie schmi dt
DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 HMG 9
Schanze in die Zukunft
BjarkeIngels baut Wahrzeichen für eine Moderne, in der Vergnügungssucht und Umweltbewusstsein
zueinander finden können. So wie die Müllverbrennungsanlage mit Skiabfahrt in Kopenhagen
Saša Stanišić Ende September im Schauspiel Frankfurt. Nun, nach dem Gewinn des
Buchpreises, wirkt der Text wie ein Kommentar. Aber nichts ist gut. FOTO: DPA
Der „Joker“ alias
Arthur Fleck lacht
nicht freiwillig, er
hat eine Krankheit –
und dieses Lachen
musste Joaquin Phoe-
nix, geboren 1974,
erst finden. Szene
aus Todd Phillips’
Fillm.FOTO: WARNER
Feuilleton
Die Berliner Schaubühne feiert
„Amphitryon“ als letzte Arbeit des
Regisseurs Herbert Fritsch 11
Literatur
Hans Wollers großartige Biografie
über Gerd Müller erzählt deutsche
Gesellschaftsgeschichte 12
Wissen
„Frieren Sie ihn ein!“ Wie die
US-Behörden einen
invasiven Fisch bekämpfen 14
www.sz.de/kultur
Literatur, die uns nicht
für dumm verkaufen will
Saša Stanišić gewinnt den Deutschen Buchpreis
„1991 waren Zugehörigkeiten ein
Zündstoff geworden.
Alle tranken dasselbe Benzin.“
Architektonisch ist Copenhill für
Kopenhagen, was für Hamburg
die Elbphilharmonie ist
FEUILLETON
Sommerski undStromerzeugung – so kann eine
Müllverbrennungsanlage auch stolz über eine wunderschöne
Stadt wie Kopenhagen ragen.FOTOS: BIG
HEUTE