Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

LASS MICH AUSREDEN!


n Deutschland sind 99,5 Prozent aller Unterneh­
men mittelständische Firmen, sie erwirtschaften
mehr als jeden zweiten Euro und stellen über die
Hälfte aller Arbeitsplätze. Leider scheint dieser
schlichte Sachverhalt bei der SPD weitgehend –
vielleicht mit Ausnahme der Kommunalpolitiker


  • in Vergessenheit geraten zu sein. Kaum ein Tag
    vergeht, ohne dass die SPD Vorschläge auftischt,
    die für den Mittelstand eine ernsthafte wirtschaft­
    liche Bedrohung darstellen. Der SPD scheint oh­
    nehin seit dem Ausscheiden von Gerhard Schröder
    aus der aktiven Politik wirtschaftlicher Sachver­
    stand abhandengekommen zu sein. In dieses Bild
    gehört, dass sie inzwischen einen Überbietungs­
    wettbewerb veranstaltet, auf welche Weise dem
    Mittelstand zusätzliche Steuern aufgebürdet wer­
    den könnten. Den Solidaritätszuschlag soll der
    Mittelstand weiter zahlen, der Verlustabzug bei
    Finanzanlagen soll eingeschränkt werden, und nun
    soll auch die Vermögensteuer wieder eingeführt
    werden, damit es in Deutschland angeblich wieder
    gerechter zugehe.
    Die Vermögensteuer ist aber weder gerecht
    noch so zial, sie ist wirtschaftsschädigend und da­
    mit un sozial, ungerecht und mittelstandsfeindlich.
    Die Befürworter der Vermögensteuer berufen
    sich in erster Linie auf die Vermögensverteilung in
    Deutschland. Aber die Vermögensteuer bewirkt
    keineswegs eine Besserstellung von wirtschaftlich
    Schwächeren. Sie konfisziert lediglich Vermögen.
    Genau genommen ist sie deshalb eine Ver staat­
    lichung von Vermögen. Sie entzieht gerade den
    mittelständischen Unternehmen Eigenkapital, das
    für ihre Entwicklung von großer Bedeutung ist.
    Die Befürworter der Vermögensteuer verweisen
    gern auf die Schweiz, in der eine Vermögensteuer
    erhoben wird. Sie verschweigen aber, dass von 36
    OECD­Staaten nur noch drei eine Vermögensteu­
    er kassieren. In der Schweiz gilt sie mittlerweile als
    Auslaufmodell. Außerdem liegt die Steuerbelas­
    tung in der Schweiz insgesamt erheblich unter
    dem Hochsteuerniveau in Deutschland.
    Die Vermögensteuer soll privates Vermögen in
    Gestalt von Kunstgegenständen, Schmuck, Edel­
    metall und anderen Werten betreffen. Deren Er­
    fassung, wie auch das von Betriebsvermögen, ist
    äußerst schwierig; sie würde zu nahezu unüber­
    windlichen Bewertungsproblemen führen, zu ei­
    ner Vielzahl von Verfahren vor den Finanzgerich­
    ten und zu einer unerträglichen Verletzung der
    Privatsphäre. Der bürokratische Aufwand wäre
    enorm, für die Steuerpflichtigen ebenso wie für


den Fiskus. Dieser Aufwand würde nicht nur die
Gewinne der mittelständischen Unternehmen
mindern – und damit die Ertragsteuern –, sondern
würde aufseiten des Staates auch mehr Personal er­
fordern – und damit höhere Steuern. Ein großer
Teil des Vermögensteuer­Aufkommens würde also
bereits durch höhere Kosten des Fiskus aufgezehrt
und stünde keineswegs, wie behauptet wird, für
Infrastruktur­Projekte zur Verfügung.
Die fatalsten Auswirkungen hat die Vermögen­
steuer dann, wenn ein Unternehmen sie zu ent­
richten hat, seine Erträge dafür aber nicht ausrei­
chen. Dann muss das Unternehmen Vermögen
veräußern. Zwangsverkäufe verringern die Kapi­
talbasis mittelständischer Unternehmen und be­
günstigen Wettbewerber aus Niedrigsteuerlän­
dern. Will die SPD das?
Eine Vermögensteuer ist unsozial, weil sie die
Erträge und die Investitionsmöglichkeiten der
Unternehmen erheblich einschränkt und damit
den Spielraum für höhere Löhne und für die Betei­
ligung der Arbeitnehmer am Unternehmenskapi­
tal einengt – von der Gefährdung bestehender
Arbeitsplätze ganz zu schweigen.
Zu geradezu grotesken Ergebnissen würde die
Vermögensteuer bei Immobilieneigentum führen.
Eine breite Eigentumsstreuung ist gesellschaftlich
wünschenswert, denn sie verringert die Abhängig­
keit der Bürger von Vermietern und trägt zur in­
dividuellen Alterssicherung bei. Deshalb ist es eine
positive Entwicklung, dass die Deutschen gerade
vermehrt Wohneigentum kaufen. Angesichts der
gestiegenen Grundstückspreise würden viele Im­
mobilien jedoch schnell die für die Vermögensbe­
steuerung vorgesehenen Schwellenwerte erreichen.
Damit geriete die Kalkulation für die Alterssiche­
rung oder die Eigennutzung völlig aus den Fugen.
In zahllosen Fällen würde die Vermögensteuer
zu einer verfassungswidrigen Substanzbesteuerung
und damit in letzter Konsequenz zur Enteignung
führen. Nehmen wir als Beispiel eine Frau, die In­
haberin eines Handwerksbetriebes in Berlin ist. Als
Altersversorgung hat sie in Kreuzberg vor zehn
Jahren ein Mietshaus erworben, für einen damals
marktgerechten Preis. Mittlerweile ist der Wert der
Immobilie auf das Dreifache gestiegen, ihr Ver­
mögen hat sich also verdreifacht. Die Einnahmen
sind aber gleich geblieben, denn die Mieten kann
oder will die Eigentümerin nicht erhöhen. Müsste
diese Frau künftig Vermögensteuer zahlen, bliebe
ihr am Jahresende ein Negativergebnis. Sie wäre
also gezwungen, zuzuschießen oder das Haus zu

verkaufen. Als Käufer bietet sich ein Immobilien­
fonds aus einem Steuerparadies an. Ist das gerecht?
Vor solchen Zwangsverkäufen wären wirklich
reiche Bürger gefeit. Das würde dazu führen, dass
besonders Reiche immer reicher würden. Ist das
sozialdemokratisch?
Zu erinnern ist schließlich daran, dass die Ver­
mögensteuer nach der Rechtsprechung des Bun­
desverfassungsgerichts nur so bemessen werden
darf, dass sie zusammen mit den sonstigen Steu­
erbelastungen die Substanz des Vermögens, den
Vermögensstamm, unberührt lässt und aus übli­
chen Erträgen bezahlt werden kann. Das Grund­
gesetz, mit anderen Worten, verbietet eine
schrittweise Kon fis ka tion, die den
Steuerpflichtigen übermäßig be­
lasten und seine Vermögensver­
hältnisse grundlegend beeinträch­
tigen würde.
Die Überschrift für die von
Ludwig Erhard konzipierte sozia­
le Marktwirtschaft hieß »Wohl­
stand für alle«. In den gesell­
schaftlichen Alltag übersetzt muss
das heißen: »Eigentum für mög­
lichst viele«. Die Politik, und vor
allem die Sozialdemokratie, sollte
sich daher darum bemühen, die
Eigentumsbildung in Gestalt von
Wohneigentum, durch die Grün­
dung von kleinen und mittleren
Unternehmen, durch die Beteili­
gung von Arbeitnehmern an den
Unternehmen und wo immer an
anderer Stelle zu fördern, statt
den Menschen und dem Mittelstand immer
mehr Steuern aufzubürden und damit Eigen­
tumsbildung zu erschweren.
Ungleiche und ungerechte Besteuerung auszu­
gleichen ist gewiss eine wichtige Aufgabe. Die
krassesten Unterschiede bestehen heute aber of­
fenkundig in der übermäßigen Besteuerung der
arbeitenden Menschen und der mittelständischen
Unternehmen in Deutschland gegenüber einer
allenfalls marginalen Besteuerung der immer
mächtiger werdenden internationalen Internet­
Unternehmen wie Google, Twitter, Face book,
Amazon oder Apple und wie sie alle heißen. Da­
gegen vorzugehen ist für die Politik sicherlich
keine leichte Aufgabe. Aber sie würde sich lohnen.
Für die SPD und Olaf Scholz sollte dies eine ihrer
Hauptaufgaben sein.

Otto Schily war
von 1998 bis 2005
Bundesinnenminister.
Der 87­jährige Sozial­
demokrat, der einst die
Grünen mitgegründet hat,
ist Rechtsanwalt
und lebt in Berlin

Eine Vermögensteuer ist weder gerecht


noch sozial. Gerade Sozialdemokraten sollten


die Finger davon lassen


VON OTTO SCHILY

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Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Foto: Getty Images

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 STREIT 11


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