26 WIRTSCHAFT 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
In Santiago schließt die Polizei in der vergangenen Woche gewaltsam eine U-Bahn-Station
Foto: Shutterstock
Straßenkampf um ein paar Cent
Wieder stehen in Chile Soldaten und Protestierende einander gegenüber. Woher kommt die Wut der Bürger? VON THOMAS FISCHERMANN
E
s ist ein schlechtes Zeichen, wenn
ein Armeechef erklären muss: Er
führe gerade keinen Krieg, auch
wenn alle finden, dass es so aus-
sieht. Am Sonntag rollten Panzer
durch die Straßen von Santiago,
Soldaten wachten über eine abend-
liche Ausgangssperre in der chilenischen Haupt-
stadt, und der General Javier Iturriaga stellte klar: Er
sei »ein glücklicher Mensch«, und er führe »keinen
Krieg gegen niemanden«.
Da hatten aber schon elf Menschen an einem
Wochenende voller Tumulte ihr Leben verloren,
mindestens 239 wurden verletzt, aus insgesamt 70
Städten gab es Meldungen zu gewalttätigen Protesten
gegen die Regierung. Vielerorts wurde von harten
Übergriffen durch die Polizei und andere Sicherheits-
kräfte berichtet, und der Staatspräsident Sebastián
Piñera hatte die Soldaten zu Hilfe gerufen.
Wenn in Lateinamerika Panzer rollen und Soldaten
die Straßen besetzen, erinnert das immer an die bruta-
len Militärdiktaturen der Sechziger- bis Achtzigerjahre.
Damals traten in mehreren Ländern autoritäre Ge-
nerale an und legten auch umfassende Wirtschaftsrefor-
men auf – solche, die in demokratischen Gesellschaften
wohl am öffentlichen Widerstand gescheitert wären,
weil sie große Opfer bei Teilen der Gesellschaft forder-
ten. Andersdenkende ließen die Generale zu Zehn-
tausenden foltern und töten.
Chile war ein besonders berüchtigter Fall. Der
durch einen Staatsstreich an die Macht gekommene
General Augusto Pinochet peitschte in seinem Land
zwischen 1974 und 1990 ein radikal wirtschaftslibera-
les Programm durch, für das er von Volkswirten der
Universität Chicago beraten wurde.
So ist über die Proteste vom Wochenende die Er-
zählung aufgekommen, in einigen internationalen
Medien und in Chile selbst: Es sei eigentlich der seiner-
zeit gesäte »Neoliberalismus«, der in Chile jetzt in ei-
nem Volkssturm untergehe. Auf einigen Protestplaka-
ten war tatsächlich vom verhassten »Erbe Pinochets«
die Rede, die Universitätspublikation Diario U Chile
titelte über den »neoliberalen Kollaps des Landes«, die
Schriftstellerin Isabel Allende – eine Nichte des von
Pinochet einst abgesetzten Präsidenten Salvador Allen-
de – gab dem »Neoliberalismus« die Schuld am Chaos
auf den Straßen. Aber stimmt das so auch?
Millionen von Menschen glaubten an baldigen
Wohlstand – nun sind sie bitter enttäuscht
Die Demos begannen vergangene Woche in Santiago,
als Schüler- und Studentenproteste gegen eine Fahr-
preiserhöhung im Nahverkehr. Der Preis für ein Ticket
war Anfang Oktober von 800 auf 830 Pesos gestiegen,
also von umgerechnet 99 Eurocent auf 103 Eurocent.
Busse und U-Bahn-Stationen brannten, Supermärkte
und Fabriken wurden geplündert – wegen ein paar
Cent mehr pro Fahrkarte?
Dass dahinter mehr stecken muss, kann man
allein daraus schließen, dass das Phänomen kein
rein chilenisches ist. Straßenproteste, die sich an
scheinbar geringfügigen wirtschaftlichen Anlässen
explosiv entladen, gab es in der jüngsten Zeit häu-
figer in Lateinamerika. Sie traten in unterschiedli-
chen politischen Konstellationen auf.
In Argentinien etwa sind am kommenden Wo-
chenende Präsidentschaftswahlen, und der wirt-
schaftsliberale Amtsinhaber Mauricio Macri muss
aller Voraussicht nach seinen Stuhl räumen (ZEIT
Nr. 35/19). Er war 2015 angetreten, um einen wirt-
schaftlichen Scherbenhaufen aufzusammeln, den
seine Amtsvorgängerin, die Linkspolitikerin Cris-
tina Fernández hinterlassen hatte. Macri kam aber
nicht weit: Mehrere Reformversuche, vor allem
seine Sparpläne, lösten auch in Argentinien gleich
bittere Straßenproteste aus, denen Macri sich immer
wieder beugen musste. Von seinen eigenen An-
hängern wird ihm jetzt vorgeworfen, dass er so
wenig von seinen Versprechungen umgesetzt hat.
In Ecuador will ein Mitte-rechts-Politiker, der
Staatschef Lenín Moreno, seit 2017 die Wirtschaft
nach zehn Jahren Linksregierung reformieren. Er
kommt dabei ebenfalls nicht weit. Anfang Oktober
brachen in Ecuador gewaltsame Proteste aus, als der
Präsident ein Sparprogramm auflegte und unter
anderem den schwer subventionieren Benzinpreis
des Landes erhöhte. Moreno musste sogar seinen
Regierungssitz vorübergehend in eine andere Stadt
verlegen, um handlungsfähig zu bleiben.
Die Wutausbrüche treffen nicht nur liberale
Reformer. In Brasilien trugen Straßenproteste von
2013 bis 2016 wesentlich dazu bei, dass die linke
Präsidentin Dilma Rousseff aus dem Amt gejagt
wurde: Sie wurden davon genährt, dass einerseits
die Konjunktur schwächelte und andererseits im-
mer neue Nachrichten über eine korrupte Elite in
Wirtschaft und Politik herauskamen. Und seit dem
Wochenende steckt Bolivien in der Krise: Zum
Redaktionsschluss war nicht klar, ob der seit 2006
regierende Linkspolitiker Evo Morales am Sonntag
erneut die Wiederwahl zum Staatschef geschafft
hat, ob er in eine Stichwahl muss oder ob er die
Macht gar durch einen Wahlbetrug an sich reißen
will. Dort drohen jetzt wochenlange Proteste.
Einig sind sich viele Lateinamerikaner offenbar
gerade, über unterschiedliche Regimes hinweg, dass
sie mit der Wirtschaftslage tief unzufrieden sind
und dass sie es den Politikern heimzahlen wollen.
Es ist ein Problem enttäuschter Erwartungen. Zu
Beginn des Jahrtausends schienen viele Länder
dieser Region auf dem Sprung an die Spitze der
Weltwirtschaft zu stehen, Millionen von Menschen
schafften kurzfristig den Schritt aus der Armut und
stellten sich bereits auf einen soliden Wohlstand
ein. Doch seither ist die Leistungsfähigkeit ihrer
Volkswirtschaften auf schlechtes Mittelmaß zurück-
gefallen, vielerorts steigt die Arbeitslosigkeit, Sozial-
programme werden nicht weiterfinanziert, Löhne
stagnieren oder sinken. Teils wegen der schwachen
Nachfrage an den Rohstoffmärkten, denn viele
lateinamerikanische Länder leben vom Export von
Mineralien und Agrarprodukten, teils wegen haus-
gemachter Probleme wie Korruption, Bürokratie
und Protektionismus.
Das ist aber auch noch nicht die ganze Geschich-
te – wie der Blick auf Chile zeigt. Chiles außerge-
wöhnlich liberale Wirtschaftsordnung – bis heute
ein Sonderfall in Lateinamerika – funktioniert ober-
flächlich betrachtet gar nicht so schlecht. Immerhin
wächst die Wirtschaft im Jahr derzeit um zwei bis
drei Prozent, obwohl es beim wichtigen Export-
produkt Kupfer nicht gut läuft. Die Arbeitslosen-
quote ist mit rund sieben Prozent stabil, obwohl
zuletzt eine Million Migranten aus Venezuela ge-
kommen sind. Sogar die schlimmste absolute Ar-
mut wurde reduziert: Sie betrifft nicht mehr 40 Pro-
zent der Bevölkerung wie noch Anfang der Neun-
zigerjahre, sondern bloß noch zehn Prozent.
Die meisten Chilenen sind, anders als es manche
Protestplakate und Schlagzeilen suggerieren, nicht
grundsätzlich gegen eine liberale Wirtschaftsord-
nung eingestellt. Das fängt damit an, dass sie den
Präsidenten Sebastián Piñera – einen weißhaarigen
Finanzinvestor, der Milliarden auf dem Konto hat
und ausgesprochen wirtschaftsliberal daherredet –
2017 zum zweiten Mal gewählt haben. Piñera
spricht viel von einer Stärkung des Privatsektors.
Beim näheren Betrachten hat die chilenische
Wirtschaft allerdings gleich mehrere schwere Pro-
bleme. Trotz der Erfolge bei der Armutsbekämpfung
ist die Einkommensverteilung immer noch extrem
ungleich, selbst für lateinamerikanische Verhältnis-
se, die soziale Mobilität ist gering. Interessanterwei-
se sind es eher Chilenen aus der Mitte der Einkom-
mensverteilung, die in diesen Tagen auf die Straße
gehen: Auch sie finden, dass sie im alltäglichen Wirt-
schaftsleben himmelschreienden Ungerechtigkeiten
ausgesetzt sind.
Da ist zum Beispiel die Ausbildung an den Uni-
versitäten, die privat bezahlt werden muss. Sie treibt
viele Absolventen in jahrelange Schuldendienste
und schreckt manche Kinder aus der unteren Mit-
telschicht ganz vom Studium ab. Da ist die vielfach
miserable Gesundheitsversorgung, für die man in
Chile ebenfalls bezahlen muss. Private Kranken-
versicherungen sind ausbeuterisch teuer und voller
Abdeckungslücken. Und da ist das besonders kon-
troverse, komplett privatisierte Rentensystem:
Private Betreiber von Pensionsfonds verlangen in
Chile hohe Gebühren und setzen das zurückgeleg-
te Kapital vielfach für eigene Zwecke ein – für die
Pensionäre bleibt am Ende wenig.
Die Bürger sehen sich in der Hand
einer übergriffigen Elite
Für die Chilenen wird das insofern schlimmer und
teurer, da es kaum wirksamen Verbraucherschutz
gegen betrügerische Finanzunternehmen, Versiche-
rer oder Telefondienstleister gibt. Viele Menschen
fühlen sich ausgebeutet von reichen Oligopolen –
die nicht etwa in einer freiheitlichen »neoliberalen«
Wirtschaftsordnung operieren, sondern in einem
abgekarteten Spiel. Sie sehen sich in der Hand einer
übergriffigen Elite, gegen die ihre Regierung nichts
unternimmt. Diese Einstellung ist in vielen Ländern
Lateinamerikas typisch, vom »neoliberalen« Chile
bis zum radikal sozialistischen Venezuela.
Diesen Mix aufgestauter Frustrationen muss man
verstehen, um zu begreifen, warum die Wochenend-
Proteste in Chile außer Kontrolle gerieten. Gegen
Fahrpreiserhöhungen war in Chile schon mehrfach
demonstriert worden, obwohl es dabei letztlich nicht
um viel Geld geht. Am Wochenende kam dann eine
Serie ungeschickter, arroganter Äußerungen von
Regierungsmitgliedern hinzu – allen voran von
Staatspräsident Piñera, der sich in einem Luxusres-
taurant ablichten ließ und von einem »Krieg gegen
einen mächtigen Feind« redete. Wobei nicht ganz
klar wurde, ob er damit chilenische Demonstranten
oder subversive Kräfte aus dem sozialistischen Vene-
zuela meinte.
Schließlich brach dann in ganz Santiago und in
anderen Städten der öffentliche Nahverkehr zu-
sammen, weil die Sicherheitskräfte alles absperrten,
was Millionen Menschen auf den Straßen stranden
ließ. Die Ausgebremsten konnten dann gleich ge-
meinsam mit den Studenten demonstrieren – und
ihren Frust über Chiles alles andere als gut funk-
tionierenden »Neoliberalismus« kundtun.
CHILE
SÜD
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