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os ging es mit Ibuprofen. Das
Schmerzmittel wurde in Deutsch-
land 2018 zeitweise knapp, weil
eine wichtige Produktionsstätte in
den USA ausgefallen war. Zeit-
gleich fehlte es an dem Blutdruck-
senker Valsartan – er wurde wegen
Verunreinigungen zurückgerufen. Und in diesem
Jahr wurde es richtig schlimm.
In den vergangenen Monaten gab es hierzulande
Lieferprobleme bei Epilepsie-, Schilddrüsen-, Par-
kinson-, Allergie- und Schmerzmedikamenten, bei
Antibiotika, Krebstherapeutika und Impfstoffen wie
gegen Tollwut. »Wir schrammen knapp an richtig
großen Problemen und einem echten Patientenscha-
den vorbei«, sagt Frank Dörje, Leiter der Apotheke
des Universitätsklinikums Erlangen und Präsident
des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapo-
theker. »In einem der reichsten Länder der Welt
haben wir ein extremes Systemversagen.«
Genau 264 Fälle von Lieferengpässen wurden
bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe beim
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro-
dukte gemeldet (siehe Grafik), und der Graubereich
ist groß: Hersteller melden Lieferengpässe freiwillig.
Der Arzneimittel-Großhändler Noweda nennt allein
2216 Medikamente, die von Juni bis August 2019
nicht lieferbar waren. Wie kann das sein?
Der Bundestagsabgeordnete Andrew Ullmann
hat dazu eine sogenannte Kleine Anfrage an die
Bundesregierung gestellt. Antwort aus dem Gesund-
heitsministerium: »Lieferengpässe bei Arzneimitteln
sind nicht mit therapeutisch relevanten Versorgungs-
engpässen für Patientinnen und Patienten gleich-
zusetzen«, weil ja oft Alternativen bereitstünden. Aus
Sicht des Liberalen Ullmann ist das eine Ausrede:
»Die Bundesregierung versucht, zu beschwichtigen
und ihr eigenes Versagen zu vertuschen. Der Wille,
tätig zu werden, ist nicht erkennbar.« Der SPD-Abge-
ordnete und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach
sieht eine »Verharmlosung« der Lage: »Es fehlen teil-
weise lebenswichtige Medikamente, für die es keine
Alternativen gibt« – oder bloß schlechte und teure.
Wer versucht, die Gründe der Knappheit zu ver-
stehen, erlebt eine Szene, die das Schuld-von-sich-
Weisen perfektioniert hat – und die dabei die enor-
me Unübersichtlichkeit des Pharmamarkts ausnutzt.
Was für die Patienten eine Gefahr darstelle, sagt der
SPD-Politiker Lauterbach, sei für die Hersteller »eine
günstige Gelegenheit, um Lobbyarbeit zu betreiben«.
Auf der einen Seite ist der Markt davon geprägt,
dass sich das Geschäft mit den Wirkstoffen konzen-
triert: »Es gibt eine Monopolisierung bei den Wirk-
stoffherstellern«, sagt Jürgen Wasem, Professor für
Medizinmanagement an der Universität Duisburg-
Essen. Häufig bestellten mehrere Pharmaunterneh-
men bei einem einzigen Wirkstoffhersteller – gehe
bei dem etwas schief, sei schnell die ganze Branche
lieferunfähig. Selbiges gilt, wenn Krankenkassen mit
nur einem einzigen Hersteller einen Vertrag für viel
benötigte Medikamente abschließen.
Dazu kommt: Um die Kosten zu drücken, ar-
beiten viele Arzneimittelhersteller mit Lohnherstel-
lern im Ausland zusammen. Vier von fünf Wirk-
stoffen werden heute in China und Indien produziert.
Zeitliche Puffer würden dabei meist nicht eingeplant,
berichtet ein auf Produktionsketten spezialisierter
Berater. Kommt es also zu Verzögerungen, macht
sich das sofort bei den Apotheken bemerkbar. Kran-
kenhausapotheker Dörje sagt: »Die Hersteller haben
den letzten Cent aus der Lieferkette herausgepresst.
Es geht nur noch um Kostensenkung.«
Galt Deutschland lange als Land teurer Medika-
mente, sind manche Arzneien hierzulande heute
günstiger als im EU-Ausland. Das liegt in erster Linie
daran, dass Krankenkassen die Preise für Medika-
mente, deren Patentschutz abgelaufen ist, alle zwei
Jahre neu verhandeln. Durch die Rabattverträge
sparen sie jährlich 4,5 Mil liar den Euro. Vor allem
diese Rabatte werden von Pharmafirmen immer
wieder für die Engpässe verantwortlich gemacht. Das
nennt SPD-Mann Lauterbach »ein klassisches Ab-
lenkungsmanöver«. Die Branche realisiere Margen
von über 15 Prozent, daher sei es attraktiv, das Ge-
schäft mit rabattierten Generika zu vernachlässigen.
Attraktiv ist dagegen das Geschäft mit neuen Prä-
paraten, deren Preise die Hersteller für kurze Zeit frei
bestimmen dürfen. Nach einem Jahr wird jedes neue
Medikament von einem durch die Kassen
finanzierten Institut geprüft. Ergibt dieser Test kei-
nen Zusatznutzen gegenüber älteren Arzneien,
können die Kassen mit dem Hersteller leicht einen
Nachlass aushandeln. 2018 war das etwa bei einem
HIV-Medikament der Fall, der Preis für eine Drei-
monatspackung fiel um rund 1300 Euro. Im Ausland
war es danach mitunter einige Hundert Euro teurer.
Solche Preisunterschiede wiederum locken Ge-
schäftemacher an, die Medikamente in günstigen
Ländern einkaufen und dort verkaufen, wo sie den
höchsten Preis erzielen. Daten der Europäischen
Arzneimittel-Agentur aus Amsterdam zeigen, dass
solche grenzüberschreitenden Geschäfte seit 2011
enorm zugenommen haben (siehe Grafik).
Wenn eine Vielzahl von Händlern Preisunter-
schiede ausnutzt, ist das nicht per se ein Problem,
im Pharmamarkt vergrößert es aber die Intranspa-
renz. Nicht nur Großhändler sind in dem Markt
aktiv, auch Pharmazeuten haben den internationa-
len Handel entdeckt. Im vergangenen Jahr machte
der Fall einer Apothekerin aus Schleswig-Holstein
Schlagzeilen, die sich so 50.000 Euro dazuverdient
hatte. Hört man sich unter Apothekern um, fallen
oft Sätze wie: »Ich mache das nicht, aber andere tun
es.« Etwa 3000 Großhandelslizenzen wurden in
Deutschland beantragt, und rund 1500 Apotheken
verfügen zudem über eine Versandhandelserlaubnis.
Verkaufen also hiesige Apotheker große Mengen
an Medikamenten ins Ausland – und riskieren so
Engpässe in der Heimat? Den Eindruck erweckt
zumindest das Interview eines Pharmamanagers von
AstraZeneca im Branchenmagazin Apotheke Adhoc.
Sein Unternehmen habe »teilweise 70 Prozent mehr
Arzneimittel ausgeliefert, als Nachfrage auf dem
deutschen Markt bestand«, sagt Deutschlandchef
Dirk Greshake. Dass Apotheken trotzdem Eng-
pässe beklagten, könne man sich nur so erklären,
»dass der Großhandel oder Apotheker die Ware in
erheblichem Ausmaß in andere europäische Länder
exportieren«. Die Margen seien zu verlockend. Auf
diese Kritik angesprochen, teilte die Bundesvereini-
gung Deutscher Apothekerverbände der ZEIT mit,
dass man ȟber das Marktverhalten einzelner Her-
steller« keine Daten habe. Man habe aber jüngst
intensiv über die Lieferengpässe diskutiert. »Zu den
wichtigsten Forderungen der Apothekerschaft ge-
hört ein Exportverbot«, teilte die Vereinigung mit.
Großhändler wiederum verweisen auf die Her-
steller. Diese würden nur begrenzte Mengen in den
Markt liefern. Dieses sogenannte Kontingentieren
ist weitverbreitet: Sechs Seiten lang ist das interne
Dokument eines Großhändlers, das der ZEIT vor-
liegt und in dem Arzneimittel aufgelistet sind, mit
denen der Händler nicht ausreichend beliefert wird.
Das Papier namens »Kontingentartikel« umfasst 32
Hersteller, darunter sechs der zehn weltgrößten
Pharmakonzerne. »Von 100 Packungen, die wir be-
stellen, bekommen wir nur 70«, erzählt ein Ein-
käufer, der nicht namentlich genannt werden will.
Die Pharmaproduzenten geben sich unschuldig:
»Unternehmen lassen es nicht leichtfertig zu Liefer-
problemen kommen«, heißt es beim Verband For-
schender Arzneimittelhersteller, »denn sie leben
davon, dass sie Medikamente verkaufen können.«
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
antwortet: »Pharmazeutische Unternehmen wollen
immer liefern.« Engpässe lägen »oft nicht im Ein-
flussbereich der Hersteller«.
An dieser Stelle möchte Kordula Schulz-Asche
von den Grünen ansetzen. Die Bundestagsabgeord-
nete wirbt für eine Meldepflicht nach US-amerika-
nischem Vorbild. Seitdem die Warenströme von
Wirkstoffen und Medikamenten rigoros überwacht
werden, »hat sich die Zahl der Engpässe in den USA
halbiert«, sagt die Politikerin. Transparenz fordert
auch Ökonom Wasem: »Müssten Hersteller ihre
Wirkstofflieferanten öffentlich machen, würden
Patienten und Krankenkassen gern einige Cent mehr
für die in Europa produzierte Arznei ausgeben.«
Dem SPD-Bundestagsabgeordneten Lauterbach
reicht das nicht: Er möchte die Hersteller sanktio-
nieren. Wer einen Rabattvertrag unterschrieben
habe, müsse auch liefern, sonst werde er eben nicht
mehr von den Krankenkassen berücksichtigt. Au-
ßerdem sollte die Produktion lebensnotwendiger
Arzneien nach Europa zurückgeholt werden. »Gern
sollen die Hersteller dann auch eine Abnahmega-
rantie bekommen«, sagt er.
Bisher tut sich die Regierung schwer, das Problem
anzugehen. Aus dem Gesundheitsministerium heißt
es nur, man habe einen Jour fixe mit Vertretern der
Pharmabranche eingerichtet und erörtere dort »alle
denkbaren Maßnahmen, um Lieferengpässe zu ver-
meiden, der Entstehung von Engpässen vorzubeu-
gen und deren Auswirkungen abzumildern«. Kran-
kenhausapotheker Dörje besucht den Gesprächskreis
seit 2016. Dort sei es lange vor allem darum ge-
gangen, »warum wer keine Schuld hat«, sagt er.
Die Verantwortlichkeiten sollen nun erst mal von
Experten geklärt werden. Das fordert jedenfalls der
CDU-Gesundheitspolitiker Michael Hennrich:
»Wir brauchen ein unabhängiges, wissenschaftliches
Gutachten zu den Ursachen. Wir werden erleben,
dass alle Akteure Mitschuld tragen.« Zurzeit arbeitet
der Parlamentarier an einem Positionspapier, das
irgendwann in eine Gesetzesinitiative münden
könnte. Er plädiert für mehr Transparenz, eine Mel-
depflicht bei Lieferproblemen und eine nationale
Arzneimittelreserve. »Für versorgungungsrelevante
Arzneimittel und wenn ein Engpass droht«, so der
Politiker, »sollten wir auch Exportverbote erlassen.«
A http://www.zeit.deeaudio
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WIRTSCHAFT 25
Die Mutter Sylke Thomaschewski,
49, aus Seesen am Harz:
»Meine 14-jährige Tochter leidet
unter dem Dravet-Syndrom, einer
genetisch bedingten Form der Epi-
lepsie. Ein Medikament, mit dem
wir ihre Anfälle reduzieren konnten,
war im April auf unbestimmte Zeit
nicht lieferbar. Ein Schock, denn
sein Wirkstoff macht abhängig, es
gab keine Alternativen. Aus Angst,
dass meine Tochter einen Entzug
durchmachen muss, habe ich bei
Facebook dazu aufgerufen, in Apo-
theken vor Ort nachzufragen. Drei
Monate mussten wir so überbrü-
cken. Jetzt lege ich einen Vorrat an.«
Die Apothekerin Jutta Bannert,
39, aus Bremen:
»Es ist frustrierend, wenn man den
Patienten versorgen möchte und es
nicht kann. Die Lieferengpässe kos-
ten rund 15 Prozent der Arbeitszeit
meines Teams. Wir telefonieren
Großhändler und Apotheken ab,
um die knappe Arznei doch noch zu
besorgen. Mich ärgert es, wenn Pa-
tienten umgestellt werden müssen,
weil Hersteller die vertrauten Medi-
kamente nicht liefern. Ich wünsche
mir eine zentrale Stelle auf Bundes-
ebene, an die auch wir drohende
Engpässe kurzfristig melden können
- und nicht nur die Industrie.«
Ungewollter Entzug
761
Mio.
23
Mrd. €
594
Mio.
25
Mrd. €
641
Mio.
33
Mrd. €
6 61
Mio.
43
Mrd. €
Umsatz Verordnungen
2011
2018
5
10 5
2013 2016 2019 *Stand Redaktionsschluss
42
Meldungen
81
Meldungen
Weniger Rezepte, höhere Kosten
Zahl der pro Jahr verordneten Arzneimittel aller gesetzlichen
Krankenkassen und der mit diesen Medikamenten erzielte Umsatz
Medikamente, die fehlen
Zahl der von den Herstellern freiwillig
gemeldeten Lieferengpässe
Immer mehr Exporte
Zahl der patentgeschützten Arzneimittel, die aus
Deutschland in andere EU-Länder exportiert werden
ZEIT-GRAFIK: Jelka Lerche; Quellen: BfArM, Arzneiverordnungs-Report 2019, vfa auf Grundlage der Anmeldungen bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur
2002 2007 2012 2018
264 *
Meldungen
Im Notfall bitte hamstern
Bei wichtigen Medikamenten häufen sich Lieferprobleme. Die Ursachen herauszufinden ist aber gar nicht so einfach VON KATHARINA HECKENDORF
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