Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1
Ein Land im fröhlichen Ausnahmezustand. Massenkundgebung in der Hauptstadt Beirut

Der Protest als Fest


Plötzlich ist im Nahen Osten wieder ein Volk im Aufstand. Im Libanon fordern


Hunderttausende friedlich den Rücktritt der Regierung VON LEA FREHSE


Beirut

A


lle heißt alle«, rufen die Demons-
tranten im Libanon seit vergan-
gener Woche. Allein am Sonntag
waren Hunderttausende Bürger
auf den Straßen – bei einer Be-
völkerung von knapp über vier
Millionen. Sie protestieren fried-
lich gegen Korruption und schlechte Lebensbedin-
gungen, und sie eint ein Wunsch: Die Oligarchen,
welche das Land seit mehr als 30 Jahren regieren,
sollen abtreten. Und zwar alle.
Die Protestwelle folgte einer Ankündigung der
Regierung, künftig eine Steuer auf WhatsApp-
Anrufe zu erheben. Doch die Steuer war schon auf
der ersten Kundgebung Nebensache. Stattdessen
fordern die Demonstranten den »Sturz des Sys-
tems«. Es ist ein Slogan der »Arabellionen« von
2011 – dabei ist der Libanon keine Diktatur.
Statt einem Machthaber beherrschen sechs
Parteiführer die Geschicke des Landes. Es wird
gewählt, doch dienen die Posten in Parlament und
Regierung den Herrschern vor allem dazu, Pfrün-
den an die eigenen Anhänger zu verteilen, um sich
deren Loyalität zu sichern. Oder sie bedienen sich
gleich selbst an den öffentlichen Kassen. Die Fol-
gen im Alltag: Das Leitungswasser ist so ver-
schmutzt, dass es krank macht; der Strom fällt
ständig aus; Mobilfunkkosten sind horrend, und
die Kluft zwischen Arm und Reich ist enorm.
Diese Kleptokratie im Mantel der Demokratie
wollen die Demonstranten stürzen.
Dass die Bürger erst jetzt aufbegehren, liegt auch
an den Gräben, die das System zementiert. Liba-
nons Parteien repräsentieren die verschiedenen
Konfessionen im Land (darunter Schiiten, Sunni-
ten, maronitische Christen); die Regierungsposten
werden nach Quoten unter ihnen aufgeteilt. In den
1990er-Jahren half dieser Kompromiss, den Bürger-
krieg zu beenden. Inzwischen lähmt er das Land.
Als sich 2015 der Müll in Beiruts Straßen türm-
te, weil die Verwaltung nicht rechtzeitig für neue
Deponien gesorgt hatte, gingen schon einmal
Hunderttausende auf die Straßen. Damals wurden
die Proteste schließlich von Schlägertrupps der ein-
flussreichen schiitischen Amal-Partei zerschlagen.
Dass das bislang nicht geschehen ist, hat auch mit
dem Ausmaß der Krise zu tun. Libanons Wirt-
schaft steht seit Monaten kurz vor dem Kollaps –
auch Amal-Anhänger haben kaum noch Anreize,
für das System einzustehen.
Zudem brechen die jüngsten Proteste das etab-
lierte Proporzsystem von innen auf. Auf den Stra-
ßen protestieren Libanesen aller Konfessionen und
jedes Alters. Sie schwenken keine Parteifahnen,


sondern libanesische Flaggen. Brannten am ersten
Abend in Beirut noch Barrikaden, glich die Stim-
mung an den Tagen darauf eher einem Volksfest.
Völlig neu ist, dass die Proteste alle Landesteile er-
fasst haben. Auch jene, in denen die Iran-nahe
Hisbollah dominiert.
Die Bedeutung der Proteste reicht aus zwei
Gründen weit über den Libanon hinaus. Zum ei-
nen sind die Libanesen nicht allein. Der Irak und
auch Ägypten haben jüngst Proteste gegen ähnliche
Missstände erlebt. Wie der Libanon sind auch jene
Staaten für den Großteil ihrer Bürger kaum mehr
als leere Hüllen. Sie geben ihnen zwar Personalaus-
weise, können ihnen aber kein Leben in Würde
garantieren. In den anderen Ländern der Region
werden die Proteste meist gewaltsam unterdrückt.
Zumindest davor scheint die Fragmentierung des
Landes die Libanesen zu schützen; die Staatsgewalt
ist schlicht nicht einig und stark genug.
Zum anderen beschäftigten die Proteste auch
das Regime in Teheran. Der gewachsene Einfluss
des Iran in der Region fußt auf Gruppen wie His-
bollah. Die inszenierte sich im Libanon lange als
Gegengewicht zu den korrupten Mächtigen. Ihre
religiösen Anführer, allen voran Hassan Nasrallah,
galten als unbestechlich. Doch Hisbollah stellt
längst selbst Minister. Und auch wenn sich bislang
kaum jemand traut, Führer und Partei beim Na-
men zu nennen, schließt die Kritik der Demons-
tranten Hisbollah zunehmend ein. Nachdem sich
Nasrallah am Freitag in einer Fernsehansprache an
die Demonstranten gewandt hatte, schallte ein
neuer Ruf über die Plätze: »Alle heißt alle.« Hisbol-
lah ist also ausdrücklich mitgemeint.
Wer aber sollte den Libanon regieren, wenn
»alle« gingen? Diese Frage lassen die Demonstran-
ten bislang offen – auch damit die Proteste über-
parteilich bleiben. Die Forderungen sind vielfäl-
tig: der Rücktritt der Regierung, ein Übergangs-
kabinett aus Technokraten, Neuwahlen ohne das
alte Proporzsystem.
Premierminister Saad Hariri lehnt einen Rück-
tritt ab und setzt auf Reformen. Anfang dieser
Woche stellte er zahlreiche Neuerungen in Aus-
sicht, darunter Gesetze zur Korruptionsbekämp-
fung, umzusetzen bis Jahresende. Sämtliche ande-
ren Parteien wie auch westliche Staaten haben sig-
nalisiert, dass sie Hariri in seinem Bestreben, die
Regierung zu erhalten, unterstützen – womit His-
bollah und die US-Regierung sich ausnahmsweise
einmal einig wären. Hariri ließ allerdings offen,
warum seiner Regierung in knapp drei Monaten
gelingen sollte, was sie seit Jahren selbst blockiert.
Und die Demonstranten blieben auch nach seiner
Ansprache auf den Straßen.

Foto: Jacob Russell

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 POLITIK 7


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