6 POLITIK 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
»Die EU
fürchtet sich
vor der falschen
Sache«
Der Unterhaus-Abgeordnete Tom Tugendhat war gegen den
Brexit, jetzt unterstützt er den Austritt seines Landes
aus der Union. Wie stellt er sich die neue Partnerschaft vor?
Ein Teil Europas, trotz allem: Big Ben und die
Fassade von Westminster
DIE ZEIT: Herr Tugendhat, das Schicksal des
Brexit-Deals, den der britische Premierminister
Boris Johnson mit der Europäischen Union
ausgehandelt hat, ist weiterhin unklar. Viele
Europäer hoffen immer noch, dass der Brexit
irgendwie vermieden werden kann. Sie selbst
haben bei der Volksabstimmung 2016 für ei-
nen Verbleib Ihres Landes in der EU votiert.
Jetzt denken Sie, dass Großbritannien ausschei-
den muss. Warum?
Tom Tugendhat: Das Vereinigte Königreich hat
die Europäische Union in emotionaler Hinsicht
im Juni 2016 verlassen. Das ist der Zeitpunkt,
zu dem wir gegangen sind. Wir haben die An-
wälte aufgesucht und uns darauf verständigt,
dass wir uns scheiden lassen werden. Die Idee,
dass wir jetzt in die Ehe zurückkommen und
weitermachen könnten – das ist eine Illusion.
Das ist nicht der Punkt, an dem wir nun sind.
Die politische Balance innerhalb der EU hat
sich bereits verändert. Einige Länder, wie etwa
die Niederlande, haben eine Neueinschätzung
ihrer Position vorgenommen. Und die Aussicht
auf eine EU mit 27 Mitgliedern, ohne Groß-
britannien, gefällt ihnen gar nicht schlecht.
Das gilt nicht für Deutschland, mit dem wir
eine außerordentlich enge Beziehung pflegen.
Aber es stimmt nicht, dass wir einfach wieder
reinkommen könnten, als wären wir nie raus-
gegangen.
ZEIT: Nehmen wir an, dass nach all dem poli-
tischen Hin und Her der Brexit tatsächlich
stattfindet. Dann muss immer noch über das
endgültige Verhältnis zwischen Großbritannien
und der EU verhandelt werden. Wie könnte es
aussehen?
Tugendhat: Das Vereinigte Königreich wird
keinen so distanzierten Freihandelsvertrag mit
der EU zu vereinbaren versuchen wie Kanada,
sondern etwas viel Engeres. Sobald die ökono-
mischen Anreize klar sind, wird man zu über-
legen beginnen, wie sich eine möglichst enge
Handelsbeziehung mit der Europäischen Union
bewahren lässt.
ZEIT: Aber das ist unmöglich, wenn Groß-
britannien sich in ein dereguliertes Niedrig-
steuerland verwandelt, das der EU scharfe Kon-
kurrenz macht, so wie manche Brexit-Befür-
worter sich das wünschen. Singapur wird
manchmal als Vorbild genannt.
Tugendhat: Das wird schwerlich passieren.
Großbritannien ist ein Land von 65 Millio-
nen Menschen, die ein gewisses Maß an
Wohlfahrtsstaatlichkeit gewohnt sind. Es sind
keine Amerikaner, es sind keine Singapurer.
Sie haben bestimmte Erwartungen, wie der
Staat, das Individuum und die Wirtschaft zu-
sammenwirken sollen. Das Modell, mit dem
sie sich wohlfühlen, ist nicht deutsch, franzö-
sisch oder italienisch, aber es ist viel mehr
euro päisch als amerikanisch. Wenn die EU
Angst hat, dass es durch die künftige Konkur-
renz Großbritanniens zu einer Absenkung der
sozialen oder ökologischen Standards kom-
men könnte, dann fürchtet sie sich vor der
falschen Sache.
ZEIT: Wovor sollte sie sich fürchten?
Tugendhat: Vor einem wirtschaftlichen Ab-
schwung in Großbritannien und seinen An-
steckungseffekten auf den Kontinent. Denn
die Vorstellung, die EU sei abgeschirmt von
ökonomischen Verwerfungen in Großbritan-
nien, trifft nicht zu.
ZEIT: Wie sollten die Europäer die Verhand-
lungen über das künftige Verhältnis angehen,
damit am Ende beide Seiten profitieren?
Tugendhat: Sie sollten begreifen, dass dies keine
Verhandlung zwischen 27 EU-Mitgliedern und
einem sich bewerbenden Handelspartner ist.
Es ist eine fundamentale Neuverhandlung der
Art und Weise, wie wirtschaftliche Partner-
schaft innerhalb der EU und außerhalb funk-
tioniert.
ZEIT: Im Grunde kehren Sie zurück zum An-
satz des früheren britischen Premierministers
David Cameron, der vor dem Referendum eine
lockerer gefügte, weniger zentralistische EU
durchzusetzen versucht hatte. Cameron war
damals gescheitert.
Tugendhat: Im Grunde sage ich, dass die EU
keine statische Institution ist. Emmanuel Ma-
cron ist mit dem Brexit-Problem richtig umge-
gangen, als er nach dem Referendum sagte:
Wir werden uns ansehen müssen, was die EU
eigentlich ist. Ja, wir brauchen eine Ban ken-
union, der Kern muss fester integriert sein.
Aber gleichzeitig brauchen wir einen äußeren
Kreis, eine Zone flexiblerer Kooperation.
ZEIT: Die schwerwiegendsten Konsequenzen
des Brexits könnten die geopolitischen sein.
Tugendhat: Ja.
ZEIT: In einer Zeit, da man den Vereinigten
Staaten nicht mehr voll vertrauen kann ...
Tugendhat: Damit bin ich nicht ganz einver-
standen. Die Beziehungen zwischen dem Ver-
einigten Königreich und den USA etwa auf
dem geheimdienstlichen oder militärischen
Feld sind nie enger oder besser gewesen als
gegenwärtig. Die Differenzen zwischen dem
Weißen Haus und 10 Downing Street sind so
ziemlich dieselben wie die zwischen dem Wei-
ßen Haus und dem Pentagon. Die Wahrheit
ist, dass das Weiße Haus sich sehr seltsam po-
sitioniert hat – nicht die Vereinigten Staaten.
Man sagt so leicht, dass dies ein Bruch zwi-
schen den USA und Europa sei. Nein – dies
ist ein Bruch zwischen dem Weißen Haus auf
der einen Seite und dem amerikanischen
Establishment und allen engen politischen
Partnern der Vereinigten Staaten auf der an-
deren Seite.
ZEIT: Aber selbst wenn die USA, abgesehen
von Präsident Trump, immer noch ein echter
Verbündeter sind: Es gibt trotzdem ein Gefühl
des Zerfalls im Westen, einen Mangel an Ge-
schlossenheit und Durchdachtheit im Umgang
mit dem Nahen und Mittleren Osten, mit
Russland oder China.
Tugendhat: Und das ist etwas, wo Großbritan-
nien für die Europäische Union enorm wertvoll
werden kann – von außen. Denn die EU, die
27 Länder koordinieren muss, ist von Natur
aus langsam. Das ist keine Kritik, nur eine Be-
obachtung.
ZEIT: Und Großbritannien wäre dann so etwas
wie ein beweglicherer Außenposten? Ein Land,
das diplomatische Optionen und politische
Strategien für die schneller und komplexer ge-
wordene Welt des 21. Jahrhunderts ausprobie-
ren könnte?
Tugendhat: Genau. Groß genug, um wirklich
teilzuhaben, um Gewicht zu besitzen, eine
Stimme, die gehört wird – aber zugleich grund-
sätzlich Teil des europäischen Kontinents, was
wir beständig im Kopf behalten müssen. Wenn
wir uns zu weit entfernen sollten, würden wir
euch verlieren. Und wenn wir euch verlören,
würden wir uns abschneiden, unsere Anbin-
dung einbüßen.
ZEIT: Eine solch enge Kooperation setzt einen
hohen Grad von Vertrauen zwischen Groß-
britannien und der EU voraus. Kann dieses
Vertrauen nach den Brexit-Irritationen wieder
aufgebaut werden?
Tugendhat: Natürlich gab es Augenblicke, in
denen wir alle uns besser hätten verhalten kön-
nen. Es gab gewiss Augenblicke, in denen die
britische Regierung sich, offen gesagt, schlecht
verhalten hat. Aber der einzige Weg, durch dies
hindurchzukommen, ist, anzuerkennen, dass es
ein wirklich schwieriger Prozess ist. Und sich
darauf zu konzentrieren, wo man am Ende ge-
meinsam herauskommen will.
ZEIT: Was hat die EU falsch gemacht?
Tugendhat: Der Hauptfehler, den die Europäi-
sche Union begangen hat, war es, darauf zu
bestehen, erst das britische Ausscheiden aus der
EU zu Ende zu verhandeln, bevor man in Ver-
handlungen über unsere künftige Beziehung
eintritt. Der einzige Weg, eine Scheidung
freundlich zu gestalten, ist es, sich bewusst zu
machen, dass beide Partner in zwanzig Jahren
gemeinsam zur Hochzeit ihrer Kinder gehen
wollen.
Die Fragen stellte Jan Roß
Fotos (Ausschnitte): Panthermedia/imago; http://www.mcandrewphoto.co.uk (u.)
VON KATJA BERLIN
To r t e
der Wahrheit
Was Fahrradfahrer vom
Verkehrsminister lernen können
Dass ein Helm nicht gut aussieht
Dass das Rad gleichberechtigter
Teil des Straßenverkehrs ist
Wie der Rücktritt funktioniert
Tom Tugendhat, 46, ist
Mitglied der Konservativen
Partei und Vorsitzender des
Auswärtigen Ausschusses im
britischen Unterhaus
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In der vergangenen Ausgabe der ZEIT (Nr. 43)
wurde in dem Artikel »Die Frau, die aus dem
Himmel kam« (Seite 9) durch einen Übermitt-
lungsfehler das folgende Zitat zu Donald
Trump fälschlicherweise Greta Thunberg zuge-
ordnet: »Er ist ein Leugner des Klimawandels.
Er leugnet die Wissenschaft. Er sagt, das sei ein
Bluff. Er glaubt nicht an sie, und er glaubt, dass
das, was er glaubt, wichtig sei.« Dieses Zitat
stammt tatsächlich von Michael Burger, Chef
des Sabin Center an der Columbia University,
der im Text kurz zuvor zu Wort kommt. Wir
bitten, den Fehler zu entschuldigen. DZ
Berichtigung
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