Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 11


D


en Brexit verhindern! – die-
se trügerisch simple Parole
servierten die proeuropäi-
schen Liberaldemokraten
im Wahlkampf für die EU-Wahlen im
Mai 2019. Und landeten prompt an
zweiter Stelle. Seitdem haben sie die
Tories in einer äußerst wichtigen Nach-
wahl zum Unterhaus besiegt^1 und neu-
en Auftrieb erhalten, weil Parlamen-
tarier der Konservativen wie auch der
Independent Group for Change, einer
Gruppe ehemaliger Labour- und Tory-
Abgeordneter, zu den Lib Dems über-
gelaufen sind.
Jahrzehntelang hatte die „dritte
Partei“ gehofft, die politische Land-
schaft Großbritanniens umzukrem-
peln. Dabei orientierten sie sich am
Vorbild der US-Demokraten, die be-
kanntlich eine von der Privatwirtschaft
finanzierte Partei der Mitte sind.
Nachdem die Lib Dems mit ihrer
Beteiligung an der Koalitionsregie-
rung David Camerons ein Desaster er-
lebt hatten, bot die Volksabstimmung
zum Verbleib Großbritanniens in der
Europäischen Union eine neue Chance.
Mit ihrer Kampagne gegen den Brexit
fand die Partei endlich ein populäres
Thema, das quer zur üblichen Rechts-
links-Spaltung stand. Auf dem Partei-
tag im September 2019 verkündete die
neue junge Vorsitzende Jo Swinson, im
Fall einer eigenen Parlamentsmehrheit
werde man den EU-Austrittsantrag zu-
rückziehen. Damit würde das Vereinig-
te Königreich in der EU bleiben.
Doch die Strategie der Lib Dems
im gegenwärtigen Parlament ist alles
andere als eindeutig. Bisher haben sie
sich allen Kompromissen verweigert,
die kein zweites Referendum vorse-
hen. Dennoch sollen sie bei der nächs-
ten Wahl ein Bündnis mit Parlamenta-
riern eingehen, die von Boris Johnson
aus der konservativen Fraktion ausge-
schlossen wurden. Das sind Leute wie
Ex-Entwicklungshilfeminister Rory Ste-
wart, der für Theresa Mays Brexit-Deal
gestimmt hat, aber auch weit weniger
liberale Überläufer wie der Tory-Abge-
ordnete Philip Lee, der gegen die Ho-
moehe ist und HIV-positive Migranten
ausweisen möchte.
Mit Labour unter Jeremy Corbyn
werde es keine Koalition geben, sagt
Swinson. Dagegen deutet alles darauf
hin, dass ihre Partei für eine Koalition
mit den Konservativen offen ist, ob-
wohl die überwältigende Mehrheit der
Tories den EU-Austritt begrüßt. Einen
No-Deal-Brexit lehnen die Lib Dems ka-
tegorisch ab, doch zugleich blockieren
sie den naheliegendsten Weg, diesen
zu verhindern – durch eine Abwahl von
Premierminister Boris Johnson und die
Unterstützung einer Interimsregierung
unter dem Oppositionsführer.
Will man diese offensichtlichen
Widersprüche verstehen, muss man
sich daran erinnern, wie sehr der Auf-
stieg Jeremy Corbyns die Lib Dems in
Angst und Schrecken versetzt hat. Die-
se Angst wurzelt in der Gründungszeit
der Partei in den 1980er Jahren.
Die heutigen Liberaldemokraten
entstanden aus zwei politischen Grup-
pierungen. Die einen waren die Reste
der einstmals so mächtigen Liberalen
Partei, die fast das ganze 19. Jahrhun-
dert dominierte, aber mit dem Aufstieg
von Labour zu einer Rumpfpartei der
Mittelklasse schrumpfte. Die anderen
waren rechte Labour-Abgeordnete, die
ihre Partei wegen der politischen Krise
der 1970er Jahre und eines Linksrucks
in der Arbeiterbewegung verließen und
1981 die Sozialdemokratische Partei
(SDP) gründeten.
SDP und Liberale schmiedeten als-
bald ein Bündnis, das für eine „atlanti-

Owen erinnerte die Wähler daran, dass
Scargill einmal ein „aktives Mitglied
der Kommunistischen Partei“ gewe-
sen sei, für die bekanntlich der Zweck
die Mittel heilige. Die SDP beschloss
sogar, Streikbrecher zu unterstützen,
und warf der Regierung vor, nicht in
die Auseinandersetzung „einzugreifen“.
Das Bündnis von SDP und Libera-
len hatte zuvor bei der Unterhauswahl
1983 mit 25,4 Prozent sein bestes Er-
gebnis erzielt. Bei dieser Wahl kam La-
bour auf 27,6 Prozent, aber es siegten
die Konservativen mit 42 Prozent. Als
sich SDP und Liberale 1988 formal zur
Liberaldemokratischen Partei vereinig-
ten, verfügte die über eine solide Wäh-
lerbasis, die Labour zurückgewinnen
musste, wenn sie jemals wieder an die
Regierung kommen wollte.
Doch dann wurde 1994 Tony Blair
zum Labour-Chef und brachte die Par-
tei auf einen neoliberalen Kurs. Das
schien den Weg zu einer Zusammenar-
beit zu ebnen. Am 100. Jahrestag der
Parteigründung im Februar 2002 er-
klärte Blair sogar, die Entstehung von
Labour sei ein historischer Fehler ge-
wesen, da sie die „progressive Mehr-
heit“ im Lande gespalten habe.
Blairs „progressive Allianz“ kam
freilich nie zustande. Unter anderem,

Großbritanniens Liberale –

die dritte Kraft

von Richard Seymour

Labour besetzte Parole nicht ankam,
gingen die Lib Dems mit einer apoliti-
schen Botschaft in die Parlamentswahl


  1. In einem YouTube-Video erklär-
    te Clegg: „Gebrochene Versprechen. Da-
    von hat es in den vergangenen Jahren
    zu viele gegeben.“ Nun sei die Zeit für
    Fairness gekommen, die Zeit, „Verspre-
    chen auch zu halten“.
    Die Lib Dems machten vor allem
    ein Versprechen, das bei ihrer über-
    wiegend gebildeten Wählerschaft gut
    ankam: die Abschaffung der Studien-
    gebühren. Clegg meinte, die jungen
    Leute sollten „nicht mit solch hohen
    Schulden belastet sein, bevor sie über-
    haupt den ersten Schritt in die Arbeits-
    welt der Erwachsenen tun“.
    Cleggs Popularitätskurve stieg kurz-
    fristig steil an. Mit seinem jungenhaf-
    ten Gesicht und seiner offenen Art
    wirkte er wie der ehrliche Makler, den
    das Land brauchte, nachdem die Parla-
    mentarier durch Spesenskandale noch
    mehr in Misskredit geraten waren.
    Doch die Cleggmania verpuffte wie-
    der. Dass sie großenteils ein Me dien-
    phä no men gewesen war, zeigten die
    Wahlresultate vom 6. Mai 2010: Die
    Lib Dems gewannen gerade mal 1 Pro-
    zentpunkt Stimmen hinzu und verloren
    fünf Mandate. Aber da die Konservati-


Während die Konservativen die Ko-
alition dazu nutzten, ihre bisherige Re-
putation als „Ekelpartei“ loszuwerden,
blieb dieses Etikett an den Liberalde-
mokraten kleben. Bei der Wahl 2015
kam die Partei nicht einmal auf 8 Pro-
zent der Stimmen und landete noch
hinter der extrem rechten UK Indepen-
dence Party (Ukip), die für den Brexit
warb, auf dem vierten Platz.
Nach dem Ende der Koalition war
es strategisch sinnvoll, auf Distanz zu
dieser Ära zu gehen, indem man im
Juli 2015 einen neuen Parteivorsitzen-
den wählte: den strenggläubigen Ang-
likaner Tim Farron, der aus der linken
Mitte kam. Doch jetzt gerieten die Libe-
raldemokraten sowohl unter Beschuss
von rechts und als auch von links: von
den Tories und ihrem wachsenden re-
aktionären Flügel wie auch von Corbyn,
der im September 2015 zum Labour-
Chef gewählt wurde.
Farrons Reaktion bestand darin,
Corbyn als „den erwiesenermaßen
schlechtesten politischen Führer in
der Geschichte“ zu bezeichnen, der es
darauf anlege, die britische Wirtschaft
kaputtzumachen, indem er einem „ega-
litären Hirngespinst“ hinterherjage.^2
Farron machte klar, dass er sogar eine
erneute Koalition mit den Konserva-

tiven in Betracht ziehen würde, wenn
man damit Labour aus dem Feld schla-
gen könne.
Das Brexit-Referendum bot den Li-
beraldemokraten die Chance, die EU-
Flagge zu zeigen. Während sie sich
als unkritische Europa-Enthusiasten
gaben, kritisierten die konservativen
Brexit-Befürworter die Europäische
Union wegen ihrer sozialstaatlichen
Vorgaben. Umgekehrt kritisierte Cor-
byn eine zu arbeitgeberfreundliche
EU-Politik. Dennoch setzten sich vor
der Volksabstimmung die Führer aller
drei großen Parteien für einen Verbleib
in der EU ein.
Farrons Glaube an die Demokra-
tie war allerdings nicht so ausgeprägt,
dass er das Ergebnis des Referendums
vom Juni 2016 akzeptiert hätte. Nach
dem Brexit-Votum wollte er, dass sei-
ne Partei für eine zweites Referendum
kämpfte. Dagegen regten Parteigran-
den wie Sir Vince Cable und der frühe-
re Vorsitzende Lord (Paddy) Ashdown
an, die Lib Dems sollten einen Kom-
promiss anstreben.
Cable warf die Frage auf, ob es
nicht respektlos sei, die Leute erneut
abstimmen zu lassen. Und Ashdown
zweifelte an, ob selbst die „Remainer“
ein zweites Referendum wünschten.^3
Farron wischte, mit Rückendeckung
von Clegg, diese Einwände beiseite
und ging in die Unterhauswahl vom
Juni 2017 mit dem Versprechen einer
weiteren Volksabstimmung.
Doch die Lib Dems erzielten wieder
nur 8 Prozent – was weniger war, als La-
bour dazugewann. Clegg selbst verlor
seinen Wahlkreis Sheffield Hallam und
ließ sich danach als Facebook-Lobbyist
anwerben.
Drei Jahre später scheint sich das
Blatt gewendet zu haben. Es ist ei-
ne paradoxe Situation: Nachdem sich
die Wirtschaftsführer bislang darauf
verlassen konnten, dass eine der zwei
Hauptparteien – oder beide – ihre In-
teressen vertreten, haben sie nunmehr
ihre privilegierten Kommunikations-
kanäle zur Regierung offenbar verlo-
ren.
Damit wurden die Lib Dems auf
einmal zur Stimme der arbeitgeber-
freundlichen EU-Begeisterung. Die
jetzt von Jo Swinson (ehemals Minis-
terin in der liberal-konservativen Ko-
alition) geführte Partei profitiert vom
Hass der Mainstream-Medien auf die
konservativen Brexiteers und den „ra-
dikalen“ Corbyn.
Aber die Medien sind nicht die öf-
fentliche Meinung. In den Wählerum-
fragen kommen die Lib Dems über den
dritten Platz nicht hinaus. Sie könnten
Labour ein paar Stimmen wegnehmen
und damit Boris Johnson das Leben
leichter machen.
Swinson hat am 9. September ver-
sprochen, sie werde bei einer Mehrheit
im Parlament den Brexit einfach absa-
gen. Dass sie bereit ist, die Leave-Stim-
men von 17 Millionen britischer Bür-
ger – also der Mehrheit – mit Füßen zu
treten, könnte Johnson sehr wohl dazu
animieren, dasselbe mit den Stimmen
zu machen, die für einen Verbleib ge-
stimmt haben.

Parteichefin Jo Swinson auf der Konferenz der Liberaldemokraten in Bournemouth PETER NICHOLLS/reuters

sche“ Außenpolitik eintrat. Und für die
europäische Integration, in der sie ein
Bollwerk gegen den Einfluss der konti-
nentalen Sozialdemokratie sahen. Bei-
de Partner waren für die nukleare Ab-
schreckungskapazität Großbritannien
und entschieden gegen die neuen so-
zialen Bewegungen und die antirassis-
tische Politik der „verrückten Linken“
auf kommunaler Ebene. Vor allem aber
wüteten sie gegen die Militanz der Ge-
werkschaften, ganz wie es der Zeitgeist
verlangte.
1979 wurde Margaret Thatcher Pre-
mier ministerin. Sie hatte versprochen,
die Gewerkschaften zu zerschlagen, weil
sie überzeugt war, kampfkräftige Arbei-
terorganisationen würden die britische
Wirtschaft lähmen.
Als sich Thatcher 1984 mit der
Bergarbeitergewerkschaft (National
Union of Miners, NUM) anlegte, schlu-
gen sich SDP und Liberale dann auch
prompt auf ihre Seite. Der Chef der Li-
beralen, David Steel, warf dem NUM-
Vorsitzenden Arthur Scargill vor, er wol-
le „das marxistische Imperium vergrö-
ßern“; und der SDP-Vorsitzende David

weil die Liberaldemokraten und der
populäre Parteichef Charles Kennedy
gegen die Unterstützung Blairs für den
Irakkrieg und gegen die Einschränkung
der Bürgerrechte anlässlich des „Kriegs
gegen den Terror“ opponierten.
Bei der Unterhauswahl 2005 nah-
men die Lib Dems der Labour Party so-
gar Sitze in deren traditionellen Hoch-
burgen Manchester, Leeds, Cardiff oder
London ab. Doch der rechte Flügel der
Lib Dems meuterte gegen den Kurs des
Parteichefs, der gegen die Forderung
seiner innerparteilichen Gegner, die
britische Post zu privatisieren, sein Ve-
to eingelegt hatte. 2007 wurde Kenne-
dy durch Nick Clegg, einen Spross der
britischen Oberschicht, ersetzt. Fortan
standen die Lib Dems in wirtschaftspo-
litischen Fragen rechts von Labour.
Der Finanzkrach 2008 hätte eigent-
lich Zweifel am Marktliberalismus we-
cken müssen, doch Clegg veröffentlich-
te 2009 die Streitschrift „The Liberal
Moment“ , in der er die Allmacht ei-
ner Regierung anprangerte, „die nicht
mehr den Anforderungen unserer Zeit“
entspreche. Da diese schon von New

ven keine Mehrheit hatten, mussten sie
den Lib Dems eine Regierungskoalition
anbieten. Für Clegg wäre eine Koalition
mit der Labour Party, die er noch im-
mer für zu „kollektivistisch“ hielt, oh-
nehin nicht infrage gekommen.
David Cameron, der Führer der
Konservativen, hatte den Briten im
Wahlkampf ein drastisches Sparpro-
gramm in Aussicht gestellt. Und die-
ses Programm setzte er auch um, im
Verein mit Finanzminister George Os-
borne und einem Kabinett, in dem so
viele Millionäre saßen wie nie zuvor.
Für die Lib Dems wurde die Koali-
tion mit den Tories zum Desaster. Sie
übernahmen die Mitverantwortung für
ein Austeritätsprogramm, das für ei-
nen Einkommensrückgang um durch-
schnittlich 10 Prozent sorgte. Obwohl
die Lib Dems Erfolge der Koalition – wie
die Legalisierung der Homoehe – her-
ausstrichen, nahm Cleggs Image dau-
erhaft Schaden, weil er in Sachen Stu-
diengebühren eine 180-Grad-Wende ge-
macht hatte. Statt den Studenten nicht
mehr in die Tasche zu greifen, langte
die Regierung nur noch tiefer hinein.

(^1) Am 2. August 2019 schlug die Liberaldemokratin Jane
Dodds bei einer Nachwahl im walisischen Wahlkreis
Brecon and Radnorshire den Tory Chris Davies mit ei-
nem Vorsprung von 1425 Stimmen; in den Wahlen da-
vor hatten die Tories um 8038 Stimmen vorn gelegen.
(^2) Presseerklärung der LibDems, 16. Januar 2016.
(^3) Heather Stewart und Jessica Elgot, „Lib Dem split
emer ges over policy of seeking second EU referendum“,
The Guardian, London, 19. September 2016.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Richard Seymour ist Verfasser von „Twittering Ma chine“,
Southampton (The Indigo Press) 2019.

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