Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 21


Srinagar, September 2019: Blick in eine ungewisse Zukunft DAR YASIN/ap


hatte, um den Sieg seiner Verbünde-
ten in Kaschmir zu sichern, begann
ein Aufstand.
Die Unzufriedenheit der Kaschmi-
rer mit Indien bot Pakistan eine gute
Gelegenheit, sich in die Bresche zu wer-
fen. Im Laufe der Zeit führte der Wi-
derstand zu zahlreichen Repressionen
durch die indischen Streitkräfte, als Re-
aktion auf Terroranschläge, die entwe-
der auf das Konto der Einheimischen
gingen oder von Pakistans einflussrei-
chem Geheimdienst Inter-Services In-
telligence (ISI) unterstützt und finan-
ziert wurden.
Auch der 18-jährige Selbstmord-
attentäter, der am 14. Februar 44 Ange-
hörige der Indian Central Reserve Po-
lice Force (CRPF) tötete, einer parami-
litärischen Einheit, die in Jammu und
Kaschmir operiert, war in Pakistan trai-
niert worden.
Pakistan hat in Kaschmir in der Tat
stets eine unbarmherzige Strategie ver-
folgt und immer wieder zu Anschlägen
in Indien angestachelt, die es auch fi-
nanziert hat. Gleichzeitig steigerten
sich die Wut und die Ernüchterung an-
gesichts der zunehmenden Repressio-
nen durch die indische Zentralmacht,
vor allem im Kaschmirtal, wo 95 Pro-
zent der Bevölkerung muslimisch sind.
Der antiindische Aufstand schwelt in
Jammu und Kaschmir bereits seit 1989
und flammte über die Jahre immer wie-
der auf.
Dass Pakistan jetzt eine inter na tio-
naVerurteilung Indiens erreichen le
will, dürfte den Konflikt noch weiter
anheizen. Die in Srinagar ansässige
zivilgesellschaftliche Allianz Jammu
and Kashmir Coalition of Civil Society
berichtete, 2018 habe der Konflikt be-


sonders viele Opfer gefordert: 586 Tote,
darunter 267 Angehörige bewaffneter
Gruppen, 159 Armeeangehörige und
160 Zivilisten.
Sumantra Bose, der an der London
School of Economics Internationale
und Vergleichende Politikwissenschaft
lehrt, schätzt die Zahl der Toten seit
Beginn des Aufstands 1989 auf über
40 000.^5 Die indische Regierung hin-
gegen weigert sich, offizielle Zahlen zu
veröffentlichen.
Die Frage ist, ob Neu-Delhis Auf-
hebung des Sonderstatus von Jammu
und Kaschmir rechtmäßig ist oder ob
eine Klage dagegen Erfolgsaussichten
hat. Verfassungsexperten wie Aman
Hingorani meinen, die indische Regie-
rung könnte in Erklärungsnot geraten,
denn sie habe gar nicht die Befugnis,
in die Machtverhältnisse des Bundes-
staats Jammu und Kaschmir einzu-
greifen. „Die Regierung braucht eine
sehr stabile Begründung, wenn sie mit
dem, was sie da getan hat, durchkom-
men will“, meint Hingorani. Der Pro-
zess, in dem Neu-Delhi den Sondersta-
tus von Jammu und Kaschmir einfach
verschrottet habe, sei verfassungsrecht-
lich angreifbar.
Narendra Modis Erlass kann als
faktische Annexion von Jammu und
Kaschmir interpretiert werden, die zu
einer kompletten Besetzung des Bun-
desstaats führen wird, bei der fast
1 Million Soldaten 9 Millionen Ein-
wohner bewachen. Verschiedene Inte-
ressenverbände haben in Indien bereits
Verfassungsklage eingereicht, über die
der oberste Gerichtshof des Landes ur-
teilen wird.
Abgesehen von heftigen Verurtei-
lungen aus Pakistan und Kritik aus

China gab es jedoch kaum eine Reak-
tion der internationalen Gemeinschaft.
Die Regierung von Emmanuel Macron
in Frankreich, die auf weitere Verkäufe
des Rafale-Kampfjets und andere luk-
rative Deals hofft, hat die Einschrän-
kung der bürgerlichen Freiheitsrechte,
die willkürliche Inhaftierung von Poli-
tikern und die komplette Nachrichten-
sperre nicht weiter kommentiert. Paris
erklärte lediglich, die Angelegenheit
solle zwischen Indien und Pakistan „bi-
laigelegt“ werden. teral be

Neues Operationsgebiet
für Dschihadisten

Indien hat es geschafft, seinen Rivalen
in die Ecke zu drängen: Pakistan ist
wirtschaftlich am Boden und in den
Augen der Welt als Unterstützer des
globalen Terrorismus diskreditiert. Zu-
dem hat Islamabad Mühe, sein Enga-
gement als Eintreten für die „Freiheit“
des kaschmirischen Volks zu legitimie-
ren. Denn die vollmundigen Erklärun-
gen zur Freiheit der Kaschmirer und
der Unabhängigkeit von Jammu und
Kaschmir klingen ziemlich hohl, wenn
man berücksichtigt, dass Pakistan den
Landesteil, den es besetzt hält, prak-
tisch annektiert hat.
Am 9. September, gut einen Monat
nach Modis Erlass, erklärte Michelle
Bachelet, die UN-Hochkommissarin für
Menschenrechte: „Ich habe vor allem
an Indien appelliert, die Abriegelun-
gen und Ausgangssperren zu lockern,
den Zugang der Menschen zur Grund-
versorgung zu gewährleisten und die
Rechte der Gefangenen auf ein faires
Verfahren zu achten.“ Nach einer An-
klage klingt das nicht gerade, eher da-

nach, als werde Indien mit einem blau-
en Auge davonkommen.
Siddharth Varadarajan, Gründer
und Chefredakteur der unabhängigen
Website Thewire.in, nennt Modis Ma-
növer eine „äußerst gefährliche Ent-
wicklung“, die auf drei Ebenen weitrei-
chende, negative Auswirkungen haben
werde: „Zunächst geht es um die Verlet-
zung grundlegender Menschenrechte
in Kaschmir. Etablierte Parteien gelten
plötzlich als kriminell, grundlegende
Menschenrechte wie das Recht auf freie
Meinungsäußerung oder Versamm-
lungsfreiheit wurden abgeschafft.“
Zweitens fürchtet Varadarajan nega-
tive Auswirkungen auf das interna tio-
naImage Indiens: „Bis jetzt hat die le
Welt mitgemacht und Indien einen Ver-
trauensvorschuss gegeben, da man der
Demokratie im Land vertraute.“ Doch
Modis jüngste Entscheidung mache
das diplomatische Terrain für Indien
schwieriger und beschädige das demo-
kratische Prestige des Landes.
Und drittens befürchtet der Journa-
list, dass die indische Demokratie ins-
gesamt in Gefahr gerät, weil nicht aus-
zuschließen ist, dass Neu-Delhi künftig
ähnliche Maßnahmen auch für ande-
re Staaten ergreift, wenn diese sich wi-
derspenstig zeigen oder sich in irgend-
einer Weise der Regierung widersetzen.
„Kaschmir braucht eine langfristi-
ge, nachhaltige, gewaltlose politische
Massenbewegung zur Wiedererlangung
seiner politischen Rechte“, sagt Shah
Faesal, ein ehemaliger hoher Beam-
ter, der als erster Kaschmirer bei den
Auswahlprüfungen zum öffentlichen
Dienst den ersten Platz belegt hat. Er
war bereits im Januar 2019 aus Protest
gegen die Repression in Jammu und

Kaschmir zurückgetreten. Laut Faesal
hat die Abschaffung von Artikel 370
auch dazu geführt, dass die moderaten
politischen Stimmen völlig verstummt
sind: „Es gibt keine Anhänger der Ver-
fassung mehr. Jetzt bist du entweder
ein Jasager oder ein Separatist, dazwi-
schen gibt es nichts mehr.“
Trotz der Nachrichtensperre, der
massiven Zensur der Medien und der
regierungstreuen Berichterstattung
gefügiger Journalisten dringen all-
mählich Nachrichten aus Jammu und
Kaschmir durch: über Proteste, Folter,
Erblindungen durch Luftgewehrge-
schosse (Diabolo-Projektile) der Poli-
zei und Massenverhaftungen. Bis jetzt
sind zwei Todesfälle durch Diabolo-Ge-
schosse bestätigt. Den Tod des Teen-
agers Asrar Ahmad Khan, der Anfang
September seinen Verletzungen erle-
gen war, bezeichnete Ajit Doval, Sicher-
heitsberater der indischen Regierung,
als „bedauernswert“. Insgesamt sollen
beim Vorgehen der Polizei gegen Pro-
teste 16eitere Personen getötet wor- w
den sein.
Wenn die Zahl der Toten weiter
steigt, werden sich Tausende junge
Kaschmirer, die bis jetzt auf Distanz
geblieben sind, dem Aufstand anschlie-
ßen. Zudem ist es durchaus möglich,
dass Dschihadisten aus dem Nahen
und Mittleren Osten und vielleicht so-
gar aus Europa ihren Weg ins Kasch-
mirtal finden, trotz aller Gegenmaß-
nahmen der Sicherheitskräfte. Der Isla-
mische Staat (IS) verkündete bereits im
vergangenen Mai, man habe in Kasch-
mir eine neue Zelle errichtet.
Auch dürfte die pakistanische Be-
völkerung starken Druck auf Islama-
bad ausüben, die eigenen Dschihadis-
ten, die Tanzeem-e-Islami, loszulassen,
und die Regierung wird irgendwann er-
klären, sie könne sie nicht länger zu-
rückhalten. Daraus könnte ein langer,
blutiger Krieg entstehen, infolge des-
sen sich der Terrorismus auch auf das
übrige Staatsgebiet Indiens ausbreiten
wird.
Die anschließende Verfolgung der
Terroristen könnte Indien in einen Po-
lizeistaat verwandeln, in dem insze-
nierte Scheingefechte an der Tagesord-
nung sind, mit Muslimen als Hauptop-
fern. „Das wäre der Anfang vom Ende
Indiens, wie wir es bislang kannten“,
meint Prem Shankar Jha. Düstere Aus-
sichten, fürwahr.

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(^1) Siehe Christophe Jaffrelot, „Indien in Griff der Hindu-
Nationalisten“, LMd, Juli 2019.
(^2) Jha ist Autor des Buchs „Kashmir 1947: Rival Versions
of History“, Oxford (Oxford University Press) 1996. So-
weit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Zitate
aus Interviews mit dem Autor.
(^3) Siehe Chandrashekhar Dasgupta, „War and Diplo-
macy in Kashmir 1947–1948“, London (Sage Publica-
tions India) 2014.
(^4) Siehe Aman Hingorani, „Unravelling the Kashmir Knot“,
London (Sage Publications India) 2016.
(^5) Sumantra Bose, „Kashmir: Roots of Conflict, Paths to
Peace“, Cambridge (Harvard University Press) 2003.
Aus dem Englischen von Sabine Jainski
Vaiju Naravane ist Professorin an der Fakultät für Jour-
nalismus, Medien und Film an der Ashoka University.
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