Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 9


A


ls die Ersten auf dem Platz
der Schlusskundgebung ein-
treffen, sind viele noch nicht
einmal losgelaufen: So lang
ist die fröhlich-entschlossene Menge,
die sich am 14. Juni 2019 durchs Zür-
cher Zentrum schlängelt. Rund 150 000
sollen dabei gewesen sein, die meis-
ten davon Frauen. An diesem sonni-
gen Freitag erstrahlt die ganze Stadt in
Violett, der Farbe des Frauenstreiks –
nach 1991 der zweite in der Schweizer
Geschichte.
Ob vor dem Berner Parlamentsge-
bäude, in kleineren Städten oder auf
dem Land: Überall erheben Frauen,
Queers und solidarische Männer ihre
Stimme, insgesamt sind es über eine
halbe Million. So viel Aufbruchstim-
mung herrschte in der sonst gemäch-
lichen Schweiz schon lange nicht mehr.
Das Jahr 2019 ist schon jetzt das
Jahr der Veränderung, was einer weite-
ren Bewegung zu verdanken ist: der Kli-
majugend, wie die Fridays-for-Future-
Kids hier heißen. Zuletzt marschier-
ten in Bern am 29. September mehr als
100 Menschen mit. Die Großkund- 000
gebung fand drei Wochen vor den eid-
genössischen Wahlen statt. Wer wissen
will, was progressive Kräfte dabei zu er-
warten haben, muss die Frauen- und
die Klimabewegung in den Blick neh-
men – und den möglichen Niedergang
der rechtspopulistischen Schweizeri-
schen Volkspartei (SVP) analysieren,
der wiederum mit den beiden ersten
Faktoren zusammenhängt. Diese Kon-
stellation könnte die Mehrheitsverhält-
nisse durcheinanderwirbeln.
Dass sich die Frauen in diesem
Sommer so kampfbereit zeigten wie
lange nicht mehr, hat viele Gründe. In
Sachen Gleichstellung ist die Schweiz,
eines der reichsten Länder der Welt,
vergleichsweise rückständig. Erst seit
1971 dürfen Frauen überhaupt wäh-
len, im Kanton Appenzell-Innerrho-
den erhielten sie sogar erst Anfang der
1990er Jahre das Stimmrecht. Bis 1988
brauchten Frauen die Erlaubnis ihres
Ehemanns, um arbeiten zu gehen oder
ein Bankkonto zu eröffnen. Auch in der
Kinderbetreuung hinkt das Land hin-


terher: Laut einer OECD-Studie von
2017 muss eine Familie mit zwei Kin-
dern 26 Prozent des Nettolohns für die
außerhäusliche Betreuung aufwenden


  • im europäischen Durchschnitt sind
    es 10 Prozent.
    Die Forderungen am Frauenstreik
    reichten von günstigerer Kinderbetreu-
    ung über gleiche Löhne bis zum konse-
    quenteren Vorgehen gegen sexualisier-
    te Gewalt. Und es kandidieren so viele
    Frauen wie noch nie für das Parlament.
    Die sozialdemokratische Kantonalsek-
    tion Zürich hat den Schwung der Frau-
    enbewegung ebenfalls genutzt: Sie hat
    soeben eine Initiative für 36 Wochen El-
    ternzeit gestartet, auch auf nationaler
    Ebene ist ein ähnliches Volksbegehren
    angekündigt. Zurzeit gibt es nur den
    Mutterschutz von 14 Wochen, und der
    Vaterschaftsurlaub wurde kürzlich von
    einem Tag auf zwei Wochen verlängert.


Zwei grüne Parteien auf
dem Sprung in den Bundesrat

Von dem zweiten großen Wahlkampf-
thema dürften vor allem jene Partei-
en profitieren, die sich den Kampf ge-
gen die Erderwärmung auf die Fahne
geschrieben haben: die Grünen sowie
ihre Abspaltung, die Grünliberalen.
Letztere versuchen sich in der Qua dra-
tur des Kreises, fordern einen ökolo-
gischen Umbau, ohne dabei die Glau-
benssätze des freien Markts infrage zu
stellen. In der Sozial- und Finanzpoli-
tik vertritt ihre gutsituierte Mitglieder-
schaft rechte Positionen, wie einen rigi-
den Sparkurs bei den Bundesfinanzen
und eine Erhöhung des Rentenalters
auf 67 Jahre.
Bemerkenswert ist in diesem Zu-
sammenhang die Kehrtwende, die die
neoliberale FDP vollzogen hat. Wurde
ihr Parteikürzel von der Klimajugend
vor Kurzem noch mit „Fuck de Planet“
übersetzt, stellte sich bei einer Befra-
gung der Basis heraus, dass diese deut-
lich grüner eingestellt ist als die Frak-
tion in Bern – woraufhin Parteichefin
Petra Gössi, die die Umfrage in Auf-
trag gegeben hatte, bei der nächsten
Versammlung den Delegierten zurief:

Bewegte

Schweiz

Zum ersten Mal seit


Langem setzen nicht


die Rechtspopulisten


die Themen für den


Wahlkampf


von Anna Jikhareva
und Kaspar Surber


„Die Umweltpolitik ist für mich eine
Herzensangelegenheit geworden. Aber
eine mit liberaler Signatur!“
Die FDP unterstützt neuerdings
auch ein Gesetz zur Kohlendioxidre-
duktion, das im Parlament letztes Jahr
noch am Widerstand der Liberalen ge-
scheitert war. Es enthält ein faktisches
Verbot für Ölheizungen, eine beschei-
dene Erhöhung des Benzinpreises so-
wie eine Flugticketabgabe: Vollständig
ausgeklammert bleibt der Finanzplatz.
Laut Greenpeace finanzieren die Groß-
banken UBS und Credit Suisse mit jähr-
lichen Krediten von mehr als 12 Mil-
liarFranken die Förderung fossiler den
Brennstoffe.
Die SVP ist die einzige Partei, die
den menschengemachten Klimawandel
immer noch leugnet: „Auf die schrille
Panikmache soll der sozialistische Um-
bau unserer Gesellschaft folgen“, warn-
te etwa Parteipräsident Albert Rösti im
Parteiorgan Extrablatt – unter einer Il-
lustration, auf der sich ein roter Teufel
hinter einer grünen Maske versteckt.
Obsessiv arbeitet sich auch die par-
teinahe Zeitschrift Weltwoche an den
wissenschaftlichen Erkenntnissen zur
Erd er wär mung und der jungen Ga-
lionsur der internationalen Klimabe- fig
wegung, Greta Thunberg, ab.
Die Haltung der SVP kollidiert da-
bei zunehmend mit der Realität. Einst
aus einer Bauern- und Gewerbepartei
hervorgegangen, gehören heute im-
mer noch viele Landwirte zur Basis.
Doch angesichts der extrem trockenen
letzten Sommer, die der Landwirtschaft
massiv zusetzen, sind immer weniger
bereit, die ignorante Haltung der SVP-
Spitze mitzutragen.
Wahlen bringen in der Schweiz sel-
ten große Verschiebungen, weil sich
die politische Landschaft nicht in Re-
gierung und Opposition trennen lässt.
Regiert wird nach dem Prinzip der Kon-
kordanz, bei dem alle wichtigen Strö-
mungen in die Entscheidungsfindung
einbezogen werden sollen. In der sie-
benköpfigen Regierung sind daher alle
großen Parteien vertreten: die Freisin-
nigen wie ihr historischer Widerpart,
die christliche Volkspartei (CVP), dann

die Sozialdemokratische Partei (SP),
die innerhalb Europas vergleichsweise
links ausgerichtet ist, und schließlich
die SVP. Nur die grünen Parteien sind
nicht dabei – noch nicht.
Das Parlament in Bern wiederum
ist in zwei Kammern – Nationalrat und
Ständerat – unterteilt: Im Nationalrat
sitzen die Abgeordneten der Parteien,
und der Ständerat vertritt die Kanto-
ne. Zu Beginn der Legislaturperiode
fabulierten FDP und SVP, die in den
letzten vier Jahren über eine knappe
Mehrheit im Nationalrat verfügten,
mit der CVP über einen „bürgerlichen
Schulterschluss“ – und setzten als ers-
te Maßnahme Steuergeschenke für die
Unternehmen durch. Nachdem die EU-
Kommission schon länger eine Aufhe-
bung der privilegierten Besteuerung
ausländischer Holdinggesellschaften
gefordert hatte, lösten die bürgerlichen
Parteien das Problem, indem sie die
Unternehmenssteuersätze insgesamt
senkten. Daraufhin initiierten SP, Grü-
ne und Gewerkschaften dagegen ein
Referendum und gewannen deutlich.
Der Ständerat, die kleinere Kam-
mer des Parlaments, galt lange als
konservativ. Doch heute sind die So-
zial de mo kra ten hier so stark wie nie,
die systematisch die Vorstöße der SVP
torpedieren. So konnte der Ständerat
beispielsweise verhindern, dass Auslän-
der, die in der Schweiz aufgewachsen
sind, bei einem Strafurteil automatisch
des Landes verwiesen werden.
Um diese Zweiklassenjustiz, bei
der Menschen mit und ohne Schwei-
zer Pass unterschiedlich bestraft wer-
den würden, doch noch in der Verfas-
sung zu verankern, hatte die SVP die
sogenannte Durchsetzungsinitiative
lanciert. Dagegen regte sich 2016 ein
nicht gekannter Widerstand. Mittels
Crowdfunding wurde Geld gesammelt,
um die Werbemacht der Partei im öf-
fentlichen Raum zu brechen. Das breite
gesellschaftliche Bündnis entwaffnete
den ausländerfeindlichen Diskurs der
SVP mit den Argumenten des demo-
kratischen Rechtsstaats. Erstmals wur-
den die Rechtspopulisten bei ihrem
Kernthema Migration deutlich geschla-
gen; seither wirkt die erfolgsverwöhnte
Partei sichtlich irritiert.
Im europäischen Vergleich gehört
die SVP zu den ältesten rechtspopu-
listischen Parteien. Ihren Durchbruch
erzielte sie im Dezember 1992, als die
Schweiz den Beitritt zum Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR) knapp ablehn-
te. Seither bediente sich die SVP der
Mittel der direkten Demokratie, um
ihre xenophobe und islamfeindliche
Politik wie etwa ein Verbot von Mina-
retten durchzusetzen. Auch wenn die
SVP-Führung auf Abstand zu anderen
rechtspopulistischen Parteien in Euro-
pa ging – ihre aggressiven Plakatsujets
wurden dafür umso häufiger im Aus-
land kopiert.
Kaum ein Thema im Wahlkampf ist
bislang die Außenpolitik. Die Verhand-
lungen mit der EU über ein Rahmen-
abkommen sind momentan auf Eis ge-
legt. Der Vertrag soll die bestehenden
bilateralen Abkommen bündeln, unter
anderem mit einem Schiedsgericht bei

Rechtsstreitigkeiten. Die linken Partei-
en und die Gewerkschaften, die grund-
sätzlich einen proeuropäischen Kurs
verfolgen, lehnen es in der bisherigen
Form ab, weil es den Schweizer Lohn-
schutz untergrabe.
Mit der Einführung der Personen-
freizügigkeit wurden in der Schweiz
nämlich wirksame Instrumente gegen
Lohndumping geschaffen, wie regel-
mäßige Kontrollen auf Baustellen oder
Kautionen für ausländische Firmen,
die einbehalten werden, wenn diese
gegen den Lohnschutz verstoßen. Die
europäischen Gewerkschaften unter-
stützen diesen Kurs: „Der Schweizer
Lohnschutz ist ein Vorbild für Europa“,
sagte etwa der Generalsekretär des Eu-
ropäischen Gewerkschaftsbunds (EGB),
Luca Visentini, in mehreren Interviews.
Angesichts der Brexit-Wirren und der
hakeligen Kandidatensuche für die
neue EU-Kommission hat das Abkom-
men mit der Schweiz zurzeit nur gerin-
ge Priorität.
Nachdem auch die Schweiz 2018 ihr
berühmtes Bankgeheimnis abgeschafft
hat und sich mit 100 Staaten dem au-
tomatischen Informationsaustausch
(AIA) von Finanzdaten anschloss, hat
der äußere Druck auf die Schweiz bei
Steuerthemen etwas nachgelassen.
Volkswirtschaftlich geht es dem Land
weiterhin glänzend, mit einer Arbeits-
losenquote von 2,1 Prozent herrscht
de facto Vollbeschäftigung. Die große
Leerstelle in der Diskussion ist aller-
dings, dass der Wohlstand der Schweiz
zu einem beträchtlichen Teil auf der
Ausbeutung des globalen Südens be-
ruht: Rohstoffmultis wie Glencore pro-
fitieren von den niedrigen Unterneh-
menssteuern.^1
Die globale Verantwortung der
Schweiz bringt nun erstmals die von
verschiedenen entwicklungspolitischen
Organisationen lancierte Konzernver-
antwortungsinitiative (Kovi) aufs Tapet.
Sie fordern, dass in der Schweiz ansäs-
sige Konzerne und deren Tochterfir-
men für Menschenrechtsverletzungen
und Umweltschäden, die sie im Aus-
land begehen, haftbar gemacht werden
können. Die Abstimmung ist für 2020
vorgesehen. Die Wirtschaftsverbände
bearbeiten die Parlamentarier schon
seit Monaten, die Vorlage abzuschwä-
chen. Dass jedoch auch die „Kovi“ in
der Bevölkerung ein hohes Ansehen
genießt, zeigt, dass in der Schweiz ein
anderer Wind weht.
Nach den letzten Umfragen dürften
Grüne und Grünliberale am 20. Okto-
ber je rund 3 Prozent gewinnen, die üb-
rigen Parteien verlieren, am deutlichs-
ten SVP und CVP. Wenn sich dadurch
ein Dutzend Mandate von rechts in die
Mitte und nach links verschieben, wäre
das zwar noch kein Erdbeben. Aber es
würde immerhin neue Allianzen für so-
zial-, gesellschafts- und klimapolitische
Fortschritte ermöglichen.

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Das Bundeshaus in Bern DENIS BALIBOUSE/reuters

(^1) Siehe Marc Guéniat, „Die Giganten vom Genfer See“,
LMd, Januar 2013.
Anna Jikhareva und Kaspar Surber sind Redakteure
der Wochenzeitung WOZ in Zürich.
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