Dienstag, 22. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3
Streit zwischen
Strache und
der FPÖ eskaliert
DieFreiheitlichePartei
Österreichs sperrt ihrem
ehemaligen Superstar die
Facebook- undTwitter-Konten.
Er droht deshalb mit einem
Rücktritt vomRücktritt.
IVO MIJNSSEN, WIEN
Fast fünfzehnJahre war Heinz-Christian
Strache einSynonym für dieFreiheit-
lichePartei Österreichs (FPÖ). Doch in
derPolitik kann Lieberasch erkalten,
besonders, wenn persönliche Skandale
die ganzePartei in den Abgrund zureis-
sen drohen. Standen dieFreiheitlichen
nach dem Ibiza-Video und Straches un-
säglichenAussagen noch geschlossen
hinter ihm,kostete ihn sein selbstherr-
licher Umgangmit Spesen denKopf:
DiePartei macht ihn für den Absturz
bei der vorgezogenen Nationalratswahl
Ende September verantwortlich. Seither
treibt sie die Scheidung von Stracheent-
schieden voran – durch eine Suspendie-
rungderParteimitgliedschaft und nun
auch durch die Deaktivierung seiner
Social-Media-Konten.
«Ich kommewieder»
SeitFreitagnacht ist Straches offizielle
Facebook-Seite, die zuletzt 586 000
Fans hatte, offline.Auch die viel klei-
nerePage seinerFrau Philippa wurde
vom Netz genommen. Am Sonntag
schliesslich legte die FPÖ auch Straches
Twitter-Account still. «Keine Sorge, ich
komme nicht nur auf derFacebook-Fan-
seite wieder», erklärte der gefallene Star
derRechtspopulisten jenen 52000 Per-
sonen, die seinem privatenFacebook-
Konto folgen. In einer Pressemitteilung
verkündete StrachesAnwalt, derPoliti-
ker werde seineRechteauf die offizielle
Seite mit einer Klage durchsetzen.
Der Streit zwischen den Straches und
derPartei wird deshalb so hart geführt,
weil dieFacebook-Seite ein zentrales
Mobilisierungsmittel darstellte, das gar
über Österreich hinaus wirkte. Die FPÖ
gehörte in der politischen Arbeit auf
den sozialen Netzwerken zu den Pio-
nieren. Ihr gelang es bereits vorJahren,
auf eigenenKanälen quasi eineParal-
lelöffentlichkeit zu schaffen. Das Face-
book-Konto ihresParteichefs stellte da-
bei das bedeutendste Scharnier zu den
Boulevardmedien dar: Postete Strache
Artikel, vorallem zu Migrationsthemen,
konnten sich Blätter wie «Österreich»
oder «Krone» der Klicks sicher sein.
Umgekehrt nahmen sie dieThemen des
Politikers auf; eineWin-win-Situation,
die auch diePopularität der FPÖ in un-
geahnte Höhen trieb.
Mit abfälligenÄusserungen im Ibiza-
Video überJournalisten als «Huren» und
seinen Übernahmephantasien für die
«Krone» machte sich Strache die Boule-
vardzeitung jedoch zurFeindin. Nach
dem Sturz derRegierung vonFreiheit-
lichen undKonservativen schoss er zudem
immer wieder gegen die eigenePartei.
Facebook schaltet Seite ab
Am1. Oktober, wenigeTage nach der
Wahlniederlage der FPÖ, beugte sich
Strache dem parteiinternen Druck und
verkündete seinen Rückzug aus der
Politik. Dies bewahrte ihn aber nicht
davor, dass diePartei ihn suspendierte.
Danach, so sein Anwalt, hätten ihn die
Freiheitlichen aus seinerFacebook-Seite
ausgesperrt.Das Konto wurde seither
nicht mehr aktiv bespielt, bevor es vom
Netz genommen wurde. Nimmt es die
FPÖ nicht innert zweierWochen erneut
in Betrieb, schaltet esFacebook ganz ab.
Durch die Stilllegung könnte die
Partei auch hoffen, einem allfälli-
gen Comeback Straches Steine in den
Wegzulegen.Wenn Strache seine bal-
digeRückkehr ankündigt, ist dies auch
als Drohung zu verstehen. Bereits seit
Monaten wird darüber spekuliert, ob er
eine eigene Liste für dieWien-Wahl im
nächstenJahr gründenkönnte. Durch
seinenRückzug scheint dies momentan
zwar weniger wahrscheinlich. Doch der
Volkstribun ist unberechenbar.
Die Repu blikaner
zwingen Trump zum Nachgeben
Der amerikanische Präsident muss ungewohnt heftige Kritik aus der eigenen Partei akzept ieren
PETER WINKLER,WASHINGTON
Es waren, milde gesagt, hektischeTage.
Sogar für einWeissesHaus,das sich in
den zweieinhalbJahren mit Präsident
Tr ump an ein stets hohes Mass anKon-
troversen gewöhnt hat, hatten sich die
akuten Krisen in bedrohlicherWeise
vervielfacht. Unter dem Eindruck, dass
derrepublikanischeRückhalt für den
Präsidenten unübersehbar bröckelte,
tatTr ump, was er grundsätzlich verach-
tet: Er krebste zurück.
Am sichtbarsten warseineKehrt-
wende bei derFrage, wo er als Gastgeber
der G-7 den Gipfel im nächstenJahr
ausrichten wird.Wie Tr umps Stabschef
Mick Mulvaney an einer denkwürdigen
Pressekonferenz freimütig zugab, war es
der Präsident selber gewesen, der sein
Golf-Resort«Trump National Doral»
bei Miami alsTagungsort vorgeschlagen
hatte. Unter den KritikernTr umps brach
der übliche Sturm der Entrüstung aus.
Unter wildem Protest
Doch dieses Mal blieb es nicht dabei:
Tr ump musste selbst vonseinemLieb-
lingssenderFox News Kritik entgegen-
nehmen.Das Murren war auchunterge-
mässigtenrepublikanischenKongress-
mitgliedern, die Mulvaney am Sams-
tag auf dem präsidialenLandsitz Camp
Davidversammelt hatte, unüberhör-
bar geworden.Tr umpgab nach, wenn
auch nur unter wildem Protest.Da-
von zeugte sogar am Montag noch ein
Tweet, in demer «nichtsnutzigeradikale
linkeDemokraten und ihrePartner, die
Lügenpresse» beschuldigte, die eigent-
lich gute Idee abgeschossen zu haben.
Mulvaney hatte mit seinerPressekon-
ferenz aber nicht nur in Bezug auf den
G-7-Gipfel in einWespennest gestochen.
Er hatte zugleich klipp und klar bestä-
tigt, dass die Ukraine auch mit Mili-
tärhilfe von rund 400 Millionen Dollar
«dazu bewegt» werden sollte, überkom-
menenVerschwörungstheorien nach-
zugehen, dieTr ump am Herzen liegen
und ihm imWahlkampf Munition geben
könnten. Mulvaney schien der Impeach-
ment-Untersuchung der Demokraten
imRepräsentantenhaus, in der es vor
allemumdie Ukraine geht, eine Steil-
vorlage zu geben.
Zwar nahm dasWeisse Haus dieAus-
sage innert weniger Stunden zurück.
Doch das warreineSchadensbegren-
zung. Eskonnte sich nicht um einen
Versprecher gehandelt haben, denn
Mulvaney ist nicht nur der interimisti-
sche StabschefTr umps, sondern auch
Budgetdirektor desWeissen Hauses. Er
weiss haargenau, warum die Militärhilfe
an Kiew zurückgehalten wurde, weil die
Sache über seinen Schreibtisch ging.
Sean Hannity, sozusagenTr umps Leib-
Präsentator aufFox News, machte in sei-
nerRadio-Talkshow den Ernst derLage
klar: «Ich glaube, der ist einfach dumm»,
sagte er über Mulvaney. «Ichglaube
nicht, dass der weiss, wovon er spricht.»
Hannitys Nervosität erklärt sich da-
mit, dass Mulvaneys Pressekonferenz
nicht in einemVakuum stattfand, son-
dern in der bereits angespannten Atmo-
sphäre, welcheTr umpsSyrien-Politik ge-
schaffen hatte. Dazu musstederPräsi-
dent die bisherschwerwiegendste Kritik
prominenterRepublikaner einstecken.
Der Mehrheitsführer im Senat, Mitch
McConnell,äusserte sich ineinem Mei-
nungsbeitrag in der«WashingtonPost»
in seltener Klarheit: Der Abzug der ame-
rikanischenTr uppenseiein schwerer
Fehler, der das amerikanischeVolk und
die Heimat weniger sicher mache, die
Feinde der USA ermutige und wichtige
Allianzen schwäche. Er verglichTr umps
Entscheid mit Obamas Abzug aus dem
Irak,der denAufstieg derTerrorguerilla
Islamischer Staat begünstigt habe.
McConnell ist kein aktivistischer
Hitzkopf; er ist das pure Gegenteil da-
von. Aber in der gleichenWoche hatte
McConnell seinen Senatoren bei einem
vertraulichen Mittagessen auch schon
klargemacht, dass er die zu erwartende
Anklage zur AmtsenthebungTr umps
im Impeachment-Verfahren nicht kur-
zerhandabschmettern werde,sondern
dass er sich auf eine längereVerhand-
lung vorbereite. Das Repräsentanten-
haus kann zwar ein Impeachment veran-
lassen, das Urteil jedoch fällt der Senat.
Natürlich heisst das nochkeineswegs,
dass nun unter denRepublikanern im
Senat bereits die Messer gewetzt werden.
DochTr ump muss akzeptieren, dass nicht
mehr nur jeneWiderstand gegen ihn
leisten, die sowieso von der politischen
Bühne abtreten. Zwar gibt es immer
noch solche, wie etwa den Abgeordneten
FrancisRooney aus Florida: Kurz nach-
dem er sich offen für das Impeachment
gezeigt hatte, gab er seinenVerzicht auf
eineWiederwahl bekannt. Aber es gibt
ebenauchandere Stimmen,darunter
jene der Senatoren MittRomney und
Lindsey Graham, dieTr ump grundsätz-
lich (Romney) oder fallweise (Graham
zuSyrien) heftig kritisieren.
Auf die Basis kommtes nichtan
Tr umpsBasis steht weiterhin zu hun-
dert Prozent zu ihm. Doch sie wird die
Wahlen im nächstenJahr nicht entschei-
den.Dann wird es um jene gehen, die
Tr umpsVerhalten und seine Leistungs-
bilanz ohneVoreingenommenheit prü-
fen. Sie werden nicht nur über das Prä-
sidentenamt entscheiden, sondern auch
über die Karriere vielerKongressmit-
glieder.Wenn genügend viele von ihnen
Schwierigkeiten befürchten, könnte der
republikanischeWiderstand eine kriti-
sche Masse erreichen. Aber nur dann.
Trump vor seinem Golf-Resort bei Miami anlässlicheiner Wahlkampfrede.Der G-7-Gipfel wirdhier nun nichtstattfinden. E. VUCC/ AP
Unruhen inChile forder n Todesopfer
Soziale Spannu ngen e ntladen sich seit Tagen in gewaltsamen Protesten – der Präsident spricht von Krieg
NICOLE ANLIKER, RIO DEJANEIRO
Chile sei eine wahrhaftigeOase inmitten
eines zerrüttetenLateinamerika. So hatte
Chiles Präsident Sebastián Piñera noch
vor zweiWochen mit Stolz seinLand be-
schrieben. Ganz offensichtlich hat der
69-Jährige die sich zusammenbrauende
Wut der Bürger nichtkommen sehen:
Gewalttätige Proteste,Strassenblocka-
den, Plünderungen und Brandanschläge
haben Chile seit Donnerstag fest im
Griff. Die Unruhen hattensichan einer
Erhöhung derFahrpreise für die Metro
in Santiago entzündet und weitetensich
rasch über das ganzeLand aus.Ange-
sichts dessen rief dieRegierung amFrei-
tagabend denAusnahmezustand aus. Am
Samstag verhängte sie in der Hauptstadt
die ersteAusgangssperre seit dem Ende
der Militärdiktatur vor 29Jahren. Die
Tariferhöhung machte sie rückgängig.
Doch die Protestereissen nicht ab.
Am Sonntag ist es erneut zuVanda-
lenakten und gewalttätigenAuseinan-
dersetzungen zwischenSicherheitskräf-
ten und Demonstranten gekommen. 11
Personen sind laut offiziellen Angaben
bisherums Leben gekommen, mehr als
1500 wurden festgenommen.Wie die
Behörden am Sonntag berichteten, wur-
deneinige Leichen nach Plünderungen
in Santiago gefunden, unter anderem in
ausgebrannten Supermärkten, einerBau-
marktkette und einerTextilfabrik. Rund
9400 Soldaten sind nach Angaben des
Verteidigungsministeriums amWochen-
ende zum Einsatz gekommen. DerAus-
nahmezustand wurde am Sonntag auf
fünf der sechzehnRegionen Chiles aus-
geweitet.Auch die nächtlicheAusgangs-
sperre wurde in manchen Städten ver-
längert. Hunderte von Flügen fielen aus,
Schulen bliebenamMontag geschlossen.
Wie im ärmeren Ecuador
Die gewaltsamenAusschreitungen ka-
menauch für viele Beobachter über-
raschend: Chile gilt als eines der wohl-
habendsten und stabilstenLänderLatein-
amerikas. Das Wirtschaftswachstum wird
in diesemJahrauf 2,5 Prozent geschätzt,
die Inflation liegt bei lediglich 2 Prozent.
Das Landverzeichnet zudem das höchste
Pro-Kopf-Einkommen in derRegion.
Tr otzdem erlebt es nun ähnlicheTurbu-
lenzen, wie sie das viel ärmere Ecuador
angesichts der Erhöhung vonTr eibstoff-
preisen jüngst heimgesucht hatten.
Die Chilenen sind nicht nur wegen
der Erhöhung desMetrobillett-Prei-
ses von 800 auf 830Pesos (umgerech-
net 1Franken15) zornig. In den sozia-
len Netzwerkenkursiert die Zeichnung
eines Eisbergs, welche die aktuelle Pro-
blematik erklären soll: DieTariferhö-
hung der U-Bahn erscheint auf dessen
Spitze alsAuslöser der Proteste. Unter
derWasseroberfläche sind die wirk-
lichen Probleme aufgelistet, die dazu
geführt haben: tiefe Altersrenten, teures
Bildungs- und prekäres Gesundheits-
system, miserable Saläre, hohe Lebens-
kosten, Korruptionsskandale. Die Zeich-
nung erklärt, weshalb sich ein überJahre
aufgestauterFrust über die wachsende
soziale Ungleichheit entlädt.
Laut derWirtschaftskommission der
Vereinten Nationen fürLateinamerika
und die Karibikverfügte 20 17 1Prozent
der Bevölkerung von Chile über mehr
als einViertel desReichtums desLan-
des. Die Hälfte der Haushalte kam der-
weil nur auf 2,1 Prozent davon. In Sant-
iago ist der Preis fürWohnraum in den
letzten zehnJahren laut einer Studie der
katholischen Universität um 95 bis 150
Prozent angestiegen, die Gehälter stie-
gen jedoch bloss um 25Prozent. Die
Hälfte der Chilenen verdient 550Fran-
ken im Monat oder weniger.
«Ein unerbittlicher Feind»
Kurz bevor die Erhöhung derTicket-
preise bekanntgegeben wurde, hatte die
Regierung die Anhebung der Strompreise
um bis zu 10 Prozent angekündigt. Diese
Hiobsbotschaften brachten dasFass zum
Überlaufen.«Wir sind im Krieg mit einem
machtvollen und unerbittlichenFeind,
der nichts und niemandenrespektiert»,
erklärte Piñera am Sonntagabend.