Dienstag, 22. Oktober 2019 FEUILLETON 37
Nein, die Natur schlägt nicht zurück
Moralische Wendungen prägen das Reden üb er die Natur. Sie sind widersin nig und schaden der Klimabewe gung.Von Claudia Mäder
Kürzlich drangen seltsame Sätze aus
Amerika zu uns. Man hat sich an
bizarreBotschaften von dort drüben
ja zwar längst gewöhnt, aber Ende
September liess nicht einTweet auf-
horchen, den DonaldTr ump in seiner
unvergleichlichenWeisheit versandte.
Sondern eineRede, die António Guter-
res in gravitätischer Manier am Uno-
Klimagipfel hielt. «Ladies and gentle-
men, nature is angry», verkündete der
Generalsekretär derVereinten Natio-
nen in NewYork.
Daheim vor demRadiogerät meinte
man schlecht zu hören oder falsch
zu verstehen, doch noch ehe man die
Ohren säubern oder einen Dictionnaire
hättekonsultierenkönnen, kam mit den
nächsten Sätzen die traurige Gewissheit:
Die Natur ist tatsächlich wütend, und
der Mensch, der die Natur betrügt, be-
geht eine grosseDummheit; denn sie, die
Natur, schlägt dann zurück.Das tut sie
immer («Nature always strikes back»)
und in unserenTagen gar mit besonde-
rer Rage: «Around the world, nature is
striking back with fury.»
DieRasende kann aber auch ganz an-
dere Gesichter zeigen. Unter Guterres’
Zutun verwandelte sie sich nach fünf
Sätzen in eine Flehende – die sich erwär-
mende Erde stiess jetzt laut dem obers-
ten Uno-Beamten einen Schrei aus, der
einen frösteln mache: «Stop.»Dasprach
die Erde ein wahresWort, mankonnte
sich ihr wirklich nur anschliessen: Stopp!
Aufhören mit diesem gefühligen Ge-
schwätz!, wollte man Herrn Guterres
zurufen, aber natürlich hatte der Mann
noch einiges mehr zu sagen.
Kurz danach sprach GretaThun-
berg vor denVereinten Nationen, und
auch in dieserRede war jemand derart
traurig und wütend («sad and angry»),
dass das Ergebnis verstörte.Aber hier
zürnte nicht die vermenschlichte Natur,
sondern ein junger Mensch, und anstatt
von derrasenden oder darbenden Erde
zu schwadronieren, schleuderteThun-
berg den Zuhörern all die Zahlen ent-
gegen,die die Dringlichkeit des Pro-
blems begründen. CO 2 -Budgets, Wahr-
scheinlichkeitsrechnungen, Kipppunkte
undRückkoppelungseffekte tauchen zu-
verlässig auf, wennThunbergirgendwo
eine Ansprache hält – die Schwedin will
nach eigenem Bekunden eine «clear lan-
guage» benutzen.
Wohlkönnen dabei auch dramati-
sche Metaphern auftauchen. «Unser
Haus brennt», sagte sie etwa auf dem
WEF inDavos – aber nichts war dort
von rächender Lust zu vernehmen, mit
der die Flammen den Bewohnern ent-
gegenzüngelten, von flehentlich wis-
perndenDachbalken oder betrügeri-
schen Absichten allfälliger Brandstifter.
Nein, die Botschaft des Bildes war viel
simpler:Das brennende Haus, das wir
gebaut haben, wird zu einer äusserst un-
gemütlichenWohnstätte, für uns Men-
schen und etliche andereArten.
Man wählt seine Sprache
DenVergleich mit dem brennenden
Haus mag man emotional überfrachtet
und alarmistisch finden, alles in allem
aber ist er dochnoch vernünftig zu nen-
nen – er macht das, was Sprache häufig
macht, und übersetzt einen Gedanken
in ein Bild. In weniger aufgeheizten All-
tagskontexten geschieht das dauernd: sei
es, dass wir deutlich erkennbare Meta-
phern verwenden und etwa einKonzept
mit Hand undFuss abliefern oder die
Flinte insKorn werfen, sei es, dass wir
auf verstecktereBezüge zurückgreifen
und uns beispielsweise gekränkt oder
gerädert fühlen.
Auch dasswirin unserer Sprache
menschliche Züge auf nichtmenschliche
Dinge übertragen, ist im Prinzip etwas
ganz Normales: Berge habenRücken
und Flanken,Regen peitscht über die
Felder,der Himmel weint – oder halt,
sind es eher die Engel, die drobenTr ä-
nen über uns sündige Menschen vergies-
sen? Hier sind wir sprachlich plötzlich
in einer Sphäre,von der man meinen
sollte, dass wir sie gedanklich seit länge-
rem verlassen haben.
Zu Zeiten, da natürliche Ereignisse
noch alsFingerzeige Gottes galten, war
es schlüssig,Regenfälle als himmlische
Tr änenströme oder eine Überschwem-
mungskatastrophe als Strafe für heim-
licheWirtshausbesuchezu sehen – die
Macht erkannte den Betrug undschlug
zurück.Nach und nachübernahm dann
die Natur denPart des strafendenGot-
tes, im19.Jahrhunderträchte sie sich
laut Zeitgenossen mit Fluten für die
«barbarische Zerstörung», die man ihr
angetan hatte.
Egal, wie stark unsere Sprache zum
Bildhaften und Anthropomorphen
neigt: Heute ist niemand mehr gezwun-
gen, so zureden.Wer es tut, trifft eine
Wahl, und es ist bemerkenswert, dass
Menschen in hochdekorierten Ämtern
wie António Guterres sich dafür ent-
scheiden – wo sie sich doch zugleich auf
ein wissenschaftlich fundiertesWeltbild
berufen.Innerhalb dieses vernünftigen
Gefüges auf eine wütend agierende, zum
richtenden Subjekt erhobene Natur zu
treffen, ist dabei mehr als nur verwun-
derlich. Es ist absolut widersinnig, einer-
seits mit derWissenschaft kritisch aufs
«Anthropozän» zu blicken und anderer-
seits vor der vereintenWelt die Natur zu
vermenschlichen.
Wenn man mitRecht betont, dass
sich der Mensch auf Kosten vielen
anderen Lebens zum Nabel derWelt
gemacht hat, sollte man dann nicht als
Erstes damit aufhören, die ganzeWelt
um den Menschen kreisen zu lassen?
Wer die Natur zu einer Grösse stilisiert,
die, egal ob wütend oder flehend, mit
dem Menschenkommuniziert und ihm
mitRacheschlägen Lehren erteilt, kann
oder will etwasFundamentales nicht be-
greifen: Die Natur ist nicht für den Men-
schen da. Sie hältkeine Botschaften für
ihn bereit, sie hat ihm nichts zu sagen,
will ihn weder bestrafen noch bessern
oder beglücken – und verdient trotzdem
seinenRespekt.
Wer redetdenn vonSünde?
Nunmüsste man um Guterres’merk-
würdigeRedeweisekein derart grosses
Aufheben machen, wenn sie nicht auch
hochgradig ärgerlich wäre:Das quasi-
magische Sprechen gibt der ganzen
Umwelt- und Klimadebatte einen fata-
len Dreh beziehungsweise verleiht einer
sich selbst verstärkenden Diskursspirale
unnötigerweise weiteren Schub.
Indem der Uno-Generalsekretärvon
Strafaktionen der zürnenden Naturre-
det, unterstellt er, dass eszuvor aufseiten
der Menschen ein schändlichesVerhal-
ten gegeben habe – und erweckt damit
den Eindruck, dass wir vorvornehmlich
moralischenFragen stünden.Dass es um
Verfehlungen gehe statt um Probleme,
umLäuterung statt umFortschritt, um
Schuldgefühle statt um Lösungsansätze,
um dieWiederherstellung einerkosmi-
schen Harmonie statt um die mittelfris-
tige Sicherung von Lebensgrundlagen,
kurz: umreligiösen Glauben statt um
vernünftiges Denken.
Selbstverständlich kann man sich
dieses Eindrucks kaum erwehren, wenn
man gelegentlich in die Medien guckt.
Diese Aktion der NBC ist wohl nur die
verrückteste unter vielen: Unlängst hat
das amerikanische Medienhaus eine
«Climate Confessions»-Plattform aufge-
schaltet, eine Art Online-Beichtstuhl, in
dem die Nutzer anonymihreVergehen
(etwa: ein Steak vom Grill!) gestehen
können.Wir alle sind «Klimasünder»,
soll das heissen, und tatsächlich ist die-
sesWort,ganz ohne Anführungszeichen,
tief in den Sprachgebrauch eingedrun-
gen: Hier betitelt eine News-SiteTrump
alsgrössten Klimasünder, dort nennt ein
Portal China einen gewaltigen CO 2 -Sün-
der, und auch gewissePolitiker entblö-
den sich nicht, die Belastung der Um-
welt als «kind of sin» zu bezeichnen –
so der demokratische Präsidentschafts-
kandidatPete Buttigieg.
Das mag irgendwie packend klin-
gen und geschieht wohl in der Ab-
sicht, die Menschen zu berühren. Doch
dieMoralisierung schlägtzurück, wie
Guterres sagen würde. Denn der er-
kennbarste Effekt der Übung ist die-
ser: Zahllose kritische Kommentato-
ren nehmen denDuktus auf und schrei-
ben inzwischen mehr über die besorg-
niserregende «Klimareligion» als über
die ernste Klimafrage. Und da dasreli-
giöseVokabular nun einmal bereitsteht,
wird es selbstverständlichkonsequent
benutzt und freihändig auf die ganze
Klimabewegungangewandt. Unmög-
lich zu sagen, wie oft GretaThunberg im
Verlauf diesesJahres als selbsternannte
«Heilige» dargestelltwurde,als Anfüh-
rerin einer grünen «Erlösungsreligion»,
der die Klimajugend, gleichsamalsApo-
stel der apokalyptischen «Askesebewe-
gung», blindlings folge.
Machte man sich die Mühe, solche
Zuschreibungen mit Belegen zu stüt-
zen, müsste man in denPapieren der
Freitagsbewegung ziemlich lange nach
passendenPassagen suchen. Sünden?
Racheaktionen? Moralische Überlegen-
heitsansprüche? Harmonische Bezie-
hungen zur Mutter Erde? Leider nein,
nichts dergleichen ist in den Dokumen-
ten der Klimajugend zu lesen, genauso
wenig wie in denReden vonThunberg
zu hören. Es gibt hier, allem voran, ziem-
lichviele Zahlen zu verdauen, Abkür-
zungen zu entschlüsseln und Prognosen
zu studieren.Auch daraus kann man
derJugend natürlich einen Strick dre-
hen und sie der übersteigertenWissen-
schaftsgläubigkeit zeihen – vielleicht
lässt sich immer einWeg finden, um
Religiosität anzuprangern.
Einstweilen darf man von denjenigen
Leuten, die das Klimaproblemkonkret
anzugehen versprechen, eine sinnvolle
Ausdrucksweise erwarten – eine Spra-
che, die denrationalen Anspruch der
Protestbewegung ernst nimmt, anstatt
ihn mit magischenMetaphern zu unter-
wandern. «Die Naturrächt sich nicht,
aber sie präsentiert ihreRechnungen.»
- Das könnte man vielleicht mit dem
französischenAutorJean Giono sagen,
wenn man die harte Sprache der Zah-
len unbedingt durch etwasPoetische-
res ersetzen möchte. Auf das Ersinnen
weiterer vermeintlich ergreifender Bil-
der mögen die wohlmeinenden Mächti-
gen doch aber bitte verzichten und sich
stattdessen um die wesentlichenFragen
kümmern.Davon sind genügend vor-
handen, würde man meinen.
Ineinem Vintage-Laden in Los Angeles lebt das
Hollywood von Clark Gable und Cary Grant weiter SEITE 41
Doris Lessing beherrschte auchdas Intime –
daran erinnert ein Bändchenmit fünf Erzählungen SEITE 43
AufeinemVita-ParcoursinWinterthur formieren sichBäume mit zahllosenFangarmen zum Angriffauf trampelndeJogger. KARIN HOFER / NZZ
Die Natur hat
dem Menschen nichts
zu sagen, sie will
ihn weder bestrafen
noch beglücken –
und verdient trotzdem
seinen Respekt.