Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 INTERNATIONAL


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Tansania schickt


Burundier nach Hause


200000 Flüchtlinge müssen zurück in ihre unsichere Heimat


MARKUS SPÖRNDLI, NAIROBI


Derzeit spannen in Ostafrika zwei autori-
tär regierende Staatschefs zusammen,um
sich –oder zumindest ihrerPartei –im
nächsten Jahr dieWiederwahl zu sichern.
Das kleine Binnenland Burundi mit rund
11 Millionen Einwohnern und der von
fast 59 Millionen Menschen bevölkerte
KüstenstaatTansania sind schon lange
auf komplexeWeise verbunden. Einst
gehörten beide zu Deutsch-Ostafrika,
nach dem ErstenWeltkrieg dann zu ganz
unterschiedlichenKolonialreichen.
Seit der Unabhängigkeit Anfang der
sechzigerJahre haben riesige Flucht-
bewegungen vonWest nach Ost die Be-
ziehungen der beidenLänder geprägt:
Zwei Genozide, einige weitere Mas-
saker und unzählige politische Krisen
haben imLauf derJahrzehnte Hundert-
tausende von Burundiern ins tansani-
sche Exil getrieben. Die jüngste Flucht-
bewegung wurde durch die politische
Krise von 2015 ausgelöst.Damals be-
schloss Burundis Präsident Pierre Nku-
runziza, nach seinen zwei verfassungs-
mässigen Amtszeiten eine dritte anzu-
streben. Es kam zu einer massiven Pro-
testwelle. Nach einem Putschversuch
durch Militärs liess dieRegierung den
Widerstand noch brutaler niederschla-
gen. In derFolge kamen 1200Personen
ums Leben – und über 400000 flohen in
Nachbarländer, die Hälfte davon nach
Tansania.Vor zwei Monaten nun gaben
tansanische und burundische Behörden
bekannt, dass diese Flüchtlinge bis Ende
Jahr nach Burundi zurückkehren müssen.


Hilfsorganisationen unterDruck


Trotz Befürchtungen von Hilfsorgani-
sationen hat es bisherkeine erzwunge-
nen Rückführungen gegeben. Aber der
Druck auf die Flüchtlinge wächst, da-
mit sie die meist in Grenznähe gelege-
nen Camps verlassen. Unlängst sagte
der tansanische Präsident in einerFern-
sehansprache, Burundi sei jetzt stabil.
«Geht zurück nach Hause!», rief John
Magufuli in die Kamera.
Derweil werden in den riesigen
Camps immer mehrLäden und Märkte


geschlossen, so dass die Flüchtlinge noch
stärker auf Nahrungsmittelhilfe ange-
wiesen sind. Doch Organisationen, die
solche Hilfe leisten, sind ebenfalls unter
Druck geraten. Ihr Zugang zu denLa-
gern sei eingeschränkt worden,Arbeits-
bewilligungen für internationale wie lo-
kale Mitarbeiter würden kaum noch
ausgestellt, berichten Insider. Sie wol-
len anonym bleiben, um die Gunst der
Regierung nicht vollends zu verspielen.

Vernichtender Uno-Bericht


Der rigoroseRückführungsplan taucht
wohl nicht zufällig imVorfeld der Prä-
sidentschaftswahlen auf, die nächs-
tes Jahr in beidenLändern stattfinden.
In Burundi hat Nkurunziza zwar ver-
sichert, dass er im Mai nicht für eine
vierte Amtszeit kandidieren werde.
Doch sicher ist das nicht: Im vergange-
nen Jahr ist einVerfassungsreferendum
angenommen wo rden, das Nkurunziza
ermöglicht, bis 2034 im Amt zu bleiben.
Im September veröff entlichte die
Uno einen vernichtenden Bericht über
Burundi. ImVorfeld derWahlen gebe
es e in «Klima der Angst und der Ein-
schüchterung» gegenüber jedem, der
verdächtigt werde,sich derRegierungs-
partei CNDD-FDD entgegenzustellen.
Kommt hinzu, dass Burundi zusehends
in eine humanitäre Katastrophe abglei-
tet.Das kleineLand hat mit mehr als5,
Millionen bestätigten Malariafällen zu
kämpfen – nur wird das international
kaum wahrgenommen.
Auch der tansanische Präsident ver-
sucht, negativeAufmerksamkeit zu ver-
hindern. Magufulis Behörden verwei-
gern derWeltgesundheitsorganisation
genauere Auskunft darüber, ob esAn-
fang September in der MegastadtDar es
SalaamFälle von Ebola gegeben habe.
Der Populist, der 2015 gewählt wurde
und unter dem Spitznamen «Bulldozer»
bekannt ist, beschnitt bald die Mei-
nungsäusserungsfreiheit und den Spiel-
raum der Opposition. So hat wohl auch
die massenweiseRückführung burundi-
scher Flüchtlinge für Magufuli vor allem
ein Ziel: ihm dieWiederwahl im nächs-
ten Jahr zu sichern.

Ein grosser Schuldenberg trotz vielen Milliardären

Libanons Regierung verabschiedet unter dem Druck der Strasse ein Reformpaket – doch die reicheElite bringt viel zu geringe Opfer


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Das kleine Libanon ist derWelt de r-
zeit vor allem bekanntfür seineunzäh-
ligen syrischen Flüchtlinge. JederVierte
der insgesamt sechs Millionen Einwoh-
ner ist ein vom BürgerkriegVertrie-
bener aus dem Nachbarland.Das ist
Weltrekord.Politisch Interessierte wis-
sen auch, dass im Süden des gebirgi-
ge n Küstenstaates die von Iran unter-
stützte schiitische Hizbullah-Miliz mit
ihrenRaketen Israel bedroht. Und äl-
tere Semester erinnern sich noch an
einen blutigen Bürgerkrieg zwischen
Christen undMuslimenvon 1975 bis



  1. Kaum jemand ist sich jedoch be-
    wusst,dass Libanon zu denLändern mit
    der weltweit grössten Dichte anMilliar-
    dären gehört – vergleichbar mit Norwe-
    gen oder den USA.


KonzentrierterReichtum


Im Gegensatz zu westlichen Industrie-
staatenkonzentrieren sich dieVermögen
und das Einkommen in Libanon jedoch
wesentlich stärker. «Die obersten 0,
Prozent,ungefähr 3000Personen,verdie-
nen das Gleiche wie die unteren 50 Pro-
zent, 1,5 Millionen Menschen», schrieb
die ÖkonominLydia Assouad vergange-
nes Jahr in einer Studie. Beim Eigentum
ist die Schieflage ähnlich gravierend: Die
obersten 10 Prozent der Bevölkerung be-
sitzen 70 Prozent derVermögen.


Bei den gegenwärtigen Massenprotes-
ten in Libanon geht es um viel mehr als
um die ungerechteVermögensverteilung.
Es geht auch um die grassierendeKor-
ruption, eine lebensbedrohliche Gewäs-
serverschmutzung und miserableöffent-
liche Dienstleistungen. Dennoch spielt
die Verteilungsfrage eine wichtigeRolle.
Die politische Elitehat dasLand in
eine massive Schuldenkrise manövriert.
Der Kleinstaat steht derzeit mit 85 Mil-

liarden Dollar in der Kreide. Und die
Schuldzinsen belaufen sich auf 40 Pro-
zent der Staatseinnahmen. Minister-
präsident Saad Hariri versuchte mit
punktuellen Sparmassnahmen und
Steuererhöhungen, die Neuverschul-
dung in den Griff zu kriegen. In der
Not beschloss dieRegierung voreiner
Woche eine Abgabe auf Handy-Anru-
fen mitWhatsapp und anderen Messen-
ger-Diensten. Dies war jedoch die eine

Steuer zu viel. Sie hat die seit vergange-
nem Donnerstag anhaltenden Massen-
proteste im ganzenLand ausgelöst.

Schlecht verteilte Steuerlast


Die «Whatsapp-Steuer» wurde ange-
sichts desVolkszorns schnell wieder kas-
si ert.Und Hariri verspricht nun,dass für
das nächsteJahr überhauptkeine indi-
viduellen Steuern erhöht würden. Doch
Libanons Problem ist im Prinzip nicht
die Steuerlast,sondern die Steuergerec h-
tigkeit.DieerhobenenAbgaben entspre-
chen nur etwa15 Prozent der gesam-
ten Wirtschaftsleistung. In den OECD-
Ländern liegt dieserWert imDurch-
schnitt bei 35 Prozent. Immerhin hat die
Regierung im vergangenen Sommer den
Höchstsatz für die Einkommenssteuer
auf 25 Prozent angehoben. Doch nach
oben gäbe es durchaus nochRaum.Auch
die Steuern auf Unternehmensgewinnen
liegen mit rund 6 Prozent für eine mit-
telgrosseFirma weit unter dem OECD-
Durchschnitt von16 Prozent.
Natürlich wären strukturelleRefor-
men, welche die wirtschaftlichenRah-
menbedingungen verbessern, Steuer-
erhöhungen fürReiche vorzuziehen.
Doch aufgrund der Schuldenlast braucht
es Massnahmen mit schnellerWirkung.
Ministerpräsident Saad Hariri gehört
wie andere einflussreichePolitiker in
Libanon allerdings selbst zum erlauch-
ten Kreis der Milliardäre. Eineentspre-

chende Steuerreform war vonihm des-
halb nicht zu erwarten.Das Reform-
paket, das er im Namen seinerRegie-
rung am Montagabend präsentierte, ist
eine Mischung aus populistischen Spar-
massnahmen und Steuererhebungen so-
wie von den internationalen Geldgebern
längst eingeforderten Modernisierungen
der Elektrizitätswirtschaft und desTele-
kommunikationssektors. So sollen etwa
die Gehälter undPensionen von amtie-
renden und ehemaligen Ministern um 50
Prozent gekürzt werden.Das Informa-
tionsministerium und andere staatliche
Institutionen will dieRegierung ganz eli-
minieren. Und sie hat ein von den De-
monstranten gefordertes Gesetz ange-
kündigt, um veruntreute Steuergelder
zurückzuholen. Schliesslich müssen die
Banken zusätzlicheAbgaben imUmfang
von über 3 Milliarden Euro leisten, um
das Budget 2020 auszugleichen.
Vielleichtkönnten dieseReformen so-
gar die Bedingungen erfüllen, damit man
endlich die von internationalen Geld-
gebern inAussicht gestellten Infrastruk-
turkredite im Umfang von 11 Milliarden
Dollar erhält. Doch dasVertrauen der
Bevölkerung wird dieRegierung damit
kaum gewinnen.Das weiss offenbar auch
Hariri.Er unterstütze dieForderung nach
Neuwahlen, sagte er,ohne von Rücktritt
zu sprechen. Und an die Zehntausen-
den Demonstranten im ganzenLand ge-
richtet: «Es liegt an euch, zu entscheiden,
wann ihr die Proteste beenden wollt.»

Ministerpräsident Hariri unterstützt dieForderungnachNeuwahlen.MOHAMED AZAKIR / REUTERS
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