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ENCORE
HANNA
STIRNEMANN
STADTMUSEUM UND KUNSTVEREIN
JENA
WWWährend Frieda Fischer, Louise Straus und ährend Frieda Fischer, Louise Straus und
Lilli Fischel Ende 1928 längst ihren Bei-
trag zu dieser Geschichte geleistet haben, setzt
eine andere junge Frau gerade erst an, sie
zu vollenden: „Fräulein Dr. Stirnemann, die
nunmehr seit anderthalb Jahren hier tätig ist,
hat sich – was wir Museumsbeamte keines-
wegs bei allen von den Universitäten zu
uns kommenden Kunsthistorikern feststellen
können – in der Praxis aufs beste bewährt.“,
schreibt der Direktor des Oldenburgischen
Landesmuseums Walter Müller-Wulckow:
„Eine rege Einfühlungstätigkeit und natürliche
praktische Veranlagung macht sie vielen
männlichen Kollegen gerade auch in dieser
Beziehung überlegen.“ Sagt’s und lobt sie in
die Welt der Herren Kunsthistoriker hinaus.
Von Oldenburg aus führt der Weg nach
Jena, wo sie im November 1929 als wissen-
schaftliche Assistentin eingestellt wird.
Es wäre dies aber keine Geschichte einer
ersten Museumsdirektorin, wenn nicht auch
hier ein Mann etwas Platz machen müsste.
Und tatsächlich ist auch in diesem Fall die
Geschichte ganz pünktlich zur Stelle:
noch im Januar 1930 ist Direktor Paul Weber
tot – und seine Stelle frei.
Anders als bei Fischer, Straus und Fischel
bedarf es hier aber keiner Testamente und
auch keines verdrucksten Stellvertreterinnen-
tums, um die Sache zu regeln. Jena wagt
den großen Wurf: Am 1. April 1930 wird zum
ersten Mal in Deutschland eine Frau ganz
offiziell zur Direktorin eines Museums be-
stellt. Ein Meilenstein. (Mit Probezeit.)
Hanna Stirnemann ist damit die Erste. Und
eben die letzte unter diesen vier Ersten.
VVVon Anfang an setzt sich Stirnemann on Anfang an setzt sich Stirnemann
vor allem für Frauen ein, kuratiert die Aus-
stellung Gestaltende Arbeit der Frauen, knüpft
lokale Netzwerke und freundet sich mit
Künstlerinnen wie Gabriele Münter an, von
der sie zweimal porträtiert wird und deren
Arbeiten sie später auch ausstellt. Als Ge-
schäftsführerin des städtischen Kunstvereins,
der sich schon unter ihrem Vorgänger für
die Avantgarde eingesetzt hat, führt sie die-
sen Weg fort und zeigt dort Ausstellungen
vonvonvon Paula Modersohn-Becker, der Fotografin Paula Modersohn-Becker, der Fotografin
Aenne Biermann und Dessauer Bauhäuslern.
In Thüringen ist bereits seit 1929 eine
rechtsgerichtete Regierung an der Macht.
Stirnemanns Programm fällt schon aus der
Zeit, da hat es noch gar nicht begonnen.
Aber selbst nach 1933 sind in Jena in drei
großen Ausstellungen unter der Führung
Stirnemanns expressionistische Werke zu se-
hen. 1935 ist sie jedoch schließlich gezwun-
gen, eine Schau mit Franz Radziwill, dessen
Werke später als „entartet“ verfemt werden,
vorzeitig zu beenden. Mitte der Dreißiger-
jahre häufen sich die Anfeindungen gegen
die fortschrittliche Direktorin: Dass „der
Kunstverein noch nicht begriffen hat, um
wases heute geht und welche Aufgaben
erinnerhalb unserer Volksgemeinschaft zu
erfüllen hat“, bescheidet ein örtlicher Zei-
chenlehrer dem Bürgermeister. „Er dürfte
einer der wenigen Vereine sein, die noch nicht
gleichgeschaltet sind!“„Das muss ausge-
putzt werden“, schreit ein Kommentator
der Badischen Kunsthalle in den Dreißi-
gerjahren entgegen und meint damit
das progressive Programm des Hauses: die
Künstler des Impressionismus und der
Neuen Sachlichkeit, überhaupt alles, was
des Neuen verdächtig ist.
Schreckenskammern
Waren diese vier Frauen schon vor 1933
Anfeindungen ausgesetzt, so schneidet ih-
nen die politische Zeitenwende unüber-
windbar alle Zukunft ab: Louise Straus und
Lilli Fischel entstammen jüdischen Eltern-
häusern und obwohl Hanna Stirnemann zu-
nächst versucht, der NSDAP beizutreten,
lässt der örtliche Kreisleiter der Partei so
lange in ihrem Stammbaum bohren, bis sich
ein jüdischer Urgroßvater findet. Der Prä-
sident des Thüringischen Landesamtes für
Rassewesen weist genüsslich darauf hin,
dass „ein Judenabkömmling nicht weiterhin
Leiterin des Städtischen Museums bleiben
kann“. Das Museum für Ostasiatische Kunst
in Köln wird 1933 gebeten, alle jüdischen
Mitarbeiter zu identifizieren und liefert
prompt die eigene „Frau Direktor“, Frieda
Fischer, aus, die 1921 ein zweites Mal ge-
heiratet hatte: den jüdischen Senatspräsiden-
ten Alfred Wieruszowski.
Erst hier, an ihrem Ende, finden die
aufstrebenden Geschichten der vier Frauen
auf eindrücklich tragische Weise zueinan-
der: Hanna Stirnemann gibt nach Jahren des
zunehmenden Drucks Ende Dezember
1935 auf und zieht gemeinsam mit ihrem
Mann in ein winziges Dorf, wo sie schließ-
lich das Ende des Krieges abwartet. In
Karlsruhe ist Lilli Fischel da schon längst kalt-
gestellt. Bereits im März 1933 wird sie ihres
Amtes enthoben und noch im April des glei-
chen Jahres zerrt man ihr Werk auf die
Schlachtbank: In der Ausstellung Regierungs-
kunst 1919–1933 stellt ihr Nachfolger Hans
Adolf Bühler die so wichtigen Ankäufe
Fischels und Storcks an den Pranger. Als
„Schreckenskammer“ feiert die Karlsruher
ZeitungZeitungZeitung das Spektakel mit merklich das Spektakel mit merklichwohli-
gem Schauer. Es ist eine der erstenjener
nationalsozialistischen Schandausstellungen,
die später im großen Münchner Spektakel
Entartete KunstEntartete KunstEntartete Kunst gipfeln werden. gipfeln werden.
Frieda Fischer wird als letzte der vier,
1937, aus dem Museum vertrieben, jenem
Haus, dessen Stifterin sie war. „Man nahm
mir mein Museum, mein geistiges Kind,
das Rathaus verbot mir den Zutritt zu ihm.“
Immer weiter gehen die Repressionen. Ihr
Mann muss ab 1941 den Judenstern tragen
und ihr Besitz wird teilweise beschlagnahmt.
Schließlich wird das Ehepaar im Oktober
Verfechterin der Avantgarde: Hanna Stirnemann
protegiert Künstlerinnen und das Bauhaus
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