Die Welt - 19.10.2019

(Nora) #1

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APÉRO


UM DIE ECKE


D


er Zehlendorfer sitzt die Dinge gerne


aus.“ Die Dame, eine Kundin neben


D D mir am Käsestand, streckt den Rücken mir am Käsestand, streckt den Rücken


bis zum Kinn durch und grinst. „Stoische Ru-


he, so könnte man es auch nennen.“ Wir ste-


hen auf dem Markt in Schlachtensee, es ist


Freitag, und der halbrunde Platz ist gefüllt


mit Anwohnern und Fahrrädern. Oder Rol-


latoren. Meine Nachbarin kommt aus Ham-


burg, lebt seit 20 Jahren in Berlin und arbeitet


in einem Geschäft hinter dem U-Bahnhof


Krumme Lanke. Aber Lebensmittel kauft sie


gerne hier. „Die Breisgauer Straße hat sich ja


gemacht in den letzten Jahren. Ansonsten


passiert hier seit Jahrzehnten nichts. Eine


neue Weinbar gibt’s... und die macht um


18 Uhr zu.“ Ich hebe an, Einspruch zu erhe-


ben. Und klappe den Mund wieder zu.


Ich bin aufgewachsen in Zehlendorf, zu


einer Zeit, in der „man“ sonnabends in die


Stachelschweine oder die Wühlmäuse ging,


bestenfalls Rotarier war und wöchentlich


Günter Pfitzmann beim Meyer-Beck oder


Götz George beim Baden im Schlachtensee


traf. Am Mexi und in der Breisgauer gab es


alles, was man brauchte, und wenn nicht, fuhr


man „in die Stadt“, was das Forum Steglitz,


zu tun.“ Nur wohnen könne er hier nicht.


„Nie da, wo ich verkaufe. Da komme ich ja


aus dem Grüßen nicht mehr raus!“ Und einen


Discounter-Babybel als sporadisches guilty


pleasure, denke ich, kann er sich wohl auch nie


unbemerkt genehmigen.


Zwei Stände weiter verkauft der Fisch-


großhandel Pelikan, den es seit 111 Jahren


auf Berliner Wochenmärkten gibt. Am besten


seien gerade Dorade, Schellfisch und Zander,


sagt man mir. Aber ich will ja noch ein biss-


chen Strecke machen, daher lasse ich das mit


dem Fisch für heute lieber und schlendere


zum Café Gutes von Busch, das in meiner


Kindheit noch den örtlichen Schuhladen


beherbergte. Was mich im Nachhinein er-


staunt, weil das Geschäft auch etwa die Aus-


maße eines Schuhkartons hat – die schmalen


Regale sind deswegen heute umso strenger


Spaziert man heute durch den Ortsteil zwi-


schen den Bahnhöfen Schlachtensee und


Mexikoplatz, entdeckt man durchaus Neues,


aber erfreut sich doch mehr am Alten.


Den Markt, auf dem wir stehen, gibt es


immerhin erst seit zehn, zwölf Jahren. In der


Mitte befindet sich ein kleiner Pavillon, in


dem traumhafte Blumen von einer Floristin


gebunden werden, die genauso gut in Treptow


Biertulpen zapfen könnte, sie zupft aber lie-


ber echte. Was erwähnenswert ist, weil nicht


jedes Geschäft hier täglich geöffnet ist. Auf


dem Markt etwa kann man nur freitags Ge-


müse, Honig, Eier, Pasten und vor allem ful-


minanten Käse erstehen. Dienstags bis sams-


tags touren der Chef, heute in Regenjacke und


mit Schiebermütze, und seine Mitarbeiter mit


Schweizer und französischem Käse (ich emp-


fehle den Wilden Engel!) von Markt zu Markt.


„Ich mag den hier, der wirkt so ländlich. Die


Kunden kennen wir alle, die kommen jede


Woche wieder. Und irgendwie sind ’se netter


in Schlachtensee als auf anderen Märkten.


Hat vielleicht auch ein bisschen was mit Geld


BERLIN, ZEHLENDORF


Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen,


wir stellen sie vor. In Zehlendorf


nehmen wir das


Tempo raus, essen


Kuchen mit den


Nachbarn und


wandeln am See


auf Götz Georges


Spuren


er Zehlendorfer sitzt die Dinge gerne


aus.“ Die Dame, eine Kundin neben


mir am Käsestand, streckt den Rücken


allenfalls den Ku’damm bedeutete. (Und wir


reden hier übrigens von nach der Wende.)


Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen,


wir stellen sie vor. In Zehlendorf


nehmen wir das


Tempo raus, essen


Kuchen mit den


wandeln am See


auf Götz Georges


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