10 19./20. OKTOBER 2019
Gutsch
Leo
DerMann mitdem
Serpentinen-Fuß
V
or ein paarTagen las ich einInterview
miteinemSportmediziner.Denkonkre-
tenInhalthabeichzugroßenTeilenverg es-
sen,daich47Jahrealtbinundmirnurnoch
Dinge merke möchte,die ich als besonders
wertvollerachte.EinenSportmediziner-Satz
habe ich allerdings behalten: „Mit ausrei-
chenderBewe gung kann man 20Jahrelang
40bleiben.“
Dasfandichinteressant.Undverlockend.
Irgendwann könnte ich ein 60Jahrealter
Mann sein, gefangen im Körper einesVier-
zigjährigen.Wunderbar!Leiderbedarfesd a-
für „ausreichenderBewe gung“. Heißt kon-
kret:zweibisdreiSporteinheitenproWoche,
sagtder Sportmediziner.
Mein Leben lang habe ich vielSportge-
trieben. NochimmerbinichstolzesMitglied
ineinemFußballverein,aberseitzweiJahren
spiele ich nur noch selten, da ich eigentlich
immerverletztbin.Binichnicht verletzt,bin
ich im Aufbau-Training. Dabei verletzeich
michdannwieder.Esi stein Teufelskreis.
Allesbegannmiteinem„Fersensporn“im
linken Fuß. Dererste Arztverschrieb mir
eine Stoßwellen-Therapie.Mein Fersen-
spornwar aber immun gegenStoßwellen.
Derzweite Arzt gab mirInjektionen in die
Ferse.Esw arhöllisch,alswürdemirjemand
eine Rouladen-Nadel ins wunde Fleisch
rammen. Derdritte Arzt sagte kopfschüt-
telnd:Was?Spritzen? Siebrauchenorthopä-
discheEinlagenfürdieSchuhe!
DurchdieEinlagengewannichetwasan
Körpergröße,wasmirgefiel.Gleichzeitigver-
änderte sich auch meine„Statik“, sagte der
Arzt. VielleichtlagesanderverändertenSta-
tik, jedenfallsriss kur znach Abklingen des
Fersensporns mein Kreuzband imrechten
Knie.
Also:Es rissnichtganz.
Ichging wieder zu Ärzten.Siesagten:
WäredasKreuzbanddurchgerissen,würden
wiroperieren.Aberesistnurangerissen,da
kann man eigentlich nichts machen.Sie
brauchenGeduld,HerrGutsch.
DasWort„Geduld“ höreich im Rahmen
meiner Verletzungskarrieresehr oft. Lieber
wäremirdas Wort:„Heilung“.Oderder Satz:
„Bald sind sie wieder topfit!“Dassagen die
Ärzte aber nie,sondernverweisen auf die
Geduld: ein medizinischesTrost-Almosen
fürmittelalte,hoffnungsloseFälle.
Als der Kreuzbandanriss ausgeheilt war,
fühlteichmicherlöst,gesegnet,vonGottge-
küsst.Halleluja.IchbetratdenFußballplatz,
woichmirohneGegnereinwirkungeineVer-
letzungimrechtenSprunggelenkzuzog.
Ichmöchteehrlichsein:AlleVerletzungen
derletztenMonatepassiertenohneGegner-
einwirkung.Dasdeprimiertmichbesonders.
Istmein Körper schon so morsch, dass er
quasivonselbstzusammenfällt?
GroßeSchamverspüreich,wennich zer-
schlagen, humpelnd und deprimiertvom
FußballplatznachHausekommeundmeine
Fraufragt: WieistdennDASpassiert?
„Ohne Gegnereinwirkung“, nuschle ich
leise.UnddenkeandieheldenhaftenVerlet-
VonJochen-Martin Gutsch
zungen meinerJugend zurück, ausgelöst
durch dieBrutalo-Grätschen hünenhafter
100-Kilo-Verteidiger.Oder durch perfideEl-
lenbogenschläge an denKopf. Oder üble
TritteindieWaden.Waswürdeichheutege-
benfüreineeinzigeVerletzungMITGegner-
einwirkung!
MitderSprunggelenksverletzungfuhrich
in die Rettungsstelle.Diagnose? Bänderan-
riss.Therapie?Siebrauchen Geduld, Herr
Gutsch! Später ging ich zurBehandlung bei
einerFußkoryphäe.DieKoryphäesagte:Die
Bänder sind völlig intakt.Aber ich hätte ei-
nen „Serpentinen-Fuß“–schwierig für die
Statik.DannbekamichneueEinlagen.
Wassollichsagen?DieKunstindenmitt-
leren Lebensjahren besteht nicht daran,
zwei-bisdreimalwöchentlichSportzut rei-
ben.DaskannjederTrottel.EinegroßeKunst
aber ist es,NICHT mehrSportzut reiben.
UndsichtrotzdemnochwieeinSportlerzu
fühlen.Wieman das schafft?Ichbefürchte:
mitGeduld.
Wenn einwenig
Zeit ist, wird ge-
schmökert–
Müllfahrer Ali
Cetin, einer der
aktivsten Bü-
cher-Retter und
eine Leseratte.
„Kulturbrücke“
nennen die
Hobby-
Bibliothekare
von
Cankaya
humorvoll ihr
Trockendock –
tolle
Konzeptkunst-
Installation
D
ieshierist,weitabder verstörendenNachrich-
tenüberKampfhandlungendertürkischenAr-
meeimkurdischenGrenzgebietzuSyrienund
Erdogans Politik, mal eine so freundliche wie
kuriose MeldungausdemAlltagvonAnkara.Dortistgerade
der Berliner Fotograf Jean Molitor aufSpurensuche nach
meistweißenodersehrhellgestrichenen,lichtenundgeo-
metrisch geformten Häusern.DenBauhaus-Architekturen
weltweitgiltschonlangeseineObsession.Unlängstschickte
ihn das Goethe-Institut in türkischeGefilde,ind ie Haupt-
stadt Ankara, wo das 100-jährigeBauhaus –und die türki-
sche Moderne –ebenfalls markante Architektur hinterlas-
senhaben.JeanMolitorsuchte–undfandjedeMengeBau-
haus-Spuren.
UnddannhatteeretwasvölligUnerwartetes,sehrKurio-
sesvorderKamera-Linse,etwas,dassogarnichtsmitHäu-
serbauen,KunststilenundArchitekturgeschichtezutunhat:
EinemobileMüllwagen-BibliothekindenStraßender Stadt,
diejedermannnutzenkann.Esisteinegeschicktzurrollen-
denBüchereiumgebauterMüllwagen,ganznachdemhis-
torischen Vorbild des legendären „Onkel Mustafa“, der in
den 50er-und 60er Jahren mit seinem Eselchenund dem
Bücherkarren durch dieweit entfernten anatolischen Dör-
ferzogunddenLeutendieLiteraturnahebrachte.
Tatsächlich ist das ein liebenswertesKuriosum, Berge
vonBüchernallerGenres: weggeschmisseneBücher,diege-
rettet wurden–die Bibliothek der MüllfahrervonAnkara.
Jean Molitor hat sie angesprochen.„Freund Zufall war mit
im Spiel“, erzählt er bei seinem Anruf aus der türkischen
Hauptstadt.Er habe einwenig an Schopenhauer gedacht,
der die Auffassungvertrat, der Welt liege ein irrationales
Prinzipzugrunde.
DerdeutschePhilosoph undKant-Schüler schrieb,das
ZufälligsteseinureinaufentfernteremWegeherangekom-
menesNotwendiges.Esw aralsodemnachnotwendig,dass
derBerlinerHäuserfotografaufdieBüchertransportieren-
den anatolischen Müllfahrer aufmerksam und kurzdarauf
injenesalte,1999geschlosseneZiegeleigeländeimStadtteil
Çankayaeingelassenwurde.DasArealdientseitdreiJahren
alsFuhrparkderstädtischenMüllabfuhr.
„ÜberdieJahrehabendieMüllkutscherTonnenvonBü-
chernausdem Abfallgerettet“,berichtetMolitor.DieMän-
nerhättendasGewölbedereinstigenZiegeleiliebvollreno-
viert, RegaleundBeleuchtunggebaut,dieBücherkatalogi-
siertundprofessionellnachSachgebietengeordnet:Natio-
nale undWeltliteratur,politische und gesellschaftliche wie
naturwissenschaftlicheSachbücher,Koch-, Garten- und
auchKinderbücher.
InzwischenhabendieLaien-Bibliothekareaufgehört,die
gestapeltenundneudazukommendenBücherzuzählen.In
Nebenräumen stapeln sich dieFundstücke.AnWänden
hängendieaufdenMüllplätzenderStadtim Regennassge-
wordenen Bände zumTrocknen in extradafür gebastelten
„Hängematten“.Molitorstaunt:„DieMännerlassennichts
unversucht, um Bücher zuretten, als handele es sich um
Schätze.“
SelbstredendnutzendieseRettersamtihrerFamiliendie
Bibliothekauchselbst,soweitdie Pausenunddereineoder
anderefreieTagesz ulassen.
UnddieMüllfahrermachenFührungen,mehrmalsindie
WochekommenSchulklassen,denensiedenWertvonBü-
chernbegreiflich machen.Oder Bücherfreunde.Ausgelie-
hen wir dunbürokratisch, ein Leihzettel genügt, nach zwei
Wochen sollte derBand wieder zurückgebrachtwerden.
Wenn nicht, dann gilt er eben als geschenkt.Jean Molitor
sagt, am meisten beeindruckt habe ihn die internationale
Abteilung–unteranderemmitantiquarischenEnzyklopä-
dien und fast neuenHeften vonNational Geographic.
Kurios,dassAlbertEinsteinsSchriftengleichnebenHeften
mit denComic-Figuren der Schlümpfe lagern.Aber das
dürftewohlnureinsehrlustigesVersehensein.
Hier in den
Gewölben der
einstigen
Ziegeleivon
Çankaya wartet
nocheine
Unmenge
Sortier-,
aberauch
Recherche-
Arbeitauf die
Bücher
liebenden
Müllmänner
vonAnkara.
JEAN MOLITOR (4)
Undder
Nationalheilige
Atatürk
wachtüber
daszivile
Rettungswerk.
Raus
aus
der
Tonne
DerBerlinerFotograf
JeanMolitor
entdeckteperZufall
dieBibliothekder
Müllfahrervon
Ankara
VonIngeborg Ruthe