Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

19./20. OKTOBER 2019 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Das Stuttgarter


Schuldbekenntnis



  1. Oktober 1878


Sozialistengesetz:DerReichstag desDeut-
schen Reichs verabschiedet dasGesetz ge-
gen die gemeingefährlichenBestrebungen
der Sozialdemokratie und legalisiertdamit
dievonOttovonBismarckzurStaatsdoktrin
erhobeneSozialistenverfolgung.


  1. Oktober 1945


Schuld:Im Stuttgarter Schuldbekenntnis be-
nennt dieEvangelischeKirche in Deutsch-
landerstmalsnachdemZweitenWeltkriegdie
MitschuldderevangelischenChristenanden
VerbrechendesNationalsozialismus.

Und am 19. Oktober 1989 in der
Berliner Zeitung

Erich Honecker:Liebe Genossinnen undGe-
nossen! Nach reiflichem Überlegen und im
ErgebnisdergestrigenBeratungim Politbüro

Napoleon flieht zu Ross nach sei-
ner Niederlage bei Leipzig. IMAGO

Der Altreichskanzler Otto von Bis-
marck im Jahr 1898. IMAGO

binichzufolgendemEntschlußgekommen:
Infolge meinerErkrankung und nach über-
standenerOperation erlaubt mir meinGe-
sundheitszustandnichtmehrdenEinsatzan
KraftundEnergie ,dendie Geschickeunserer
Partei und desVolkes heute und künftigver-
langen.DeshalbbitteichdasZentralkomitee,
mich vonder Funktion desGeneralsekretärs
des Zentralkomitees der SED,vom Amt des
Vorsitzenden desStaatsrates der DDR und
vonderFunktiondesVorsitzendendesNatio-
nalenVerteidigungsratesderDDRzuentbin-
den.DemZentralkomiteeundderVolkskam-
mersollteGenosseEgonKrenzvorg eschlagen
werden, der fähig und entschlossen ist, der
Verantwortung und demAusmaß der Arbeit
sozuentsprechen,wieesdieLage,dieInter-
essen derPartei und desVolkes und die alle
Bereiche derGesellschaft umfassendenVor-
bereitungen des XII.Parteitages erfordern.
DieGründungunddieerfolgreicheEntwick-
lungdersozialistischenDeutschenDemokra-
tischen Republik betrachte ich als die Krö-
nungdesKampfesunsererParteiundmeines
eigenenWirkensals Kommunist.


  1. Oktober 1813


Befreiungskriege: DieVölkerschlacht bei
Leipzig endet mit der entscheidendenNie-
derlageNapoleon Bonapartes (1769–1821)
unddemEinmarschderverbündetenpreußi-
schen undrussischenTruppen unter dem
OberbefehlvonKarl Philipp zu Schwarzen-
berg(1771–1820)inLeipzig.Mitbiszu600000
beteiligtenSoldatenausmehralseinemDut-
zend Ländernist dieserKampf bis zumBe-
ginndes20.Jahrhundertswahrscheinlichdie
größteSchlachtderWeltgeschichte.Mehrals
120000 Soldaten werden getötet oderver-
wundet.


D


asLinden-MuseuminStuttgart
zeigtnochbiszum3.Mai2 020
einegroßeAusstellungüberdie
Azteken.EsludvierJournalisten
einzueinem Lokaltermin nachMexiko-
Stadt.Bezahltwurdedasvoneinemunsun-
bekanntenprivatenSponsor.BeidieserGe-
legenheittrafichLeonardoNáuhmitlLópez
Luján, geboren 1964 inMexiko-Stadt, einen
der besten Kenner der aztekischen Ge-
schichte.Seit1991leiteterdieAusgrabungen
amTemploMayor, demehemaligenHaupt-
tempelderAztekenhauptstadtTenochtitlán.
Dessen Überreste befinden sich mitten im
Zentrum vonMexiko-Stadt.Ichsprach mit
LópezLuján in seinerGrabungshütte.Um
unsherumdieMitarbeiter,dieindurchsieb-
ten Sandhaufen nach winzigenResten von
MuschelnsuchenoderFundein3D-Compu-
tersimulationenderaltenRäumeeintragen.


WelcheRollespieltdieArchäologiefürdieme-
xikanischeIdentität?
In Mexiko liegt die Archäologie in den
HändendesStaates.Sieistso zentralfürdas
mexikanischeSelbstverständnis,dasssienur
vomStaatfinanziertwerdendarf.Sieisteine
nationaleAufgabe.Das Institut, in dem ich
arbeite,das Instituto Nacional de
AntropologíaeHistoria,wurde1939vomda-
maligenPräsidenten LázaroCárdenas del
Río gegründet. Es warTeil eines nationalen
Programmes,zud em die Einigung unter-
schiedlicher gesellschaftlicher Kräfte in der
NationalenRevolutionspartei und dieVer-
staatlichung der Ölindustrie,der Elektrizi-
tätswerkeundderEisenbahnengehörte.Die
Archäologie ist integralerBestandteil dieser
nationalenNeugründungMexikos.


Wiegroßistdas Institut?
7000Mitarbeiter.Dashör tsichnachviel
an. Aber wir brauchen viel mehr.194 dem
Publikum zugängliche archäologischeZen-
trengibtesinMexiko.Wirforschennatürlich
nochanvielmehrOrten.Wirsindzuständig
für123 Museen.Daransiehtman,wieunge-
heuer groß dasInteresse derMexikaner an
ihren Wurzelnist.EsgehtdemLandnichtso
gut, alsowendet man sich auf derSuche
nach seinerIdentität, nach etwas,worauf
manstolzseinkann,derVergangenheitzu.


Mexikoist,dasstehtsogarinderVerfassung,
einmultikulturellerStaat.
Mehr als neunzigProz ent der mehr als
120MillionenMexikanersindNachkommen
vonMenschenverschiedenster Herkunft.
SechsMillionenMenschendagegengehören
immernochreinindigenenGruppenan.Das
ist ein vonden Regierungen immer wieder
übersehenerReichtum.IndenletztenJahren
hatsichdasgeändert.Jetztheißtesoffiziell,
wirallehättenaztekischeWurzeln.


UnddieMayas,die Zapotekenundalldiean-
derenindigenenVölker?
WirsindnichtalleNachkommenderAz-
teken. DieAzteken kamen erstvorsieben-
hundertJahrenhierher.UnsereWurzelnrei-
chen aber viel tiefer.Wir haben eineBank,
die heißtAztekenbank, wir haben dasAzte-
kenstadion.WirMexikanerredenwenigvon
den Maya. Einer der Gründe ist:Sieleben
und lebten auch auf demGebiet des heuti-
gen Guatemala,Belize, Honduras ,ElS alva-
dor.DieAztekendagegensindetwasexklusiv
Mexikanisches.Wer auf Identität scharfist,
dergreiftnachdenAzteken.


Siegraben seit Jahrzehnten am Templo
Mayor,alsoamAztekenmythos.
Wirerforschen dieAzteken. Wirbasteln
nichtanderAztekenideologie.MeineFami-
liekommtausdemNordenvonMexiko,aus
demStaatChihuahua,derandieUSAgrenzt.
Diese Gegend und ihreBevölkerung wurde
lange vernachlässigt.In der dortigen Dürre
entstanden auch keine großenZivilisatio-


Der aztekische Gott Quetzalcoatl. Noch bis zum 3. Mai zu sehen in der Azteken-Ausstellung im Lindenmuseum Stuttgart LANDESMUSEUM WÜRTTEMBERG

nen. Aber natürlich gehören sie ebenso zu
unseren WurzelnwiezumBeispieldieunbe-
kanntenErbauer der monumentalenTem-
pelanlagenvonTeotihuacán.Wirmüssen
uns diesen unterschiedlichenTraditionen
zuwendenundsieanalysieren.

DerAztekenkult ist etwas merkwürdig.Sie
sinddochdieVerlierer.
DieSpaniergewannendenKriegundha-
ben 1521 das Aztekenreichzerstört. Das
wurde lange gefeiert.Aber im 20.Jahrhun-
dertverdrängen wir unserespanischeGe-
schichte.DermexikanischeStaatfördertdie
präkolonialeGeschichte.Sie werden in Me-
xiko-Stadtverg eblich nachDenkmälernfür
dieKonquistadorenAusschauhalten.Inan-
deren LändernLateinamerikas ist das an-
ders.Uns stör tdie Kolonialgeschichte.Wir
leugnensie.

Weil hier dasZentrum war,das Vizekönig-
reichNeuspanien?
Wohleher ,weildas SpanischenichtsBe-
sonderes war,nichts,das nur uns auszeich-

nete.Die Azteken dagegen sind genau das.
Darumgeht es bei der politischenVerwen-
dung derVergangenheit: etwasApartes für
sichzuhaben,etwasBesondereszusein.

DieAztekenwarenauchEroberer.
Siewaren Konquistadoren wie dieSpa-
nier.Man erzählt immervonden Gräuelta-
ten derAzteken. Manübertreibt vielleicht
manchmal.Aber im Kern stimmt es.Auch

die Spanier begingen schrecklicheVerbre-
chen. Azteken undSpanier sindMenschen,
also begingen sieGräueltaten.WieMen-
schenestatenundtunüberallaufderWelt.

Auchdiese Gräueltatengehörenzurnationa-
lenIdentitätderMexikaner?
Aber natürlich.Manche der indigenen
Gruppen wollen zurück in einevonihnen
idealisierteVergangenheit.Siedenken, die
seiein Paradiesgewesen.WieesD iegoRivera
inseinenBildernimP alacioNacionalgemalt
hat.SieleugnendieMenschenopferundbe-
haupten,diechristlichenMissionarehätten
die erfunden.WirArchäologenmachen uns
da nicht beliebt,wenn wir Überrestevon
Menschenopfernfinden. DieandereSeite
freut sich allerdings auch nicht.Wirweisen
nach, dass dieSpanier übertrieben, was die
Zahlder Menschenopferanging.

Hatdas Menschenopfer mit derStaatenbil-
dungzutun?
Zunächstkannmansagen,dassdieazte-
kischenMenschenopfer,auch derrituelle

KannibalismusinMesoamerika,keineazte-
kischen Besonderheiten waren. In
TeotihuacánundandenMayastättenfinden
sichebenfallsBelegefürgroßeMenschenop-
fer.AuchbeiZapotekenundMixteken.Wenn
SieweiternachNordengehen,findenSie
MenschenopferauchbeidenErbauernder
großen Erdhügel inWestVirginia oderMis-
sissippi.AberauchimSüden,beidenMoche
inPeruzumBeispiel,gibtesjedeMengeBe-
lege fürMenschenopfer.Gehen Sieind en
Sudan, nach China.In vielen Winkeln der
WeltgabesMenschenopfer.Warumsieauf-
kommen undwarum siewiederverschwin-
den,wissenwirnicht.

EsgibtkeinAufundAb?
Ichglaube schon. Es ist einUnterschied,
obessichumeinereligiösePraxiskleinerPo-
pulationen handelt oder um eine politische
PraxisgroßerStaaten.BeidenAztekenhan-
delte es sich darum.KeinWunder,dass die
Zahlen nach oben gingen.In Krisenzeiten
werden die Zahlen wohl auch ansteigen. Es
geht dabei auch darum, auseinanderfal-
lendesozialeGruppenwiederzusammenzu
schmieden.DurchOpferunddurcheinege-
meinsameIdeologie.

WovonträumtMexiko?
Alle Mexikaner träumenvoneinem bes-
seren Mexiko.Viele glaubennicht mehr
daran und wandernaus.Wir haben hier in
Mexiko seit dreißig Jahren Bürgerkrieg. Wir
nennenesnichtso.AberwasdieZahlderEr-
mordeten, der Verschwundenenangeht, ist
es einer.Ich bin 55 Jahrealt. Ichkann mich
noch an bessereZeiten erinnern. 1960, vier
Jahrevor meiner Geburt, hatte Mexiko 38
MillionenEinwohner,heutesindes120Mil-
lionen. DieUngleichheitist gewaltiggestie-
gen und mit ihr die Gewalt. Sienimmt Jahr
fürJahrzu.WirsehenkeinenAusweg.

DasfrisstanihremStolz?
WirMexikanersindsehrstolzdarauf,Me-
xikanerzusein.AberunsereGegenwartgibt
unsdazuwenigAnlass.DarumspieltdieAr-
chäologieeine so große Rolle.Sie zeigt uns,
dass wir ein starkes Land sein können.Wir
Mexikanersindsehrchauvinistisch.

DieArchäologiezeigtnatürlichauch,dassdie
UngleichheiteinealteVertrauteist.
Neuistsiewirklichnicht.Diemesoameri-
kanischeGeschichtekönnenwirganzgutbis
ins8.vorchristlicheJahrhundert,biszuden
Olmeken,verfolgen. Diebei Kunsthistori-
kernsobeliebtengroßenrundenKöpfesind
dieKöpfederHerrscher.Siezeigennichtnur
daskünstlerischeKönnenderOlmeken,son-
dernauch die in ihrer Gesellschaftherr-
schendeUngleichheit.

DieengeVerbindungvonStaatundArchäolo-
gieistdocheinProblem?
Überall auf derWelt hat die Archäologie
politischenZielen gedient.Deramerikani-
sche Präsident ThomasJefferson war zum
Beispiel sehr an den großen Erdhügelnin
Virginia interessiert. Auch er suchte eine
amerikanische,eineindianischeIdentitätfür
dieneuevonBritannienunabhängiggewor-
deneNation.DaskulturelleErbeunsererin-
dianischenVergangenheit spielt inMexiko
eine zentrale Rolle.Mexiko wurde 1821 ge-
gründet. Schon 1827 hatten wir einGesetz,
dasdie AusfuhrvonKunst-undKulturgütern
strengenRegelnunterwarf.

SielebteneinmalinBerlin?
Dasist etwas übertrieben. 1981 las mein
Vater an derHumboldt-Universität inOst-
Berlin über dieAzteken. Er tat das auch an
der Wilhelm-Pieck-Universität inRostock.
So lebte denn unsereFamilie einSemester
langin Ost-Berlin. VergangenesFrühjahrwar
ichwiederinBerlin.Ichmagdie Stadtsehr.
AuchmeineTochteristganzbegeistert.

Archäologie und Nation


MitderLoslösungausdemspanischenWeltreichwurdefürdie


MexikanerdieFragenachdereigenenIdentitätimmerwichtiger.


DieAztekenwurdenzumnationalenMythos


Interview:ArnoWidmann


LEONARDO LÓPEZ LUJÁN

Der mexikanische Archäologeist einer
der besten Kenner der aztekischen Ge-
schichte. Er istAutor zahlreicher Bücher
zur Archäologie und Geschichte desvor-
kolonialen Mexiko. Keines wurde ins
Deutsche übersetzt.
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