Berliner Zeitung - 26.10.2019

(Ron) #1

Berlin


10 Berliner Zeitung·Nummer 249·26./27. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


Dinge (4):


Kuscheltiere


M


anchmal hat man denEin-
druck,dieheutigeWeltbesteht
auslauterKuscheltieren.EsgibtUn-
zählige,ina llenFormen,kitschigbis
dorthinaus.„Da kriegsterichtich
Angst“, sagt mein innererBerliner,
„vor allem bei denGlubschi-Vie-
chernmit den riesijen Kulleroogn,
die de überall siehst. Diesolln wohl
Mitleid errejen. Weltweit krepeln
lauterArtenab,aberTausendeStoff-
tierekannstekoofen.“Ichkenneeine
Familie,von derenSofa einenDut-
zendeKuscheltiereanglotzen.Wenn
manzwischenihnenPlatznimmt,ist
man verschwunden.ZumLachen!
WächstdieSehnsuchtnachplüschi-
gerGemütlichkeitparallelzursozia-
lenKälteinderAußenwelt?
Als Kind besaß ich nurwenige
Stofftiere. Dazu gehörte ein kleines
Reh, das ich sehr liebte.Leider
mussteichmichschonfrühvonihm
trennen.Unddas kam so: Es war
Sommer.Wir Kindergartenkinder
standen alle nackig amPlanschbe-
cken und warteten darauf,reinge-
henzudürfen.Ichinteressiertemich
fürdasMädchennebenmir,dasRita
hieß.Dasswiralleuntenrumanders
aussahen, wusste ich schon.Aber
beimAnsteheninderGruppehatten
wir endlich malRuhe,uns genauer
zu betrachten, was wir auch taten.
He,wirwarenfünfJahrealt!
Plötzlich stürzte eineErzieherin
auf mich zu undzogmich aus der
Reihe.„Watmachst’n du da? Pfui!“,
riefsie .„Abaufden Stuhlhier!Heute
jibskeinBadenfürdich.“Ichwusste
nicht, wofür ich bestraft werden
sollte,undfandeshöchstungerecht.
Nach einigerZeit kamen dieKin-
der aus demWasser und guckten
mich blöd an, wie einenVerfemten.
Viele hatten gar nichts mitbekom-
men, aber durchaus eineMeinung
(dasistsobeidenKleinenwiebeiden
Großen): Ichmusste was Schlimmes
verbrochenhaben!EinMädchen–es
hießRegine–bautesichsogarvormir
auf und schimpfte auf mich ein, in
nervigerTanten-Art.Manche tragen
jabereitsfrühdenPädagogenkeimin
sich.„Immer nur du!“, sagte sie.„Du
bist ein richtiger Störenfried. Doofer
Störenfried! Störenfried, du!“ Sie
hörtenichtaufzusticheln.
Ichwurdewütend,verlordie Fas-
sung, ging auf sie zu und biss ihr in
denOberarm.DasFleischknirschte,
was mir seltsamvork am. EinSchrei
riss die Erzieherinnen herbei.Ich
wurde in dieEcke verfrachtet, wäh-
rendeineandereTantedasheulende
MädchenaufdenSchoßnahmund
sichdenSchadenbesah.Ichwarmir
sicher,dassnungleichdiePolizei
kommenwürdeundichinsKinder-
heimkäme.„Dubistwieeintollwüti-
gerHund“,sagtedieErzieherin.
MeineMutterfielamAbendaus
allenWolken.Siefragtemich,warum
ichdasdenngetanhabe.Ichkonnte
ihrkeineErklärunggeben.Sieschlug
mir vor, bei der gebissenenRegine
um Verzeihung zu bitten.Ichsollte
mich vondem liebstenSpielzeug
trennen, das ich hatte,umesihr zu
schenken.Unddaswarmeinkleines
samtigesStoff-Reh.
Ichsträubte mich, schluchzte
und weinte.Doch nichts half. Es
sollte mir jawehtun. Also ging ich
amnächstenTagzuR egine,streckte
ihr dasRehentgegen und sagte:
„Da!“ Siebegriff nichts.Ich sagte:
„Weil ich dich gebissen habe.“Sie
nahmdasRehundguckteesdoofan.
Ichsah es nie wieder.Sie wir des
kaum so geliebt haben wie ich.Von
nunanhatteicheinäußerstgespal-
tenesVerhältniszuKuscheltieren.So
waskommtmirnichtinsHaus!


Buch ˜esunƒ½Torsten Harmsen liestaus: Der
Mondist ei nBerline r. Wu nderliches aus dem
Hauptstadt-Kaff (be.braVerlag). 30.Oktober,
20.15 Uhr,Thalia Berlin, HallenAm Borsigturm,
Am Borsigturm2,13507 Berlin.


Harmsens Ber˜in


TorstenHarmsen
erzähltinloserFolgeüber
denWandelderDinge
imLeben

Scheinbares Chaos vor dem Klimaanla-
gentest: Die Dosen verdampfenWasser.

STRT 6 ER S

ie neue SŽBahn:Siemens und Stadler
haben damit begonnen, die nächste
Fahrzeuggenerationder Berliner S-Bahn
zu bauen. Bestellt wurden 85 Zügemit
vierWagenund 21 Zwei-Wagen-Einhei-
ten. Die zehnVorserienfahrzeugesind
nun fertig und absolvieren diverse Prü-
fungen. 2021 soll der Einsatz imFahr-
gastbetrieb beginnen–zunächst auf
der S47, später auch auf den Linien
S46, S8 sowie S41/42.

ie ƒro„eKrise:Das Fahrzeugprojekt
ist auch eine Reaktion auf die Krise, die
ab 2009 ihre Höhepunkte erlebt hat.
Es begann mit winterlichen Zugausfäl-
len und setzte sich mit einem Radbruch
fort. Im Sommer 2009 stellte das
Eisenbahn-Bundesamt fest, dass das
DB-Unternehmen Prüfauflagen nicht
eingehalten hatte. Die Staatsanwalt-
schaft rügte „Managementfehler“.

GefrierbrandaufdemGleis


DieneueS-BahnsollbeijedemWetterfunktionieren–andersalsinfrüherenChaosjahren.


Deshalbwirdsienuntestweisetiefgekühlt.EinOrtsterminimlängstenKlima-Wind-KanalderWelt


Von/eter Neumann


W


ie siehtesdennhier
aus? DasInneredes
S-Bahn-Zugesmacht
den Eindruck, als
hätte sich einComputernerdaus-
getobt. Oder hat jemand ein
Sprengstoffattentatvorbereitet? Es
gibt kaum nochPlatz zum Laufen
undSitzen,auchdieRollstuhl-und
Fahrradplätzesindmit Technikzu-
gestellt. Kabel in allen Farben
schlängelnsichdieGängeentlang.
Manche Leitungen beginnen in
runden Kunststoffdosen, die wie
kleineUfosaussehen,anderemün-
den in grauen Recheneinheiten.
Vonder Decke hängen längliche
Geräte ausMetall, die wieMikro-
foneaussehen,aberkeinesind.
DasÄußereder Vier-Wagen-
Einheit 484 005 A-D ist ebenfalls
auffällig anders.Obwohl ein paar
Meter weiter Herbstsonne Wärme
verbreitet, überzuckertzweiMilli-
meter dickesEisdie Türtaster der
S-Bahn.Auch die Frontscheibe ist
zugefroren,undvonderKupplung
hängenEiszapfenherab.Einminus
zehnGradCelsiuskalterWindhüllt
dieWageninglitzerndenNebelein
und lässt die S-Bahn wie eine mo-
derne Version desFliegendenHol-
länders anmuten. Dass jemand
„S26 Hermannstraße“ alsZielan-
zeige eingestellt hat, ist da fast
schonnebensächlich.SoeineLinie
gibt es im Berliner S-Bahn-Netz
nicht.Vielleicht war es ein Scherz.
WashatesmitdemZugaufsich?
Willkommen in derFolterkam-
mer! So nennt Steffen Obst, der
beim Schweizer Schienenfahr-
zeughersteller Stadler den
Deutschland-Vertrieb leitet, den
länglichen tunnelartigenRaum, in
demderZugdienächstendreiWo-
chenzubringenwird.„Hierwirddie
neue S-Bahn fürBerlin undBran-
denburgklimatisch gestresst“, er-
klärtderIngenieur.Auchdie Erpro-
bung der Klimaanlage steht auf

dem Zettel. Denn die Züge,die ab
2021nachundnachaufdemRing
undimSüdostenBerlinsindenBe-
trieb gehen,werden in derHaupt-
stadt-Region die ersten S-Bahnen
mitklimatisiertenFahrgasträumen
sein –eine Neuerung, die sehr gut
vorbereitetwerdenwill.
Folterkammer:Das ist ein pas-
sender Vergleich für den hundert
Meter langenRaum, der sich im
wenig beschaulichen 21. Bezirk
vonWien erstreckt.Fernab seiner
künftigenHeimat wirdeiner der
ersten zehn neuen S-Bahn-Züge,
dieStadlerundSiemensalsVorse-
rieproduzierthaben, im längsten
Klima-Wind-Kanal derWelt getes-
tet.Odersolltemansagen:gequält?
Martin Hoffmann,Projektleiter
bei Stadler Pankow, erklärt, was
zwei derWagen erdulden müssen.
MalwirddieKlimakammeraufmi-
nus 25 Grad Celsius herunterge-
kühlt –klirrende Kälte.Mal wird
dortdieHeizungauf45Gradaufge-
dreht –extreme Sommerhitze, wie
Berlin sie imZeichen des Klima-
wandelskünftigöftererlebenwird.
VerschiedeneWetterlagenwerden
inszeniert,soHoffmann.„Trocken-
schnee bei minus 15Grad, nasser
Schnee bei minus sieben Grad,
Starkregen bei 20Grad plus“–um
nureinigeBeispielzunennen.

StürmemitTempo
GehendieTürenbeiEisaufundzu?
Funktionieren Kupplung, Strom-
abnehmer undBremse auch bei
Winterwetter?DringtSchneeindie
Elektronikkästen unter denWagen
ein,die HerzundGehirnderneuen
S-Bahnbilden?DieListeistlang.
„Vorsicht!DerBodenist vereist“,
lautetdieWarnung.WerohneMan-
telundMützerkommt,fühltsichin
dembeißendkaltenLuftzugso ,als
wäreeri ns Nordmeer geworfen
worden.LichtelementeanderSeite
tauchendieBerlinerS-Bahninglei-

ßendes Licht.Bis1000 Watt sind
möglich, und man sollte sie auch
sonstnichtunterschätzen:DerAn-
teil an ultraviolettem Licht, das
Hautund Augenschädigt,lässtsich
soeinstellen,dasserdemderech-
tenSonneentspricht.Deshalbgibt
es an der Tür zur Klimakammer
nicht nur Kältecreme,sondern
aucheinenSonnenmilchspender.
Gabriel Haller ist nicht in den
riesigen Kühlschrank mitgekom-
men. DerGeschäftsführer und
technischeLeiterdesRailTecArse-
nal (R TA)steht in der Leitzentrale
undbeobachtetdieS-Bahnaufei-
nem Videomonitor.„Wirtesten
nicht nur Züge,sondernzum Bei-
spiel auchFlugzeugturbinen,Stra-
ßenfahrzeuge,Weichen und an-
dereTechnik“, sagt er.Manchmal
istdasfürdiefast40Beschäftigten
einharterJob. Jüngstwurdefürei-
nen Bus, der für ein arabisches
Land bestimmt war,ein 55 Grad
heißer Wüstensturmentfesselt.
„Gegen so eineHitzekann man
sichnichtschützen“,sagtHaller.In
dem Sturmmühte sich die Klima-
anlage damit ab,die Innentempe-
raturim Busbei26 Gradzuhalten.
AuchPanzer ,Schneefräsenund
Fassadenelemente waren schon in
dem unauffälligen Industriebau
östlich der Donau zuGast. Regen,
Schnee,Hitzeund(mit Hilfevon
Tonnen Sole) Eislassen sich dort
erzeugen, außerdemStürme mit
einer Geschwindigkeitvonbis zu
300Kilometernind erStunde.
Etwas länger ist es her,dass ein
Tierforscher kam: „Erbrachte ei-
nen Adler mit“, erzähltKatharina
Wagner.DerVogelhatteabersoviel
Angst,dassausdenWindkanalver-
suchen nichts wurde.Wagner ist
dieSprecherindes Unternehmens,
das Siemens,Bombardier,Alstom,
HitachiRailItalyunddemAustrian
InstituteofTechnologygehört.Das
Prüfinstitutwurdeöffentlichfinan-

ziert. Die65-Millionen-Euro-In-
vestitionsoll mit Pachtzahlungen
vondreiMillionenEuro proJahr
wiederhereinkommen.
FirmenchefHallerweiß,warum
UnternehmenwieStadlerundSie-
mensSchlangestehen,umihreVe-
hikelineinemderdreiFloridsdor-
fer Klima-Wind-Kanäle nach allen
Regeln derKunst stressen zu las-
sen.ZwarkosteteinTagiml angen
Windkanal, der sich auf 60Grad
aufheizen und auf minus 45Grad
kühlenlässt,30000Euro.Nichtwe-
nig.„I mSchnittbetragendieEner-
giekosten5500 Euro proTag –es
können aber auch schon mal
11000 Euro sein.“ Doch diePrü-
fungen, die je nachFahrzeug fünf
TagebisdreiMonatedauern,kön-
nen Schwachstellen aufdecken–
was Herstellernund Betreibern
später Kosten er spart.„Wirverrin-
gerndasRisikofürImageschäden“,
sagtder Ingenieurselbstbewusst.

Ander Wartunggespart
Imageschaden:Dasist im Fall der
S-Bahn BerlinGmbHziemlichun-
tertrieben–Imagedesaster würde
dieSachebesse rtreffen.Alsvorei-
nem Jahrzehntdie S-Bahn-Krise
ihreersten Höhepunkte erreichte,
war nicht nur dasImage des einst
wegen seinerZuve rlässigkeit ge-
priesenenVerkehrsmittelslädiert.
DieganzeRegion litt, als die
Krise damit begann, indem bei
Winterwetter reihenweise S-Bah-
nenausfielen.AufdenBahnsteigen
bibbertenFahrgästen denverblie-
benen Zügen entgegen, um dann
in vollenWagen zu schwitzen.Mit
jedemTagschrumpfte diebetriebs-
fähige Flotte weiter.Zeitweise er-
reichtedieZahlderabgestelltenS-
Bahn-WagendreistelligeWerte.
SchneedrangindieKästenun-
terdenZügeneinundersticktedie
Bordelektronik,Tauwasse rsetzte
Antriebe schachmatt. „Wenn man

Ganz schön kalt hier! Einer der ersten neuen S-Bahn-Züge wird im längsten Klima-Wind-Kanal derWelt getestet. Eis bedeckt dieFront, von derKupplung hängen Eiszapfen herab. BERLINER ZEITUNG/PETER NEUMANN (4), GETTY
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