Berliner Zeitung - 26.10.2019

(Ron) #1

Feuilleton


26 * Berliner Zeitung·Nummer 249·26./27. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


SONNTAGSKRIMI


VonTorstenWahl

L


etzte AusfahrtLuzern: Kommis-
sar Flückinger (Stefan Gubser)
weiltmitseinerschickenFreundinan
Bord eines Ausflugsdampfers auf
dem VierwaldstätterSee. DieIndus-
triellen-Gala wirdgestoppt, als ein
Vermummter mit einerSignalpistole
in den Saal feuertund ausgerechnet
derKapitänstirbt.MitdemFallbeen-
det das Schweizer Fernsehen die
„Tatort“-Karrieredes Duos Flückin-
ger-Ritchard(StefanGubserundDe-
liaMayer),diezusammen16Fällein
acht Jahren absolvierten, aber nie
sonderlichpopulärwurden.Nachder
Ankündigung desEndes wirkte der
Krimi ausLuzern aber befreiter.So
drehte Dani Levy hier einen„Tatort“
ineinereinzigenEinstellung.
DerletzteFilm will nunReto Flü-
ckinger einen besonderenAbschied
bereiten–erweist ihm aber gerade
dadurch keinen gutenDienst. Denn
dersonsteherbesonneneKommissar
agiertdiesmal höchst unprofessio-
nell,reibtsichinderAuseinanderset-
zung mit einem dubiosenVideopor-
talaufundlässtsichsogarbeiseinen
Prügelattacken auf den provokanten
Reporter filmen.Dieser Gegner,der
immer vorg ibt, imInteresse der
schweigendenMehrheit zu agieren,
wirdalshöchstverschlagener,dauer-
grinsenderFieslingvorg eführt.
Ebenso plump gezeichnet wer-
denweitereVerdächtige:Wieausei-
ner Seifenoper entstiegen wirkt ein
arrogantes Vater-Sohn-Gespann,
das „Schmiergelder aus Schurken-
staaten“kassiert,wieihnenKollegin
LizRitschardvorhält. Besondersär-
gerlich: Indem Flückinger sich im-
mer heftiger aufregt über eine im-
merpenetrantereMedienwelt,wird
erseinenGegnernimmerähnlicher.
So fällt derAbschied vonLuzern
leicht.ImnächstenJahrsollenzwei
Kolleginnenübernehmen.


Tatort–Der Elefant im Raum2 ̈c äõ½ ̄~ 6ŒÏcARD


Abschied


mitaller


Gewalt


D


ie Abneigung war in der
sorgsam kalkulierten
Diktion der inzwischen
berühmt gewordenen
Dankesrede deutlich spürbar,als
Saša Stanišic Mitte Oktober den
DeutschenBuchpreis für seinWerk
„Herkunft“ entgegennahm –und
sich dabei ausdrücklich über die
Auszeichnung eines anderen
echauffierte.„Ichtu’sauch deswe-
gen“, sagteStanišic, „weil ich das
Glück hatte,dem zu entkommen,
was Peter Handke in seinenTexten
nichtbeschreibt.Dassichhierheute
vorIhnenstehendarf,habeicheiner
Wirklichkeit zuverdanken, die sich
dieser Mensch nicht angeeignet hat
unddieinseineTexteder90er-Jahre
hineinreicht.“ Saša Stanišic sagte
„dieserMensch“,alskämeesdarauf
anzu vermeiden,diesemdurcheine
wiederholteNennung desNamens
zunahezukommen.
DieDistanzierungsarbeit ist ge-
lungen, Saša Stanišic hat eine Lite-
raturdebatte entfacht, die wohl
nochdieeineoderandereaffektive
EinlassungundexegetischeAusein-
andersetzung nach sich ziehen
wird. MitdemVerweisauf Texteaus
den 90er-Jahren hatStanišic so et-
was wieWerkstudium angedeutet,
aber es ist kaum zu erwarten, dass
er sich eingehender mit dem
SchriftstellerHandkebefasst,dener
ausschließlichalsAutormit verhee-
renderpolitischerWirkungwahrge-
nommenhat.Einstweilenjedenfalls
belässt Saša Stanišic es bei enga-
giertem Twittern.
Aufschlussreiche Handreichun-
gen zur emotionalen Ausstattung
des Streits liefer tindes einText, der
bereitserschienenwar,alsdem Jury-
Vorsitzenden in Stockholm der
Name Handke als Literaturnobel-
preisträgerfür2019überdieLippen
kam. In seinem soebenveröffent-
lichten Buch „Mit Dolchen spre-

chen“ widmet sich der 87-jährige
Schriftsteller und Literaturwissen-
schaftler Karl Heinz Bohrer dem
Hass-Effekt in der europäischen Li-
teraturseitShakespeare.
Es geht Bohrer ausdrücklich
nicht um ein ideologiekritisches
VerständnisdesHasses,dasinzwi-
schen ganz allgemein mit derFor-
mel Hate Speech gekennzeichnet
wird. Vielmehrwidmetersichdem
Hass als literarischemAusdrucks-
wert,esg eht ihm um dieRolle des

HassesalseinesMediumsexzessiv
gesteigerterPoesie.Als Kronzeuge
für seinenBlick auf das starkeGe-
fühl in der Literatur führtBohrer
EmileZolaan,fürdenHassdiemi-
litante Verachtung derer ist, „die
die Mittelmäßigkeit und Dumm-
heit nicht ertragen.Hassen heißt
lieben,seineheißeundgroßmütige
Seele spüren, mitVerachtung ge-
genüber den schändlichen und
dummenDingenleben.“Zumpoe-
tischen Hass-Ausdruck, soBohrer,

bedürfe es desPathos’des Unge-
wöhnlichen sowie einer existenzi-
ellen Hass-Empfindung in der
Dichtungselbst.Aufunterschiedli-
che Weise findet Bohrer sie bei
Shakespeare, Baudelaire, Sartre,
Houellebecqundanderen.
In der zeitgenössischen
deutschsprachigen Literatur ver-
magBohrereinederartinE rschei-
nung tretende Hass-Empfindung
kaum ausfindig zu machen. Die
Schuldlast desHolocaust habe die

westdeutsche Literatur generell
dazugedrängt,„einepolitisch-mo-
ralische Tendenz zu suchen“. Also
fragt Bohrer ,ehe er sich exempla-
risch auf Texte vonThomas Bern-
hard, Peter Handke,Elfriede Jeli-
nek, Rolf-Dieter Brinkmann und
Rainald Goetz einlässt, provokativ
in einerKapitelüberschrift: „Has-
sennurÖsterreicheraufDeutsch?“
MitdenHass-TextenvonBrink-
mann undGoetz ist Karl Heinz
Bohrer schnell fertig.Brinkmann

Handke


undder


Hass


KarlHeinzBohreruntersuchtein


literarischesMotiv


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