Die Welt - 23.10.2019

(Rick Simeone) #1

T


hink big – act pragmatic“ könn-
te das Motto von Präsident
Putin lauten, wenn er am Mitt-
woch in Sotschi den ersten
russischen Afrikagipfel eröffnet.
Zusammen mit Ägyptens Prä-
sidenten Sisi, der gegenwärtig
den Vorsitz in der Afrikanischen Union (AU)
hat, wird Putin Regierungschefs aus mehr als
30 afrikanischen Staaten begrüßen. Das zwei-
tägige Großereignis wird mit einem Wirt-
schaftsforum einhergehen, zu dem mehr als
10.000 russische und afrikanische Vertreter
aus Wirtschaft und Politik geladen sind. Das
offizielle Programm lässt kaum ein Thema aus:
Privatinvestitionen, Digitalisierung, Innovati-
on und Wissenschaft, Rohstoffgewinnung,
Energiewirtschaft, Infrastruktur, Landwirt-
schaft, Transport, Rüstungskooperation und
andere Bereiche sollen auf Möglichkeiten der
Zusammenarbeit getestet werden. Zweifels-
ohne hoffen russische Unternehmen auf den
Abschluss möglichst vieler lukrativer Verträge
mit den afrikanischen Teilnehmerstaaten, allen
voran die großen russischen Staatsbetriebe wie
Gazprom, Rosneft, Rosatom und Alrosa.
Klar ist: Moskau will seinen politischen und
wirtschaftlichen Einfluss nicht nur im Nahen
Osten massiv ausbauen, sondern auch in Afri-
ka. Dabei ist Russland schon seit etlichen Jah-
ren wieder auf dem afrikanischen Kontinent
präsent, im Windschatten weltpolitischer
Ereignisse. Nach dem Zerfall der Sowjetunion
waren die traditionell engen Bindungen Mos-
kaus zu vielen ehemaligen Verbündeten einige
Jahre eingeschlafen, aber unter Präsident Pu-
tin ist das Interesse Moskaus an dem von mehr
als einer Milliarde Menschen bewohnten Kon-
tinent stetig gewachsen.
Afrika wird für Moskau immer attraktiver;
es ist ein Kontinent im Umbruch. Neben den
Ländern in der Sahelregion und in Ostafrika,
die seit Jahren mit Dürren, gewaltsamen Kon-
flikten, korrupten Machthabern, kriminellen
Banden, islamistischen Terrorgruppen und
anderen Problemen kämpfen, haben sich
Staaten wie Ghana, Namibia, Niger, Ruanda,
Tansania, Simbabwe, Burkina Faso und ande-
re hoffnungsvoll entwickelt. Dementspre-
chend positiv sind die mittel- und langfristi-
gen Wirtschaftsprognosen in etlichen afri-
kanischen Staaten. Bei allen strukturellen
Problemen und regionalen Unterschieden
schätzen Experten die Wachstumsaussichten
auf bis zu vier Prozent ein. Neben einer wach-
senden und besser ausgebildeten Mittel-
schicht locken vor allem große Rohstoffvor-
kommen und eine immer besser ausgebaute
Infrastruktur ausländische Investoren zuneh-
mend nach Afrika.
In den vergangenen Jahren ist China mit
Abstand zum größten Investor in Afrika auf-
gestiegen. 39 der 54 Staaten Afrikas haben sich
Pekings gigantischem Seidenstraßen-Projekt
angeschlossen. Aber auch die Golfstaaten,
Südkorea, Brasilien, Indien und die Türkei
versuchen seit geraumer Zeit, ihren wirtschaft-
lichen und diplomatischen Einfluss stetig zu
erweitern. Da ist es aus der Sicht Moskaus nur
logisch, sich einen zentralen Platz auf dem
geopolitischen Schachbrett Afrika zu erobern.
Bislang hat Russland dies vor allem in zwei
Schlüsselbereichen getan: im Bereich Rüs-
tungsexporte und Militärhilfe und in der Ener-
giewirtschaft und Rohstoffgewinnung. So ist
die russische Atomindustrie mittlerweile im
Sudan, in Ägypten, Kenia, Nigeria, Sambia und
Südafrika aktiv. In Ghana und Namibia haben
sich russische Firmen zentrale Anteile der
dortigen Bergbauindustrie sichern können. In
Angola, Libyen, Algerien und Ghana baut der
Erdgasriese Gazprom seine Präsenz aus, und
in Mozambique hat der russische Erdölpro-
duzent Rosneft erst vor Kurzem eine weitere
Niederlassung in Afrika eröffnet. Ägypten
steht wegen seiner strategischen Bedeutung
ganz oben auf der Prioritätenliste des Kremls.
Im Mai 2018 unterzeichneten Putin und Sisi
ein Abkommen über die Errichtung einer „Be-
sonderen Industriezone“ am Suezkanal. Zu-
dem entsteht im Norden des Landes, in Dabaa,
mithilfe russischer Technologie und eines 25
Milliarden Dollar Kredits das erste ägyptische
Atomkraftwerk. Auch wenn das Gesamthan-
delsvolumen Russlands im Vergleich zu China
deutlich geringer ist und Moskau nicht mit
Milliardenkrediten für infrastrukturelle Groß-

projekte locken kann, ist das Afrikageschäft in
den Augen des Kremls wichtig.
Rüstungsexporte und militärische Zusam-
menarbeit sind der zweite, wichtige Grund
dafür. Nach eigenen Angaben hat Moskau in
den vergangenen zwei Jahren militärische
Kooperationsabkommen mit 20 Staaten abge-
schlossen. Algerien, Ägypten und die Staaten
der Subsahararegion gehören zu den Haupt-
abnehmern russischer Waffen, aber auch Ka-
merun, die Demokratische Republik Kongo,
der Sudan und die Zentralafrikanische Repu-
blik stehen auf der Käuferliste. In Eritrea plant
Moskau gegenwärtig eine Nachschubbasis,
nachdem Verhandlungen mit der Regierung
des ostafrikanischen Somalilands über die
Errichtung einer russischen Marinebasis auf
Eis gelegt wurden.
Russland bietet jedoch nicht nur Waffen
aller Art, sondern auch „Berater“ an, die bei
der militärischen Ausbildung der jeweiligen
nationalen Streitkräfte, beim Kampf gegen
islamistische Terrorgruppen und Grenzsiche-
rung helfen sollen. Die Rolle dieser russischen
„Berater“ ist jedoch äußerst diffus. Private
Sicherheitsfirmen wie die berüchtigte russi-
sche Söldnergruppe Wagner, die bereits in den
kriegerischen Konflikten in der Ostukraine
und Syrien aufgetaucht ist, sind nach Angaben
des amerikanischen Generals Stephen
Townsend, Befehlshaber des in Stuttgart be-
heimateten U. S. Africa Command, bereits in 15
afrikanischen Staaten aktiv; aus seiner Besorg-
nis darüber macht er kein Hehl. Im Sudan
sollen sie den ehemaligen Machthaber Baschir
mit nicht gerade zimperlichen Methoden bei
Versuchen unterstützt haben, die Opposition
zu zerschlagen; in der Zentralafrikanischen
Republik sind Vertreter der Wagner Gruppe
eng mit Präsident Faustin Touadéra verknüpft.
Angesichts des gegenwärtigen wirtschaftli-
chen und militärpolitischen Engagements sei-
nes Landes kann Präsident Putin mit dem
Erfolg seiner Afrikastrategie bisher zufrieden
sein. Und Russland hat beste Aussichten, sei-
nen strategischen Fußabdruck in Afrika künftig
noch auszubauen – auch wenn es starke Kon-
kurrenz um Einfluss und Macht aus China gibt.
Dabei geht Moskau sehr pragmatisch vor: Die
Versprechen, sich nicht in die inneren An-
gelegenheiten afrikanischer Staaten einzumi-
schen, kommen bei vielen der afrikanischen
Machthaber gut an. Im Gegensatz zu west-
licher Unterstützung ist Moskaus Engagement
weder an moralische noch menschenrechtliche
Auflagen gebunden. Auch auf dem Gipfeltref-
fen in Sotschi dürfte Putin sich einmal mehr
als Alternative zu westlichen Partnern dar-
stellen, und für eine neue multipolare Welt-
ordnung plädieren, in denen die Staaten Afri-
kas ein größeres Gewicht haben sollen.
Europäische und deutsche Bemühungen,
afrikanische Staaten bei einer nachhaltigen
Wirtschaftsentwicklungzu unterstützen, Hun-
ger und Armut zu bekämpfen, Migrations-
ursachen einzudämmen und den Aufbau de-
mokratisch kontrollierter Streitkräfte mit
gezielten Ausbildungsmissionen zu unter-
stützen, stehen in einem diametralen Gegen-
satz zu dem interessenorientierten Auftreten
Russlands und Chinas auf dem Kontinent.
Über das strategische Ziel Präsident Putins
sollte man sich keine Illusionen machen: Über-
all dort, wo westliche Unterstützung nicht
effektiv greift, zu langsam oder an zu viele
Auflagen gebunden ist, werden sich russische
Regierungsvertreter und Firmen anbieten.
Dabei wird ihnen die fragile Sicherheitslage
in vielen Regionen Afrikas entgegenkommen.
In der Sahelzone, am Horn von Afrika und in
der Region um den Tschadsee haben islamisti-
sche Terrorgruppen ihren Radius deutlich
erweitern können. Und solange der militäri-
sche Konflikt in Libyen weiter schwelt, wird
auch die Lage in Nordafrika angespannt blei-
ben. Die Europäische Union und die Nato
sollten sich auf eine verstärkte militärische
und wirtschaftliche Präsenz Russlands auf dem
afrikanischen Kontinent gefasst machen und
darauf reagieren. Moskaus Afrikagipfel in Sot-
schi wird ein weiterer Schritt sein, unseren
Nachbarkontinent an Russland zu binden.

TDie Autorin arbeitet seit mehr als
2 0 Jahren im Internationalen Stab
der Nato, derzeit als Leiterin des
Strategischen Krisenvorausschauteams.

ESSAY


Putins


Griff


nach


Afrika


STEFANIE BABST


Moskau baut seinen


Einfluss auf dem


schwarzen Kontinent


deutlich aus. Dort


wird das Engagement


dankend angenommen.


Denn im Gegensatz


zu westlicher Hilfe


ist Russlands


Einsatz weder an


moralische noch


menschenrechtliche


Auflagen gebunden


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23.10.19 Mittwoch, 23. Oktober 2019DWBE-HP


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2 FORUM DIE WELT MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019


Die Europäische Union,


ein unentwirrbares Knäuel


JORGE


MARIRRODRIGA


N


ormalerweise wird der Lauf
der Geschichte als eine lange
und gerade Reihe fortlaufen-
der Ereignisse dargestellt: die be-
rühmte Zeitlinie. Ein visuell klares
Element, mit Daten und Namen, das
den Fortschritt der geschichtlichen
Ereignisse symbolisiert und eine
logische Kontinuität bis zum jetzigen
Augenblick vermittelt, eine Art Si-
cherheit für die Zukunft.
Ganz unbewusst verwenden wir
dabei ein Prinzip, das wir in unserem
Zeichenunterricht an der Schule ge-
lernt haben: Es genügen schon zwei
Punkte – in diesem Fall Vergangenheit
und Gegenwart –, um eine gerade
Linie bis in die Unendlichkeit ziehen
zu können, also in die Zukunft. Tat-
sächlich jedoch ähnelt der Lauf der
Geschichte eher einem Wollknäuel, in
dem sich der Faden ein ums andere
Mal um sich selbst dreht und Punkte
verbindet, die weit entfernt liegen
würden, hätte man ihn auseinander-
gezogen; er verdreht sich, bildet Kno-
ten und am Ende eine kompakte Ein-
heit. Die Geschichte des Projekts der
europäischen Einheit, die mit den
Verträgen von Rom im Jahre 1957
begann, ist hierfür ein gutes Beispiel.
In den Jahrzehnten nach dieser
Entscheidung von zunächst sechs,
dann neun Ländern, zehn, zwölf,
fünfzehn und so weiter, nie wieder in
den Krieg zu ziehen und an einer
schrittweisen Integration ihrer Wirt-
schaft und Gesellschaft zu arbeiten,
entwickelte sich eine Denkdynamik,
in der es nicht darum ging, ob die
Staaten selbst die Integration über-
dauern würden, sondern darum,
wann die große paneuropäische Fusi-
on stattfinden könne, in der die Zeit-
linie gipfeln würde.
Doch 62 Jahre später müssen wir
feststellen, dass aus dieser Linie ein
Knäuel geworden ist, bei dem das
geplante Ziel noch nicht einmal er-
wähnt wird, und dass die tatsächliche
Schwierigkeit beim Weiterspinnen
des Fadens nicht etwa darin besteht,
dass sich die Staaten in einer überge-
ordneten Einheit auflösen, sondern
dass sie dies in ihrer eigenen na-
tionalistischen Dynamik tun und
dabei das ganze, nach wie vor pro-
visorische Gerüst mit sich ziehen,
dessen mühsamer Aufbau so viele
Jahre gedauert hat. Jede nationalisti-
sche Bewegung verfügt über ein
reichhaltiges Angebot an Daten, aus
dem es sich den Zeitpunkt seiner
Gründung aussuchen kann, vom Mit-
telalter über die Renaissance bis zum


  1. Jahrhundert, während es die eu-
    ropäische Einheit da sehr viel schwe-
    rer hat – eben weil sie nicht existiert.
    Sie ist das Ende des Fadens, das nir-
    gendwo auftaucht. Eigenartig er-
    scheint dabei immer noch, dass der
    Osten und der Westen Europas in
    demselben Durcheinander stecken,
    obwohl sie eigentlich ganz andere
    Wege gegangen sind.
    Im Osten wurde der Fall der kom-
    munistischen Regime und das Wie-
    dererlangen der völligen Souveränität
    nach all der Zeit, in der man während
    des Warschauer Paktes Moskau un-
    terstellt war, von einem Drang und
    der Hoffnung begleitet, in den Klub
    der europäischen Länder eintreten zu
    können. Eigentlich jedoch sollte man
    korrekterweise von zwei Klubs spre-
    chen: der Nato und der EU. Und der
    erstere stellte die eigentliche Priori-
    tät dar, da er für die volle Souveräni-
    tät eine militärische Garantie bedeu-
    tete. Und da fast alle diese Länder
    auch noch die Demokratie zurück-
    gewannen, war ihre Integration in ein
    Projekt, das diese Demokratie unter-
    stützte und zusätzlich auch noch eine
    enorme Perspektive an sozialem und
    materiellem Fortschritt bot, einfach
    offensichtlich.


Doch während eine Zugehörigkeit
zur Nato – da muss man den Ame-
rikanern recht geben – für fast alle
Mitglieder mehr Vorteile als Pflichten
mit sich bringt, bedeutet die Mit-
gliedschaft in der Europäischen Uni-
on ein erhebliches und ständiges
Bemühen um Anerkennung, institu-
tionelle Kontrolle und in letzter In-
stanz auch ein teilweises und all-
mähliches Aufgeben der Souveränität.
Nach dem Abflauen der ersten
Begeisterung, wie die junge Generati-
on es nennen würde, und einer mehr
oder weniger etablierten Demokratie,
begann ein erheblicher Teil der Wäh-
lerschaft – und zwar durchaus auch
im Westen –, die EU mit unverhohle-
ner Feindseligkeit zu betrachten. Sie
stellte eine Institution dar, die man
als idealen Feind von außen darstel-
len konnte: einer, der Befehle erteilte,
erniedrigte und die Freiheit be-
schnitt, die man gerade erst nach so
langer Zeit zurückgewonnen hatte.
Genau das ist die Grundlage der
europafeindlichen Diskurse, wie sie
beispielsweise in Polen und Ungarn
geführt werden. Wenn Brüssel daran
erinnert, dass man zunächst seine
Pflichten erfüllen muss, um von sei-
nen Rechten profitieren zu können,
multipliziert sich der Effekt des Vik-
timismus. Und so haben wir im Osten
ein überraschendes Wiederauftau-
chen von Bewegungen erlebt, von
denen wir annahmen, dass sie längst
Geschichte seien. Dass sie sich viel
weiter hinten an unserem Faden be-
fänden.
Es handelt sich dabei um Nationa-
lismen verschiedenen Ursprungs und
historischer Legitimität, die am Ende
jedoch die Existenz der Staaten, so
wie wir sie kennen, gefährden. Es gibt
im Verborgenen schwelende Fälle wie
den in Flandern, andere, die wieder-
um durch ihr eigenes Gewicht wieder
niedergedrückt wurden, etwa das
Fantasiereich Padania in Norditalien,
das Umberto Bossi sich ausgedacht
hatte, und wieder andere, die sich auf
verschiedenen Wegen zu einer tat-
sächlichen Herausforderung für ihre
Länder entwickeln wie in den Fällen
von Schottland und Katalonien.
Im ersten Fall haben sich die schot-
tischen Unabhängigkeitsbefürworter
für den legalen Weg des Landes ent-
schieden, dem sie angehören: Sie
verfolgen die Strategie, immer wieder
aufs Neue ein Referendum abzuhal-
ten, indem sie argumentieren, seit
der letzten Befragung hätten sich die
Voraussetzungen verändert. 2014
verloren sie, jetzt fordern sie ein
weiteres Referendum für 2020. Nicht
zu Unrecht, da es jetzt auch um den
Brexit geht. Doch es ist offensicht-
lich, dass die Bedingungen beispiels-
weise auch 2025, 2040 oder 2053
wieder ganz anders aussehen werden.
Im Fall von Katalonien entschlossen
sich die Separatisten zu einer Art
Abkürzung – deren Konsequenzen
wir in diesen Tagen erleben.
Ist es angesichts dieses Panoramas
überhaupt noch möglich, den Faden
der Geschichte wieder aufzugreifen
und auf die ursprünglich vor sechs
Jahrzehnten in Rom gezogene Linie
zurückzukehren? Die Dynamik
scheint dem zu widersprechen, doch
die Geschichte ist voller Wendungen
und Verwicklungen, in denen ein
individuelles Genie – manchmal auch
seine Bösartigkeit – die Hauptrolle
spielen kann. Im Idealfall verändert
sich die Dynamik und jemand beginnt
wieder, am Faden zu ziehen, damit
niemand auf den Gedanken kommt,
Alexander zu spielen und den Gor-
dischen Knoten einfach zu durch-
schlagen.

TDer Autor ist Kolumnist der
spanischen Tageszeitung „El País“.

LETTER FROM EUROPE


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von Bettina Schneider

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