Berliner Zeitung - 23.10.2019

(Brent) #1

GretasAsperger


InDiskussionenumdieKlimaaktivistinGretaThunbergstehtoftihrAutismusimMittelpunkt.DochwasbedeutetihreStörungwirklich?


VonVanessa Köneke

G

retaThunbergistseit Mo-
naten imGespräch –erst
jüngstwiederintensiv,als
es um dieFrage ging, ob
die Klimaaktivistin denFriedensno-
belpreis bekommen sollte.Immer
wiedergehtesdabeiauchumihrebe-
sondereStörung, das Asperger-Syn-
drom. BeiTwitter beschreibt sie sich
selbstals„16-jährigeKlima-undUm-
weltaktivistinmitAsperger“.
GegnervonGretaThunbergbezie-
hensichoftgenaudarauf.Sieseiein
Roboter,heißtesdazumBeispiel.Sie
werdevon Erwachsenen für politi-
sche Zwecke missbraucht, projiziere
ihreProbleme auf den Klimawandel
undgehöreind iePsychiatrie .Verstö-
rend auf viele wirkte etwa ihreWut-
rede,die sie imSeptember auf dem
UN-KlimagipfelinNewYorkhielt.


KeineGrauschattierungen

DochwasistdranandenVorwürfen?
Worumgehteseigentlich,wennman
überdasAsperger-Syndrom,eineVa-
riante desAutismus,spricht? Daszu
beantworten, ist nicht ganz einfach.
DenninmanchenAspektensindsich
sogarWissenschaftler noch nicht ei-
nig.Autismusbedeutetlautdendia-
gnostischen Kriterien zum einen,
dassBetroffeneinsozialenundkom-
munikativen Fähigkeiten einge-
schränktsind.Ihnenfälltesbeispiels-
weise schwer,Gesichtsausdrücke zu
deuten oder Ironie zu verstehen.


GretaThunbergnennt beiFacebook
ihremangelndenFähigkeitenim„So-
cializing“ als entscheidendenGrund
dafür,anfangsalleinprotestierenge-
gangen zu sein. „Wenn ich ,normal‘
und gesellig gewesen wäre, hätte ich
micheinerOrganisationangeschlos-
sen oder selbst eine gestartet“,
schreibtsie.
Daszweite entscheidendeMerk-
malfür Autismusist,dassBetroffene
zuMonotonieneigen.Siehabenetwa
denWunsch nach Ritualen, den im-
mer gleichenSpeisen oder Themen.
Meist leiden sie auch unter starken
Sinneseindrücken: Licht undGeräu-
sche erscheinen ihnen extrem hell
beziehungsweiselaut.
Autisten wirdzugleich nachge-
sagt, sich nicht in anderehineinfüh-
len zu können. „Dass autistische
MenschenkeineEmpathiehaben,ist
nicht derFall“, widerspricht derAu-
tismusforscherSimon Baron-Cohen
vonder University of Cambridge.
Viele hätten zwar Schwierigkeiten,
sich gedanklich inMitmenschen hi-
neinzuversetzen. Aber Empathie
habe neben diesem kognitiven auch
einen affektivenTeil –eine emotio-
naleReaktionaufandereMenschen.
Dasssich GretaThunbergabsolut
aufeinThemakonzentriere,seiauch
typisch für Asperger,erklärte der
LeipzigerKinder-undJugendpsychi-
ater AndriesKorebrits imMagazin
Focus.Bereits sehr früh befasste sie
sichmitKlimawandelundErderwär-
mung, schränkte sich selbst ein, be-

kam mit elfJahren ausSorgeumd ie
existenzelleBedrohungeineDepres-
sion.„Sie kann sehr heftig auf etwas
reagieren, das sie interessiert, das
passt sehr gut zum Asperger-Syn-
drom“,sagteKorebrits .Allessei„sehr
schwarz-weiß“, eine Grauschattie-
runggebeesfürjemandenmitAsper-
gernicht.„DiepolitischeWeltlebtna-
türlich vonGrauschattierungen und
das wir dGreta Thunbergauf keinen
Fall akzeptieren“, soKorebrits .Ihn
verwundereder UN-Auftritt nicht,
obwohlerwesentlichemotionalerge-
wesenseialsmanbisdahingewohnt
war.Fürden PsychiateristanGretas
Auftretennichtseinstudiertoderma-
nipuliert.EristzugleichderMeinung,
dassGretaThunbergdas,wassiema-
che,ganzgutbewältige.Siefühlesich

offenbar „damit wohl, dass sie ihre
Botschaft austragen kann und dass
ihreElternsiedabeiunterstützen.“
SpeziellAsperger-Autistenwerden
häufig auch als hochintelligent por-
trätiert, mitunter als wahreGenies.
Manche Unternehmen beschäftigen
speziell Autisten, weil sie als beson-
dersdetailorientiertgelten.Daskann
etwa beiFehleranalysen im IT-Be-
reich hilfreich sein. „AutistischeTa-
lentekönneninallenBereichenauf-
tauchen, in denenMuster analysiert
werden“, sagt Baron-Cohen. Also
zumBeispielauchinderMusik.
Doch Menschen mit Autismus
sindlängstnichtimmerhochbegabt–
auch nicht alle Asperger-Autisten.
AußergewöhnlichesKönnenistmeist
eineSavant-Fähigkeit,dasheißteine

Inselfähigkeit, die sich nur auf einen
Bereich auswirkt. Undnur wenige
AutistensindSavants.DieIntelligenz
kann sehr unterschiedlich ausge-
prägt sein. Ärzte und Psychologen
unterschieden lange verschiedene
Autismus-Varianten anhand desIn-
telligenzgrades.Menschen mit As-
pergerodersogenanntemhochfunk-
tionierendemAutismus haben eine
höhereIntelligenz alsMenschen mit
„klassischem“Autismus,dem Kan-
ner-Autismus–auch frühkindlicher
Autismus genannt. DerPsychiater
Leo Kanner hatte das Autismus-
Krankheitsbild 1943 erstmals be-
schrieben.EinJahr späterveröffent-
lichte Hans Asperger seineHabilita-
tion, die der anderenAutismusvari-
anteeinenNamengab.Dochhöhere
Intelligenz bedeutet nicht gleich
hochbegabt.
Inzwischen ist sogar umstritten,
ob es das Asperger-Syndrom über-
haupt gibt.Im aktuellenDiagnostik-
katalog,nachdemPsychiaterErkran-
kungen einteilen, taucht das Syn-
drom nicht mehr auf.In dem soge-
nanntenDSMV(derfünftenAusgabe
desDiagnosticandStatisticalManual
ofMentalDisorders)wurden2013die
bisher getrennten Krankheitsbilder
zur Autismus-Spektrum-Störung zu-
sammengefasst.Seitdem giltAutis-
mus als einKontinuum, alsZustand
zwischengesundundkrank.
DochdieDiskussionendauernan.
Wissenschaftler untersuchenweiter,
ob Unterschiede zwischenAutisten

nur Nuancen sind oder auf separate
Krankheiten hinweisen.DerAutis-
mus-ExperteSimonBaron-Cohenrät
zum Beispiel, einen Oberbegriff mit
Subtypenzuhaben–wiebei Diabetes
Typ-1 undTyp-2. So ließe sich unter
anderem besserverstehen,welche
Angebotewemhelfen.
AuchBetroffenesindsichnichtei-
nig. Manche sehenAutismus alsBe-
hinderung.Anderesprechensichun-
ter dem StichwortNeurodiversität
dafüraus,dasssienureineandereArt
derWahrnehmunghätten.Wo Autis-
mus anfängt, ist in derTatunklar.
Nach den neuenDiagnose-Kriterien
würden viele Asperger-Autisten gar
nicht mehr alsAutisten gelten–laut
einer Meta-Analyse träfe das auf je-
denViertenzu.

AndersseinalsSuperkraft
FürvieleAutistenistdieDiagnoseTeil
ihrer Identität. Auch Greta schrieb:
„Ich habe Asperger,und das bedeu-
tet, dass ich manchmal ein bisschen
andersalsdieNormbin.Und–unter
denrichtigenUmständen–kannAn-
derssein eineSuperkraft sein.“ Ob
AutismusFluchoderSegenist,dürfte
noch länger umstritten bleiben.Der
Begriff Asperger-Autismus ist aber
aus einem anderenGrund in Un-
gnadegefallen:HansAsperger(1906-
1980) soll amEuthanasie-Programm
derNazisbeteiligtgewesensein.Wis-
senschaftlerraten schon länger,Er-
krankungen nicht nachPersonen zu
benennen.(dpa, BLZ)

Mitten in der Menge, klein und unscheinbar–und dennoch präsent. Sokennt man Greta Thunberg. AP/PAUL CHIASSON


AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNG

Autismus:Der Begriff wurde
um 1911vomSchweizer
Psychiater Eugen Bleulerge-
prägt. In der Folgebeschrieb
man verschiedene Formen,
etwa frühkindlicher und atypi-
scherAutismus oderAsperger-
Syndrom. Heutefasst man sie
zusammen unterAutismus-
Spektrum-Störung (ASS).

Asperger-Syndrom:Es ist
eineVariante innerhalb der
ASS.Der österreichische Kin-
derarzt HansAsperger sprach
1944 von„autistischerPsy-
chopathie“. Diagnosekrite-
rien gibt es seitden 1980er-
Jahren. 1992 wurdedas Syn-
drom in dieWHO-Klassifika-
tion aufgenommen.

Erscheinungsbild:Das As-
perger-Syndrom tritt in der
Regel erst nach dem dritten
Lebensjahr auf. Zu den
Kennzeichengehören: Be-
einträchtigung der sozialen
Interaktion, sensorische,
motorische und sprachliche
Eigenarten sowie ausge-
prägte Sonderinteressen.

YogagegenPanik


E


twa15 Proz entder Menschenin
Deutschland leiden unter einer
Angsterkrankung, die sie im Alltag
enormeinschränkt.Dasreicht bis
hin zu Panikattacken.DieCharité
hat nun ein neuesTherapiekonzept
auf Basis eines speziellenYogapro-
gramms entwickelt.Dafür werden
Patienten gesucht, die an einerStu-
dieteilnehmensollen.
DieCharité suchtTeilnehmer im
Altervon18b is65 Jahren,dieprimär
unter einerPanikstörung und/oder
Agoraphobieleiden.Siesollenaktu-
ell in keiner oder in einer stabilen
psychopharmakologischenBehand-


lung sein, weder schwerwiegend
körperliche beeinträchtigt noch
schwanger sein und in den letzten
drei MonatennichtregelmäßigYoga
praktizierthaben. Wiedie Charité
mitteilt, besteht dasYogaprogramm
„aus dynamischen Bewe gungen,
Körperpositionen sowieAtemregu-
lations- und Entspannungsübun-
gen“. Es dauertacht Wochen mit
zweimal wöchentlicherYogastunde
beiExpertenundtäglicherPraxiszu
Hause.Die Forscher untersuchen,
wiesichdieÜbungenaufdieAngst-
symptome und die biologische
Stressreaktionauswirken.(har.)

Interessentenkönnen sich unter 030/450 517 187 [email protected] bei der Charité
melden. Details finden sich im Internet unter http://www.angstambulanz-charite.de/Content/


FlechtwerkderDinge


U


nter demTitel „Flechtwerkder
Dinge: DasSammlungsschau-
fenster der HU“ hat in dieserWoche
eineneueDauerausstellungimTier-
anatomischen Theater der Hum-
boldt-Universität(HU)begonnen.Sie
präsentiert80O bjekteaus24Samm-
lungen der HU und ihrenPartnerin-
stituten. DieExponate stammten
etwaausderAnatomie,derSudanar-
chäologie,dem Lautarchiv und dem
Kunstschatz,teiltdieHUmit.
Zu sehen seien etwa „der legen-
däreComputerCommodore64, der
Millionen vonArbeits- undKinder-
zimmernbestückthat,der,Steindes

AbuDjihad‘ vonMax vonOppen-
heim, der die Verstrickungen von
Wissenschaft undNationalismus im
frühen 20.Jahrhundertbeleuchtet,
unddie Resonatoren,mitdenenHer-
mannvonHelmholtzdieGrundlagen
der schallphysikalischenResonanz-
theorielegte“,heißtesinderHU-Mit-
teilung. Eine Besonderheit derAus-
stellungsei,dasssieohneObjekttexte
auskomme.Jedes Exponat lasse sich
individuell perAppbeleuchten und
mitanderenObjekteninVerbindung
bringen. Alle sechs bis 24Monate
würden die Objekte und Themen-
schwerpunkteausgetauscht.(har.)

Die Dauerausstellungist seit 22. Oktober imTieranatomischen Theater der HU zu sehen, Campus
Nord, Philippstraße 13, Haus 3, 10115 Berlin. Informationen: http://www.tieranatomisches-theater.de

Mosse-Lectures


D


ie „Aktualität vonKlassenfra-
gen“ is tdas Thema derMosse-
Lectures des Wintersemesters
2019/2020anderHumboldt-Univer-
sität. Siebeginnen am Donnerstag,


  1. Oktober,19U hr,mit einemVor-
    trag vonAndreas Reckwitz undJo-
    seph Vogl über „Die Spätmoderne
    und ihr eDrei-Klassen-Gesellschaft“.
    Ort: Senatssaal der HU,Unter den
    Linden6,10117Berlin.Eintrittfrei.
    BisJanuar2020befassensichdrei
    weitereVorträge mit derFrage,„ob
    wirvoneiner,RückkehrderKlassen-
    gesellschaft‘ausgehenkönnen“,wie
    esinderHU-Ankündigungheißt.


DieMosse-Lectures sind eine in-
terdisziplinär und international an-
gelegteVortragsreihe ,gegründet
vondemHistoriker GeorgeL. Mosse
und dem Literaturwissenschaftler
KlausScherpe.IhrWahlspruchlautet
„ÖffentlichkeitvonKultur undWis-
senschaft“.DieReihe soll an dieGe-
schichte und dasErbe der deutsch-
jüdischen Familie Mosse erinnern,
vorallem an dasvonRudolf Mosse
gegründeteVerlagshaus,das mit sei-
nem Flagschiff, dem liberalenBerli-
nerTageblatt,großenEinflussaufdie
demokratische Öffentlichkeit der
Weimarer Republikhatte.(BLZ)

Die Mosse-Lecturesfinden im Senatssaal der Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, 10117
Berlin, statt. Die einzelnenTermine und Themen finden sich unter http://www.mosse-lectures.de

BERLINER EXPERIMENTE


Wissenschaft


Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 (^19) ·························································································································································································································································································

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