Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019–Seite 9*
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Berlin
Ankunft:DieersterundumerneuerteS-BahntrittihrenDienstanSeite
Abschied:BadFreienwaldedrohtderVerlustdesStatusalsHeilbadSeite
NACHRICHTEN
Landwirte protestieren
gegen Agrarpolitik
LandwirteausganzBrandenburg
protestiertenmiteinerSternfahrt
nachBerlingegendieAgrarpolitikder
Bundesregierung.AmGroßenStern
inTiergartenwaramDienstagmittag
derersteTraktorkonvoiderProtest-
Sternfahrtangekommen.Dierund
1000 LandwirteausganzBranden-
burgwarenseitdenfrühenMorgen-
stun denunterwegs.AufeinemBan-
neraneinemderTraktoren
stand„FarmersforFuture“.Etwa
TraktorenundandereLandwirt-
schaftsmaschinennehmenander
bundesweitenDemonstrationteil.
NachAngabenderBerlinerPolizei
sorgten600Polizeibeamte,davon 300
Bereitschaftspolizisten,fürdieVer-
kehr ssiche rheit.(dpa)
Senat will schärfere Regeln
für Silvesterfeuerwerk
DerBerlinerSenatmöchteeine
schärfer egesetzlicheRegelungfürdie
VerwendungvonFeuerwerk errei-
chen.AmDienstaghaterbeschlos-
sen,einenAntragzurÄnderungder
entsprechendenVerordnungdes
SprengstoffgesetzesbeimBundesrat
einzubringen.DasZieldabeisollsein,
dieGefahrendurchdasAbbrennen
vonPyrotechnikzuverringern,die
FeinstaubbelastungderLuftzusen-
kenund Abfällezu reduzieren.(dpa)
Der erste Student derFreien
Universität ist gestorben
DieFreieUniversitätBerlintrauert
umihrenerstenStudentenStanis-
lawKarolKubicki.DerMediziner
mitder Matrikelnummer1starbam
WochenendeimAltervon93J ah-
ren.Kubickigehörtezudenkriti-
schenStudierendenderheutigen
Humboldt-Universität,dienach
ideologischemDruckim Berliner
Ostsektor1948eine„freieUniversi-
tät“im WestteilderStadtforderten.
KubickierhieltseineMatrikelnum-
mer1vorfast71Jahrenam5.No-
vember1948.
NachStudium
undPromotion
leiteteervon
1974bis1991als
Professoreine
FU-Abteilung
fürNeurophysi-
ologie.Kubicki
seilebenslang
FU-Botschafter
geblieben,sagte
FU-Präsident
GünterZiegler.
„WirsindstolzaufunsereMatrikel-
nummer1.DieUniversitäthatKarol
Kubickivielzuverdanken,wirwer-
denihnnichtverg essen.“(dpa)
Betrunkener
schießt in U-Bahnhof
AufdemU-BahnhofGrenzallee
sindamMontagabendmehrere
Schüssegefallen.Zeugenberich-
teten,dasseinalkoholisierter
MannmiteinerPistolehantiert
hatteundindieLuftschoss.
SchließlichfeuerteerineinenWa-
genderLinieU7.Polizistenüber-
wältigtendenSchützenundstell-
tendiePistolesicher.Dabeihan-
deltessichumeineSchreck-
schusswaffe.Der28-jährigeMann
kamin Gewahrsam.EineBlutalko-
holkontrolleergabeinenWertvon
2,8Promille.(ls.)
StanislawKarol
KubickiwarMit-
gründer derFreien
Universität.
DPA
DieChefingeht
MonikaHerrmannplanteinneuesRathausamOstbahnhof–fürihrenNachfolgeroderihreNachfolgerin
VonJens Blankennagel
D
asgrößteProjekt,dasdas
Bezirksamt Friedrichs-
hain-Kreuzbergfür die
eigeneVerwaltungplant,
wirddie Chefin nicht mehr im Amt
erleben.So viel ist sicher.Selbst
wenn alles ideal läuft mit derIdee,
dasssichderBezirkeineigenesRat-
hausesbaut–MonikaHermannvon
denGrünen,diedenBezirkseit
regiert,wirdnichtmehrimAmtsein,
wenn das Haus am Ostbahnhof tat-
sächlich etwa 2025 bezogen werden
sollte.Denn Herrmann will 2021
nicht mehr kandidieren. „Ich hatte
eineguteZeit“,sagtsie,„eineaufre-
gende Zeit und eine harteZeit. Ich
habe dieAufgabe wirklich gernge-
macht. Aber nach 15Jahren in Füh-
rungspositionensollteSchlusssein“,
sagtdie55-Jährige.
Eigentlich will sie amDienstag-
mittag nicht so gerndarüber reden,
dennesgibtwichtigeres:DieSenato-
render rot-rot-grünen Regierung
sindandieFrankfurterAlleegekom-
men,ummitdemBezirksamtzube-
raten, danach steht eineTour durch
denBezirkan.Nachder Sitzungsagt
der Regierende BürgermeisterMi-
chaelMüller(SPD),worübergeredet
wurde .Esg ingumdiegroßesoziale
Frage dieserZeit: um Wohnen und
Stadtentwicklung, darum, wo und
wie in einem dichtgebautenInnen-
stadtbezirknoch gebaut werden
kann und wie gleichzeitig die Le-
bensqualitäterhaltenbleibenkann–
alsoParksundFreiräume.
Es ging auch um dieweithin be-
kanntenKriminalitätsschwerpunkte
des Bezirkes: die RigaerStraße und
die Konflikte mitHausbesetzernso-
wiedie DrogenumschlagplätzeGör-
litzer Park und Kottbuser Tor. „Und
es ging um Themen wie saubere
Stadt, Tourismuskonzept oder Ob-
dachlosigkeit“,sagtMüller.
Alle Senatsmitglieder sind in An-
zug erschienen oder dienstfein ge-
kleidet, nur Herrmann nicht. Sie
steht da in hellemHemd und grün-
gemusterterStrickjacke und betont,
dassihr BezirkderVorreiterseinwill,
wennesdarumgeht,Flächenintelli-
gentzunutzen.„Wirhabensowenig
Platz, dass wir es uns überhaupt
nicht mehr leisten können,Grund-
stücke nur noch solitär zu nutzen,
also durch eineEinzelnutzung.“ Es
sollModellegeben,beidenenneben
einer Bibliothek auch einKultur-,
Bildungs-undFreizeitzentrumist.
EinBeispielist dasgeplanteneue
Rathaus zwischenOstbahnhof und
dem ehemaligenKaufhaus.Ind er
Nähe wirdein Gymnasium gebaut,
aber es ist keinPlatz für dieSport-
halle.Sie soll Teil des Rathausbaus
werden.Daswäreeineberlinweitein-
maligeKombination.Undgenaudas,
betont auchHerrmann immer wie-
der,seidas SpezielleihresBezirkes.
Monika Herrmann, eine gebür-
tige Neuköllnerin undTochter von
CDU-Politikern,istsoetwaswiedas,
was Heinz Buschkowsky früher für
Polizeipräsenz im GörlitzerPark:Seit Jahren wird darüber gestritten, wie das Problem mit den vielen Dealer am besten in den Griff zu bekommen ist. DPA/PAUL ZINKEN
Monika Herrmann will 2021 nicht mehr als Bezirksbürgermeisterin kandidieren. DPA
Jens Blankennagel
traut sich auch nachts
durch den GörlitzerPark
dieSPDwar:ErwarzuseinerZeitder
bekanntesteBerlinerBezirksbürger-
meister,nun ist esHerrmann, die
immer wiederwegen ihrer liberalen
HaltungzumUmgangmitCannabis
angegriffen wird–und sogar mit
Morddrohungenlebenmuss.
Monika Herrmann war seit 2006
Stadträtin und bekleidet seit 2013
das oberste Amt im Bezirk. Das
schafftenvorihr nur zweiGrüne.
Nunwill sie aufhören, und ihreBe-
weggründe klingen geradezu mus-
tergültig: 15JahreChefin sein, sind
genug, sie willPlatz für den politi-
schen Nachwuchs machen undvor
der Rente noch mal etwas anderes
angehen.Wasess einwird,wissesie
noch nicht. „Ich habe ja noch zwei
JahreZeit, mir etwas zu überlegen.
Abereinesistganzsicher:KeineLei-
tungsfunktion mehr.“Siewolle wie-
der rein fachlich arbeiten.Diestu-
dierte Politologin ist nicht nur die
mächtigsteFrau im Bezirk, sondern
blieb auch eineFachfrau –auch als
Bürgermeisterin gab sie dieAbtei-
lungFamilieundGesundheitnieab.
Sielobtdie JugendarbeitihresBe-
zirkes als bundesweit mustergültig.
„Aber überJugendarbeit sprich nie-
mand“, sagt sie.„Werind ie Schlag-
zeilen will, der packt denNamen
Monika Herrmann mitDrogen und
GöritzerParkineinenSatz“,wirftsie
ihrenkonservativenKritikernvor.
Diewiederumwerfenihr vor, viel
zu lasch gegen dieDealer etwa am
Görli vorzugehen.DerParkistei ner
derwichtigenDrogenortederStadt,
den Bezirk und Polizei nicht in den
Griffbekommen.
Herrmann machte Schlagzeilen,
als sie sagte,dass sie dortnachts
nicht spazieren gehe.Das klang für
vielewieKapitulation.Dochsiesieht
es so: Unter CDU-Innensenator
FrankHenkelgabesimmermalwie-
der Razzien dort. „Aber das waren
nurShow-Einsätz e,dienichtsänder-
ten.IchhabeniediePolizistenkriti-
siert,sonderndiePolizeiführungfür
Planung.“Nunwill sie mitInnense-
natorAndreasGeisel(SPD)eineber-
linweit einmaligeKooperation von
BezirkundSenateingehen.„Dageht
es nicht um ein paarDrogende aler,
die Cannabis verkaufen“, sagt sie.
„Dageht es um Organisierte Krimi-
nalität,umharteDrogen,umWaffen
undMenschenhandel.Damussman
Druckmachen,musssiestören,ner-
venund die Orte unattraktiv ma-
chen. Aber nicht nur einmal, son-
dernganzlange.“
DochnebenderRepressionsolle
esebenauchPräventionundAufklä-
rung für die Süchtigen geben. „Es
gehtnichtnurumPolizeiarbeit,son-
dernauchumS ozialarbeit“,sagtsie.
UnddieIdeevomkontrollierten Ver-
kaufvonCannabishatsieauchnoch
nichtaufgegeben.
Ostbahnhof
Hermann-
Stöhr-Platz Str.der Pariser Kommune
Andreasstr.
Stralauer
Platz
Am Ostbahnhof
An der Ostbahn
LangeStr.
Rüdersdorfer
Am Wriezener Str.
Bahnho
f
50 m
BLZ/HECHER
Spree
FRIEDRICHSHAIN
ehemaliges
Kaufhaus Standort
Gymnasium
Standortfür
geplantes Rathaus
DieFalte
derStadt
N
ähezuanderenMenschenauf-
zubauenisteingrundlegendes
Instrumentim Sozialverhalten. In
derStadtnehmenesvieleBewohne-
rinnen undBewohner damit sehr
ernst, ohne sich dessen bewusst zu
sein. DerAbstand zwischen einem
jugendlichen Pärchen und einer an
der Haltestelle stehendenFrau wird
jedenfalls immer kleiner und der
Winkel,indemsieaufsiezusteuern,
verheißtnichtsGutes.
DasPärchen ist nicht abgelenkt,
wederineinGesprächvertieft,noch
in eine Turtelei, beide schreiten mit
einem lethargisch angehauchten
Gesichtsausdruck nebeneinander
zum Ende der Haltestelle.Schließ-
lich streift das Mädchen die war-
tende Frau einigermaßen rüde mit
demAr m–undsetztihrenGangmit
beeindruckender Gleichgültigkeit
fort. Keine Geste,kein entschuldi-
genderBlick,kein Wort.
Dieangerempelte Frau, selbst
noch jung, aber aus demGröbsten
raus,wirft demPaar einen finsteren
Blick hinterher.Dabei bildet sich
zwischen ihrenAugenbrauen eine
tiefe Furche.Wer mal darauf achtet,
wirdfeststellen:BeivielenMenschen
haben sich an dieserStelle bereits
veritable Falten ausgebildet. Es gibt
darüber keine verlässlichenErhe-
bungen,esistaberwohlnichtzuge-
wagt,dieseAuffälligkeitaufdenNa-
menStadtfaltezutaufen.
Werfen SieimS piegel ruhig mal
einen Blick auf dieRegion oberhalb
der Nase und denkenSiewährend-
dessen zurück an dieBegegnungen
des Tages.Mitmenschen mitver-
kümmerter Selbstreflexion
und/oder indifferenter Wahrneh-
mungihrerUmweltpflastertenIhren
Weg: Leute ,die sie ohne erkennba-
renPlatzmangel im Vorbeigehen
touchierenoderdirekt nebenIhnen
stehenbleiben,SchulteranSchulter;
italienische Touristen, die einen
Schritt aus derBahn machen, um
sich erst malin allerRuhe zu orien-
tieren, statt einenweiteren Schritt
zur Seite zu treten; dieFrau, die Ih-
nenanderSupermarktkassedreimal
hintereinander mit demKinderwa-
gen in dieHacken gefahren ist und
dabeitelefonierthat;Menschenmit
Rucksäcken, die sie imGedränge
nichtabnehmen;undgenerellLeute,
die sich an den engsten Stellen
durchquetschen undverrenken wie
beim Limbotanz, statt einfach
freundlichzufragen,obsiemalvor-
beidürften.
Na,zittertdie Stirnschon? Es ist
nichtauszuschließen,dassdieStadt-
falte dieErfindungvonBotox-to-go
begünstigthat.
Stadtbild
Torsten Landsberg
denktüberBotoxnach
Wenn Berlin einen Gesichtsausdruck
hätte, dann wohl diesen. IMAGO IMAGES
Undwassagen
Sie dazu?
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