Handelsblatt - 23.10.2019

(Jacob Rumans) #1

Roman Tyborski Düsseldorf


V


olkswagen will ein jahr-
zehntealtes Verspre-
chen einlösen. Autobau-
er, Hersteller von Navi-
gationsgeräten und IT-
Konzerne hatten es gegeben, als An-
fang der 1990er-Jahre die ersten GPS-
Geräte auf den Markt kamen. Als
später neuartige Algorithmen auf-
tauchten und Rechner gebaut wur-
den, die mit ihnen umgehen konn-
ten, wurde es dennoch nie eingelöst:
die Vision moderner Navigation, die
staufreie Mobilität ermöglicht.
Bis heute gleicht der Stadtverkehr
zu Stoßzeiten einem einzigen Chaos.
Der Autobauer VW will nun eine Lö-
sung gegen den Verkehrskollaps ge-
funden haben. Mithilfe von Quanten-
computern wollen die Wolfsburger
das Versprechen einlösen.
Im Rahmen der Digitalkonferenz
Web Summit in Lissabon wird Volks-
wagen am 4. November erstmals das
sogenannte Quantum Routing in Be-
trieb nehmen. Neun Busse unter
dem Namen „Quantum Travel“ wer-
den die Gäste vom Flughafen zum
Veranstaltungsort der Konferenz in
der Innenstadt fahren. Die Fahrer
greifen dabei auf quantenoptimierte
Routeninformationen zurück.
VW verspricht eine nahezu stau-
freie Mobilität, egal zu welcher Uhr-
zeit. Für Menschen wird damit die
Quantentechnologie erstmals erleb-
bar. „Menschen, die von der Messe
zurück zu ihren Hotels oder in die
Stadt fahren und dafür unsere Quan-
tum-Shuttles nutzen, erreichen ihr
Ziel schneller“, sagt Martin Hofmann,
IT-Chef bei Volkswagen, dem Han-
delsblatt. „Wir können die Reisezeit
deutlich reduzieren.“
VW forscht bereits seit drei Jahren
an einem quantenbasierten Modell
zur Verkehrsoptimierung. Der Auto-
bauer zählt zu einer Reihe von Unter-
nehmen, die sich von den Geräten ei-
ne bislang nie da gewesene Rechen-
leistung versprechen. Die Erfolge der
Forscher waren bislang lediglich wis-
senschaftlicher Art, kommerzielle
Anwendungen gibt es noch keine.
Laut eigenen Aussagen bewegt sich
VW allerdings mit seinem Verkehrs-
optimierungsmodell auf eine serien-
nahe Anwendung der Quantentech-
nologie zu. Das Unternehmen greift
dabei auf Quantencomputer von
D-Wave zurück. Das kanadische Start-
up stellt dem Autokonzern Rechen-
zeit zur Verfügung, VW entwickelt
die Algorithmen, mit denen der Com-
puter in Kanada arbeitet.
„Der Verkehr in Metropolen ist auf-
grund der Vielzahl der Verkehrsteil-
nehmer hochkomplex“, erklärt Hof-
mann. Die Rechenleistung, die man
benötigen würde, um den Verkehrs-
fluss zu optimieren, sei exorbitant.
„Deswegen haben wir versucht, die-
ses Problem mit den Quantencompu-
tern von D-Wave zu lösen“, sagt der
VW-Manager.

Stau frühzeitig umfahren


Hinter dieser Aufgabe verbirgt sich
das „Travelling-Salesman-Problem“.
Dabei muss ein Handelsreisender von
einem Startpunkt aus mehrere Orte
anfahren. Die Reihenfolge ist egal. Es
gelten jedoch zwei Bedingungen: Der
Startpunkt der Reise ist gleichfalls
dessen Endpunkt, und die gesamte
Reise muss so schnell wie möglich ab-
solviert werden. Für die Lösung die-
ses harmlos wirkenden Verteilungs-
problems benötigen Superrechner je
nach Ortsanzahl bis zu tausend Jahre.
Ein Quantencomputer könnte dies
theoretisch innerhalb von Sekunden-
bruchteilen bewältigen.

Bei den Rechnern von D-Wave han-
delt es sich allerdings nicht um uni-
verselle Quantencomputer, an denen
Google oder IBM forschen. Das kana-
dische Start-up baut sogenannte
Quanten-Annealer. Mit ihnen lassen
sich nur sehr spezifische Verteilungs-
probleme lösen. Die Forscher der Da-
ta-Labs von VW in München und San
Francisco glauben, dass die Verkehrs-
optimierung dazu zählt.
Frank Wilhelm-Mauch, Professor
für Quanten- und Festkörpertheorie
an der Universität des Saarlandes
und einer der führenden Experten in
Deutschland, ist etwas vorsichtiger.
„In einigen speziellen Anwendungs-
feldern, beispielsweise bei Vertei-
lungsproblemen, könnten Quanten-
computer besser funktionieren als
Superrechner“, sagt Wilhelm-Mauch.
Allerdings beruhe die Vermutung auf
heuristischen Aussagen, also im
Grunde auf Mutmaßungen. „Einen
mathematischen Beweis für die Über-
legenheit von Quantencomputern im
Lösen von bestimmten Verteilungs-

problemen gibt es noch nicht“, sagt
der Wissenschaftler.
Für VW dürfte das in Lissabon
zweitrangig sein. Mit dem ersten
Live-Test will der Autokonzern bewei-
sen, wie ausgereift das Quantum
Routing bereits ist. Im Vorfeld des
Web Summits hatte VW das System
bereits in Wolfsburg und Lissabon ge-
testet, wie Florian Neukart verrät,
der als Chefwissenschaftler in San
Francisco für den Autobauer die An-
wendungsmöglichkeiten der Quan-
tentechnologie erforscht.
„Die größte Schwierigkeit ist es, das
Verteilungsproblem schnell zu lösen“,
sagt Neukart dem Handelsblatt. Die
Rechengeschwindigkeit der Quanten-
Annealer von D-Wave in genau die-
sem Anwendungsfeld verkürze laut
Neukart die Zeit einer Prognosebe-
rechnung massiv. „Auf diese Weise
können die Fahrer in kurzen Zeitab-
ständen immer wieder mit neuen op-
timierten Routen versorgt werden“,
sagt Neukart. Quantenforscher Wil-
helm-Mauch sieht in den Bemühun-

gen einen guten Anfang. „Unterneh-
men wie VW verfolgen einen richti-
gen Ansatz, weil sie sich Usecases
aussuchen, die sehr gut mithilfe von
Quantencomputern gelöst werden
können“, sagt er.
Für das Verkehrsoptimierungsmo-
dell hat Neukarts Team für jede Stadt
eine Art Basisalgorithmus entwickelt.
Anschließend wird dieser individuell
angepasst, da sich das Straßennetz
von Stadt zu Stadt unterscheidet. Die
Fahrer der neun Busse in Lissabon,
die von der örtlichen Behörde bereit-
gestellt werden, müssen keine spe-
zielle Schulung absolvieren. Über ei-
ne von VW programmierte Navigati-
ons-App, die auf Material von Here –
dem Kartendienst von Audi, BMW
und Daimler – zurückgreift, bekom-
men die Busfahrer Navigationsanwei-
sungen. Diese werden vorher von ei-
nem D-Wave-Computer in Kanada
berechnet und über eine Cloud be-
reitgestellt. Der Quantenrechner
greift dabei auf anonymisierte Mobil-
funk- und Autotransmitterdaten zu-

Mobilität


VW will die Navigation


neu erfinden


Mit Quantencomputern sollen Staus künftig umfahren werden, bevor sie


überhaupt entstehen. Die neue Art der Navigation könnte vor allem


den Markt der Fahrdienste umkrempeln.


Berliner Stadt -
autobahn: Immer
schnellere Rechner
können den Ver-
kehr besser lenken.

Florian Gaertner/imago/photothek

Für Auto her -


steller werden


solche An -


wendun gen


immer


wichtiger,


da sie zu


IT-Mobilitäts -


dienstleistern


werden müssen.


Frank Wilhelm-Mauch
Professor Universität
des Saarlandes

Digitale Revolution
MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019, NR. 204

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