Handelsblatt - 23.10.2019

(Jacob Rumans) #1
B. Gillmann, T. Sigmund, F. Specht
Berlin

B


ildungsministerin Anja
Karliczek hatte ein heh-
res Ziel vor Augen, als
sie im Juni ihren Ent-
wurf zur Modernisie-
rung des Berufsbildungsgesetzes im
Bundestag präsentierte: „Wir sichern
die Attraktivität der beruflichen Bil-
dung für die Zukunft“, sagte die CDU-
Politikerin. Unter anderem sieht das
Gesetz, das am Donnerstag abschlie-
ßend im Parlament beraten werden
soll, erstmals eine Mindestvergütung
für Auszubildende vor.
Und der „Azubi-Mindestlohn“ wird
teuer für die deutsche Wirtschaft.
Das zeigt ein unveröffentlichtes Gut-
achten des Nationalen Normenkon-
trollrats, das dem Handelsblatt vor-
liegt. Demnach kommen auf die Un-
ternehmen in den kommenden vier
Jahren Mehrkosten zu, die von rund
20 Millionen Euro im Jahr 2020 auf
rund 81 Millionen Euro im Jahr 2023
anwachsen. Insgesamt belaufen sich
die Mehrkosten auf deutlich mehr als
200 Millionen Euro.
Die Hauptlast trägt der Mittelstand,
große Unternehmen mit mehr als
500 Mitarbeitern müssen lediglich ei-
nen einstelligen Millionenbetrag zu-
sätzlich zahlen (siehe Grafik). „Durch
die Einführung einer Mindestausbil-
dungsvergütung werden insbesonde-
re kleine Betriebe mit bis zu neun Be-
schäftigen belastet“, schreiben die
Bürokratieabbau-Experten.
„Angesichts des Fachkräfteman-
gels in vielen Bereichen müssen wir
alles daransetzen, die berufliche Aus-
bildung zu stärken“, sagt dazu Hans
Michelbach, CSU-Wirtschaftspolitiker
und Vizechef der Landesgruppe. Die
zusätzliche Belastung könnte aber
viele Betriebe veranlassen, die Aus-
bildung zurückzufahren oder ganz
einzustellen. „Das aber wäre fatal für
die weitere wirtschaftliche Entwick-
lung unseres Landes.“

Überlastung droht


Laut Gesetz gilt für Auszubildende,
die 2020 in die Lehre starten, eine
monatliche Mindestvergütung von
515 Euro. In den Folgejahren steigt
sie für das erste Ausbildungsjahr auf
550 Euro, später auf 585 Euro und
2023 dann auf 620 Euro. Im zweiten
Lehrjahr ist ein Aufschlag von 18 Pro-
zent vorgesehen, im dritten von 35
Prozent und im vierten von 40 Pro-
zent. In den Ballungsräumen und
leistungsstarken Regionen mit Betrie-
ben mit hoher Wertschöpfung seien
solche Vergütungen sicher zu verkraf-
ten, sagt der Generalsekretär des
Zentralverbands des Deutschen
Handwerks (ZDH), Holger Schwann-
ecke. „Aber in ländlichen, struktur-
schwachen Regionen besteht die Be-
fürchtung, dass sich gerade Klein-
und Kleinstbetriebe aus der Ausbil-
dung zurückziehen, einfach weil sie
es sich nicht mehr leisten können.“
Die Kosten für eine dreijährige Aus-
bildung lägen schon jetzt im Schnitt
bei rund 16 500 Euro.
Auch deshalb ist über die Einfüh-
rung und Höhe des „Azubi-Mindest-
lohns“ lange gestritten worden. Eine
Mindestvergütung von 515 Euro sei
aber nichts, „was einen Betrieb in
Deutschland in wirtschaftliche Schief-
lage bringt“, glaubt Thüringens Wirt-
schaftsminister Wolfgang Tiefensee
(SPD). In seinem Bundesland wird

am kommenden Sonntag gewählt.
Arbeitgeber und Gewerkschaften trü-
gen die jetzt vereinbarten Sätze ja
mit. „Wenn Unternehmen allerorten
über den Fachkräftemangel klagen,
dann können sie sich dem Azubi-Min-
destlohn doch nicht wirklich verwei-
gern“, betont Tiefensee. Zumal bis
2024 Tarifverträge, in denen eine ab-
weichende Vergütung vereinbart ist,
weiter gelten. So bekommen etwa
Friseurlehrlinge in Thüringen und
Sachsen-Anhalt im ersten Ausbil-
dungsjahr nur 325 Euro im Monat.
Nicht nur aus der Wirtschaft gibt es
Kritik an Karliczeks Gesetz. Den Ge-
werkschaften geht die Novelle nicht
weit genug: „Für uns ist klar: Nach
der Reform ist vor der Reform“, sagt
das geschäftsführende IG-Metall-Vor-
standsmitglied Hans-Jürgen Urban.
Die Bundesregierung müsse sich des
dualen Studiums annehmen, das bei
der Berufsausbildung eine immer
größere Rolle spiele. Deshalb müsse
es auch im Rahmen des Berufsbil-
dungsgesetzes geregelt werden.

Kritik der IG Metall
Mehr als 100 000 Studierende kom-
binieren mittlerweile die theoreti-
sche Ausbildung an einer Hochschule
oder Berufsakademie mit Praxispha-
sen in Unternehmen – besonders in
technischen und wirtschaftswissen-
schaftlichen Fächern. Die IG Metall
vermisst jedoch – ähnlich wie der
DGB und die SPD – klare Qualitätskri-
terien für die Studienphase im Be-
trieb. Während in der Lehre Gesetze
und Tarifverträge greifen, handeln
Firmen und Studierende im dualen
Studium die Praxisphase weitgehend
frei aus, also etwa den Lohn und die
Arbeitsbedingungen.
Die SPD hatte in den Verhandlun-
gen über die Reform des Berufsbil-
dungsgesetzes versucht, das duale
Studium einzubeziehen, scheiterte
jedoch am Widerstand der Union.
Nun ist lediglich ein gemeinsamer
Entschließungsantrag geplant: Da-
nach soll das Bundesinstitut für Be-
rufsbildung (BIBB) bis Frühjahr 2022
einen Bericht zur wirtschaftlichen,
sozialen und vertragsrechtlichen La-
ge der dual Studierenden vorlegen,
erklärt die SPD-Berichterstatterin für
das Thema, Yasmin Fahimi.
Die IG Metall hatte in einer Fallstu-
die für Baden-Württemberg die un-
terschiedlichen Angebote unter die
Lupe genommen und stieß auf eine
nahezu unüberschaubare Vielzahl
von Varianten und ein erhebliches
Gefälle bei den Qualitätsstandards.
Demnach nehmen die Studien- und
Prüfungsordnungen der Hochschu-
len nur wenig Einfluss auf die Praxis-
phasen. Die meisten Hochschulen sä-
hen sich auch nicht in der Verant-
wortung, aktiv an der Gestaltung der
Ausbildungs- und Praxisphasen mit-
zuarbeiten, heißt es in der Studie.
Um den Flickenteppich bei den
Praxisphasen zu beenden, „brauchen
wir endlich transparente und einheit-
liche Spielregeln, damit dual Studie-
rende in der Praxis nicht gegenüber
Auszubildenden benachteiligt wer-
den“, sagt Urban. Das Bildungsminis-
terium argumentiert jedoch, das dua-
le Studium sei wie das gesamte Hoch-
schulwesen Sache der Länder und
könne daher gar nicht im Berufsbil-
dungsgesetz geregelt werden. Es be-
ruft sich dabei auf ein Gutachten des
Verwaltungsrechtlers Friedhelm Hu-
fen, das dem Handelsblatt vorliegt.

„Azubi-Mindestlohn“


Zusatzkosten für


den Mittelstand


Die Mindestvergütung belastet die Firmen bis 2023 mit


über 200 Millionen Euro, zeigt der Normenkontrollrat.


Zimmermanns-Lehrling:
Höhere Löhne bedeuten
auch höhere Kosten.

Jochen Eckel/SZ Photo/laif

Kleine Unternehmen sind besonders betroffen
Kosten, die eine Mindestausbildungsvergütung (MAV) verursachen würde, in Mio. Euro

15,
Mio. €

22,


31,3 30 ,


HANDELSBLATT

Betriebe mit ...
bis zu 9 Mitarbeitern

2020


Monatliche MAV in Höhe von:


’21 ’22 ’


4,
Mio. €

16,


31,231,


20 20 ’21 ’22 ’


0


7, 6


13,413,


2020 ’21 ’22 ’


0 0


5,6 5,


2020 ’21 ’22 ’


... 10 bis 4 9
Mitarbeitern

... 50 bis 499
Mitarbeitern

... mehr als
500 Mitarbeitern

Quelle: Normenkontrollrat

515 € im Jahr 2020 550 € 2021 585 € 2022 620 € 2023


Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019, NR. 204

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