Thüringisches Dilemma
HANDELSBLATT Stand: 24.10.2019 • Quelle: Insa
Umfrageergebnisse für die Landtagswahl in Thüringen
Mögliche Koalitionen
Linke/CDU
52 % Mehrheit
Linke/SPD/Grüne CDU/AfD
28 %
24 % 24 %
9 %
8 %
5 %
2 %
45 % Mehrheit
unsicher
48 % Mehrheit
unsicher
CDU/SPD/
Grüne/FDP
46 % Mehrheit
unsicher
CDU/SPD/Grüne
41 % Keine
Mehrheit
Linke CDU AfD SPD Grüne FDP Sonstige
Christian Rothenberg Düsseldorf
I
n deutschen Bundesländern
ist zurzeit viel Kreativität ge-
fragt. In Sachsen und Bran-
denburg verhandeln SPD,
CDU und Grüne über soge-
nannte Kenia-Koalitionen. Die Drei-
Parteien-Regierung ist kein Wunsch-
bündnis, aber das Wahlergebnis lässt
nichts anderes zu. In Thüringen könn-
te es noch komplizierter werden,
wenn am Sonntag 1,7 Millionen Men-
schen einen neuen Landtag wählen.
Ein Blick auf die Ausgangslage:
Die Linke
Bleibt der einzige Linken-Ministerprä-
sident im Amt? Das ist die spannends-
te Frage des Wahlabends. Die Linke
steckt in einer schweren Krise. In
Sachsen und Brandenburg verlor die
Partei fast zweistellig Prozentpunkte,
in Thüringen sieht es wesentlich bes-
ser aus. Dort profitiert die Linke von
den Sympathiewerten von Regie-
rungschef Bodo Ramelow. Im Wahl-
kampf setzt die Partei deshalb ganz
auf dessen Amtsinhaberbonus.
Vor der Wahl Ramelows gab es hef-
tige Proteste. Im Alltag erwies sich der
63-Jährige jedoch als weitgehend soli-
der Regierungschef. Zuletzt regierten
Ramelow und seine rot-rot-grüne Ko-
alition (R2G) nur hauchdünn mit einer
Stimme Mehrheit. Viel mehr wird es
wohl auch künftig nicht sein. Seit dem
Sommer konnte die Linke in Umfra-
gen etwa fünf Prozentpunkte zulegen
und kratzt an der 30-Prozent-Marke.
Es könnte jedoch passieren, dass Ra-
melow sein Ergebnis im Vergleich zu
2014 zwar verbessern kann, aber
trotzdem keine Mehrheit mehr hat. In
den aktuellsten Umfragen von Infra-
test Dimap und der Forschungsgrup-
pe Wahlen liegen Linke, SPD und Grü-
ne gemeinsam unter 45 Prozent.
Theoretisch denkbar wäre eine
Minderheitsregierung, wobei CDU-
Spitzenkandidat Mike Mohring eine
Tolerierung der Linken ausgeschlos-
sen hat. Das Thema sorgt schon vor
der Wahl für Streit. Ramelow kündigte
an, dass er sich für eine Minderheits-
regierung keiner Abstimmung im Par-
lament stellen müsse und ohne Neu-
wahl „einfach im Amt“ bleiben werde.
In der Verfassung des Freistaats steht:
„Der Ministerpräsident und auf sein
Ersuchen die Minister sind verpflich-
tet, die Geschäfte bis zum Amtsantritt
ihrer Nachfolger fortzuführen.“
CDU
Bis Juni lag die CDU bei den Meinungs-
forschern vor den Linken und machte
sich Hoffnungen, nach fünf Jahren Op-
position Ramelow ablösen zu können.
Doch dann zogen die Linken wieder
vorbei. In den aktuellen Umfragen
liegt die CDU mal knapp, mal deutlich
dahinter. Den Schuldigen hat Spitzen-
kandidat Mike Mohring schon ausge-
macht. „Wir kämpfen auch gegen ein
fehlendes Zutrauen in die Große Ko-
alition an“, sagte er zuletzt. Bundes-
politische Sprengkraft hat die Thürin-
gen-Wahl im Gegensatz zu der in Sach-
sen jedoch nicht.
Würde die CDU überraschend
stärkste Partei, stünde Mohring vor
schweren Sondierungen. Ein Dreier-
bündnis mit SPD und Grünen ist kurz
vor der Wahl sehr unwahrscheinlich.
Die drei Parteien kommen zusammen
nur auf 40 Prozent. Verfehlt die FDP
den Einzug in den Landtag, hätte die
CDU nur zusammen mit AfD oder Lin-
ken eine Mehrheit.
Im Gespräch mit dem Handelsblatt
schloss Mohring beide Konstellationen
aus. „Wir werben für eine starke Mitte.
Die Frage in Thüringen ist: Wird das
Land von den Rändern bestimmt,
oder gibt es eine stabile Regierung aus
der Mitte für die Mitte der Gesell-
schaft.“ Den Umfragen zufolge könnte
es knapp für ein Bündnis aus CDU,
SPD, Grünen und Liberalen passen –
vorausgesetzt, die FDP kommt in den
Landtag. Im Gegensatz zu Ramelow
hat Mohring damit zumindest theore-
tisch die Option auf ein Vier-Parteien-
Bündnis.
SPD
Vor fünf Jahren schnitt die SPD mit
12,4 Prozent schon schwach ab. Dies-
mal dürfte es noch schlimmer
kommen. Die Sozialdemokraten und
ihr Spitzenkandidat, der thüringische
Wirtschaftsminister Wolfgang Tie -
fensee, schwankten zuletzt zwischen
sieben und neun Prozent. Eine
Fortsetzung von Rot-Rot-Grün könn-
te daher vor allem an der SPD schei-
tern.
Bundespolitisch dürfte das keine
Konsequenzen haben. Die Suche nach
einer neuen Führung für die Bundes-
SPD läuft ohnehin. Kaum erträglicher
wird es dadurch, dass die SPD als
Mehrheitsbeschaffer vermutlich auch
in Zukunft benötigt wird. Die Regie-
rungsbildung ist so kompliziert, dass
Ramelow wie auch Mohring auf die
SPD als Partner angewiesen wären.
Grüne
Vom Höhenflug der Grünen im Bund
kommt in Thüringen wenig an. Im
Sommer übertraf die Partei in Umfra-
gen kurz die zehn Prozent, inzwi-
schen sind es nur noch sieben bis
acht. Im Vergleich zu 2014 wäre dies
sogar eine leichte Verbesserung. An-
ders als bei den jüngsten Landtags-
wahlen dürfte es am Sonntag aber kei-
ne rauschende Wahlparty geben.
Die Grünen würden Rot-Rot-Grün
gerne fortsetzen, aber viel dazu beitra-
gen können sie nicht. Wie die SPD wä-
re die Partei jedoch in beide Richtun-
gen – sowohl mit Linken als auch mit
der CDU – koalitionsfähig.
AfD
Wie in den anderen ostdeutschen
Bundesländern kann die AfD auch in
Thüringen auf ein starkes Ergebnis
hoffen. Umfragen sehen die Partei
zwischen 20 und 25 Prozent. Der um-
strittene Spitzenkandidat, Landes-
und Fraktionschef Björn Höcke, ge-
nießt laut einer Umfrage von Infratest
Dimap dabei deutlich weniger Zu-
spruch als Ramelow (62) und Mohring
(32). Nur 15 Prozent aller Befragten
sind mit Höckes Arbeit zufrieden.
Der frühere Lehrer aus West-
deutschland, der mit dem Slogan
„Vollende die Wende“ wirbt, polari-
siert zwischen Anhängern und Geg-
nern. „Ich habe Angst vor Ihnen“, sag-
te eine Zuschauerin in der MDR-Wahl -
arena am Montagabend zu Höcke.
Viele Wähler machen die AfD für die
aufgeheizte Atmosphäre im Wahl-
kampf und die rechtsextremen Mord-
drohungen gegen CDU-Spitzenkandi-
dat Mohring und Grünen-Fraktions-
chef Dirk Adams verantwortlich.
Der Verband der Wirtschaft Thürin-
gens warnte in dieser Woche vor der
AfD. Wer sie wähle, „muss wissen,
dass damit das Image Thüringens be-
schädigt wird“, sagte Hauptgeschäfts-
führer Stephan Fauth.
FDP
Die Liberalen tun sich in den neuen
Ländern traditionell schwer. In Thü-
ringen kämpfen sie um den Einzug in
den Landtag. Für alle Parteien hängt
davon einiges ab. Das Abschneiden
der FDP hat erheblichen Einfluss auf
die Regierungsbildung. Scheitert sie
an der Fünf-Prozent-Hürde, reichen
womöglich schon 45 bis 46 Prozent
zur Bildung einer Landesregierung.
Ramelow hätte unter diesen Umstän-
den bessere Aussichten, im Amt zu
bleiben.
Gelingt der FDP der Einzug ins Par-
lament, wird es kompliziert. Ob Ra-
melow oder Mohring – der Minister-
präsident bräuchte wohl mindestens
48 Prozent für eine Mehrheit. Nach
den aktuellen Umfragen hätte jedoch
keines der denkbaren Bündnisse eine
Mehrheit. Selbst ein Viererbündnis
aus CDU, SPD, Grünen und FDP hat
keine sichere Mehrheit. Thüringen
könnte nach dem Wahlabend vor der
Unregierbarkeit stehen.
Für die FDP ist diese Ausgangslage
im Schlussspurt hilfreich, um Anhän-
ger zu mobilisieren und nach 25 Jah-
ren Abstinenz wieder Abgeordnete im
Erfurter Landtag zu stellen.
Landtagswahl
Thüringen droht
ein Patt
Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow
bangt um sein Amt. Schlimmstenfalls reicht es
in seinem Bundesland nicht einmal für eine
Vier-Parteien-Koalition.
Bodo Ramelow: Der Linken-Politiker regiert in Erfurt seit 2014 mit knapper Mehrheit.
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WOCHENENDE 25./26./27. OKTOBER 2019, NR. 206
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