Handelsblatt - 25.10.2019

(Ron) #1
„Meinungsfreiheit sichert nur, wer sie
konsequent anwendet, das heißt: andere,
womöglich sogar abwegige Meinungen auszuhalten,
mit ihnen fair umzugehen und in einen
sachorientierten, produktiven Streit zu treten.“
Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident

Worte des Tages


SPD


Urwahl ohne


Schwung


M


it Urwahlen in Parteien ist
das so eine Sache. Grund-
sätzlich finden es die Mit-
glieder klasse, wenn die Basis be-
fragt wird. Wenn es aber so weit ist,
geben 25 Prozent und mehr ihre
Stimme nicht ab. Die Junge Union
hat sich kürzlich für die Urwahl des
Kanzlerkandidaten in der Union
ausgesprochen. Die Parteivorderen
verwiesen umgehend auf das
schleppende Auswahlverfahren für
den nächsten SPD-Vorsitzenden.
Zu Recht. Im Willy-Brandt-Haus
befürchten nicht wenige, dass die
Wahlbeteiligung nur knapp über
der 40-Prozent-Hürde liegen wird.
Das heißt, eine schweigende Mehr-
heit ist der Meinung: „Die wollen
wir alle nicht, egal, welches Duo ge-
winnt.“ Zwar haben sich die Erfin-
der der Regionalkonferenzen an ih-
rer Idee selbst berauscht. In Wirk-
lichkeit kamen aber nur rund
20 000 von den knapp 430 000 Mit-
gliedern zu den Veranstaltungen.
Auch in den Wählerbefragungen
hat die Selbstbespiegelung der SPD
nichts gebracht. Die Partei verharrt
weiterhin im Umfragekeller bei ma-
geren 14 Prozent. Bei der Wahl in
Thüringen am Sonntag fällt das Er-
gebnis wie in Sachsen zuvor wahr-
scheinlich einstellig aus. Offensicht-
lich sind die Themen, die auf den
Konferenzen besprochen wurden,
nicht die, die Menschen in Deutsch-
land umtreiben. Der kompetente
Innenminister Boris Pistorius aus
Niedersachsen, der Parteichef wer-
den will, beklagt nicht ohne Grund,
dass Themen wie Migration und in-
nere Sicherheit keinen Platz auf den
Konferenzen hatten.
Auch wenn Olaf Scholz, der Kan-
didat des Partei-Establishments,
sich selbstbewusst überzeugt zeigt,
dass er im ersten Wahlgang ge-
winnt. Ausgemacht ist das noch
nicht. Die meisten SPD-Beobachter
rechnen mit einer Stichwahl. Dann
ist wieder alles offen. Die SPD re-
giert nebenbei in der GroKo und be-
schäftigt sich dann wieder wochen-
lang mit sich selbst.
Über alldem droht das Ende der
Koalition. Darüber soll dann nicht
die Basis, sondern sollen die Funk-
tionäre auf dem Parteitag abstim-
men. Neuer Schwung liegt da nir-
gends drin.


Die Bilanz der Mitgliederbefragung
fällt mager aus. Der Schub
für die Partei ist ausgeblieben,
meint Thomas Sigmund.

Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


N


ie verlief die Prüfung eines Impeach-
mentverfahrens in der amerikanischen
Geschichte so rasant wie im Fall von
Präsident Donald Trump. Nur vier
Wochen ist es her, dass die Demokra-
ten im US-Repräsentantenhaus ihre Untersuchung
zur Ukraineaffäre begannen. Seitdem haben sie
mehr als ein Dutzend Zeugen befragt, noch vor
Weihnachten könnten sie das Verfahren formal ein-
leiten. Dann liegt Trumps politisches Schicksal in
den Händen der Republikaner im US-Senat. Bislang
gibt es allerdings keine Anzeichen dafür, dass sich
die Senatoren seiner Partei kollektiv gegen Trump
wenden. Dabei werden beinahe täglich belastende
Details bekannt. Und mit jeder neuen Enthüllung
wird es schwerer, einen Präsidenten in Schutz zu
nehmen, dessen Verteidigungslinie zunehmend po-
rös wird.
So hatte Trump zunächst abgestritten, dass er die
ukrainische Regierung dazu bringen wollte, Ermitt-
lungen gegen den Sohn seines demokratischen Riva-
len Joe Biden anzustrengen. Schnell wurde diese Be-
hauptung durch ein Telefonprotokoll widerlegt. In
dieser Woche wurde nun der zweite, womöglich
strafbare Verdacht der Korruption befeuert: Der
Topdiplomat William Taylor bekräftigte im Kongress,
Trump habe 400 Millionen US-Dollar Militärhilfen
an die Ukraine zurückgehalten, um die Biden-Ermitt-
lungen zu erzwingen. Die Aussage setzt Trump und
seine Partei enorm unter Druck, entblößt sie doch
die potenziell ungeheure Dimension der Trump-Af-
färe: Bestätigen sich die Vorwürfe, untergrub Trump
die amerikanischen Bemühungen, Russlands gewalt-
same Expansion in Europa zu verhindern.
Diese Ebene der Geopolitik hebt den Fall Trump
von früheren Impeachmentversuchen ab. Denn bei
den Präsidenten Richard Nixon und Bill Clinton
stand die Integrität der amerikanischen Demokratie
und des Justizsystems im Mittelpunkt. Der Fall
Trump hingegen ist viel stärker mit seiner internatio-
nalen Rolle als Oberbefehlshaber verknüpft.
Allein die Vorstellung einer Schatten-Außenpoli-
tik, gelenkt von Eigeninteressen und Trumps Anwalt
Rudy Giuliani, müsste eigentlich eine Revolte ansto-
ßen. Doch bislang ist der Groll nicht groß genug, um
Trump ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen fal-
len zu lassen und die Demokraten zu stärken. Kriti-
ker wie Mitt Romney preschen vor, doch mächtige
Republikaner wie Mitch McConnell und Lindsey Gra-
ham ziehen es vor, Trumps Tagespolitik zu verurtei-
len, aber in der Impeachmentfrage zu ihm zu halten.
Es ist, als ob sich die Republikaner an Trump geket-
tet haben und sich selbst dann noch an diese Kette

klammern, wenn sie längst von Rost zerfressen ist.
Doch wann kommt der Wendepunkt – und kommt er
überhaupt?
Für den Moment spricht mehr dafür, dass sich die
Partei weiter hinter Trump versammelt. Zumindest
so lange, solange keine Beweise zum Vorschein kom-
men, die Trumps kriminelle Schuld eindeutig zei-
gen. Schon in den vergangenen Jahren hätte es viele
Gelegenheiten zum Protest gegeben, doch die Repu-
blikaner trugen Trump ins Weiße Haus und durch
sein Amt. Dabei tolerierten sie fast alles: die Aufkün-
digung des Freihandels, sein Bekenntnis zum Natio-
nalismus, Kriegsdrohungen auf Twitter.
Ein Bruch mit Trump wäre das Eingeständnis,
dass die Republikaner als Partei versagt haben, in-
dem sie das System Trump aufbauten und nährten.
Doch indem sie ihn durch die größte Krise seiner
Präsidentschaft geleiten, gehen sie ein existenzielles
Risiko ein. Denn das System Trump beginnt gerade,
von allein zu wanken. Eingespielte Mechanismen
versagen, dazu gehört Trumps bewährte Praxis,
Druck auf Gegner auszuüben. Als er noch ein Ge-
schäftsmann war, erledigte das sein damaliger
Anwalt Michael Cohen über Schweigegelder und
Drohanrufe. Auch in der Ukraineaffäre gab es mit
Giuliani einen Anwalt, der für Trump in Kiew ver-
mitteln sollte. Beamte im Weißen Haus und im Ge-
heimdienst reagierten entsetzt und schlugen Alarm –
was den Grundstein für ein mögliches Impeachment
legte.
Auch Trumps Alleingänge wurden ihm im Zuge
der Ukraineaffäre zum Verhängnis. Oft halfen sie
ihm dabei, Dinge schnell umzusetzen und seine
Anhänger bei Laune zu halten, ob in der Steuerpoli-
tik, im Handelskrieg oder mit dem Rückzug aus
multilateralen Abkommen. Jetzt provozierte seine
überstürzte Entscheidung für einen Truppenabzug
aus Nordsyrien einen Aufschrei in seiner Partei,
obwohl er den Rückhalt der Republikaner mehr
denn je braucht. Jeder falsche Schritt kratzt an der
Glaubwürdigkeit. Selbst Pannen und Patzer, wie sie
immer wieder passieren, haben plötzlich das Zeug
dazu, die Stimmung gegen Trump zu drehen. Wird
die Belastung zu groß, müssen sich die Republika-
ner entscheiden, ob sie Trump fallen lassen oder
bedingungslos zu ihm halten und mit ihm stürzen
wollen. Warten sie zu lange, könnte ihnen die
Entscheidung von der Realität abgenommen wer-
den.

Leitartikel


Angriff auf das


System Trump


Das drohende
Amtsenthebungs -
verfahren versetzt
Donald Trump
in einen
permanenten
Abwehrkampf,
meint,
Annett Meiritz.

Wird die


Belastung zu


groß, müssen


sich die


Republikaner


entscheiden,


ob sie Trump


fallen lassen


oder


bedingungs los


zu ihm halten


und mit ihm


stürzen wollen.


Die Autorin ist Korrespondentin in Washington.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

WOCHENENDE 25./26./27. OKTOBER 2019, NR. 206
20

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