gerade mal gut fünf Prozent des Gesamtumsatzes in
Deutschland aus. Doch die Amerikaner haben ihr
Angriffsziel ausgemacht: Seit Anfang des Jahres ver-
kauft Amazon die eigenen Möbel-Linien Movian und
Alkove, „skandinavisch inspiriert“, was in der Praxis
heißt: wie aus dem Ikea-Katalog ausgeschnitten.
Der Versand bei dem Onlinehändler ist ab 29
Euro kostenlos, das Rückgaberecht gilt einen Mo-
nat. Ein Billy-Regal dagegen kostet in Ikeas Online-
shop 39 Euro und die Lieferung noch mal das Glei-
che. „Das kostet wirklich 39 Euro“, entschuldigt
sich Balslev für die hohe Liefergebühr – Möbel sei-
en eben schwer und sperrig. 20 Euro koste es, das
Regal aus dem Lager auf den Laster zu laden, 19
Euro vom Laster in die Wohnung.
Pierre Haarfeld, Möbelexperte der Hamburger
E-Commerce-Beratung Digital Apartment, hält Ike-
as Zurückhaltung für gefährlich: „Wir leben in ei-
ner Welt der Amazonisierung. Kunden akzeptieren
keine Versandkosten mehr, höchstens für die Re-
toure“, sagt der Berater. Seit Haarfeld vor einigen
Jahren kritisierte, dass Ikea „mehr Umsatz mit Kött-
bullar als im Internet“ mache, habe sich zwar vie-
les gebessert. Die Schweden probierten vieles aus,
aber brächten wenig konsequent zu Ende und sei-
en statt am Kunden immer noch zu sehr an ihrer
Unternehmensphilosophie orientiert– und die sei
auf den Filialbesuch ausgelegt.
Während sich Balslev über die teure Logistik be-
klagt, investieren die Konkurrenten genau in die-
sem Bereich. Der alte Konkurrent Otto baut die für
den Möbelhandel so wichtige Zwei-Mann-Logistik,
die Auslieferung mit vier schleppenden Händen,
massiv aus. „Wenn Amazon in Deutschland eine ei-
gene Zwei-Mann-Logistik aufbaut, hat Ikea ein gro-
ßes Problem“, sagt Haarfeld.
Eigentlich, glaubt der Berater, müssten die
Schweden selbst ein Liefernetz aufbauen. Dann
hätten die Schweden einen gewaltigen Vorteil ge-
genüber Handelsplattformen wie Amazon: Weil
Ikea seine Lieferkette vom Holzeinkauf bis zur Mö-
belpräsentation vollständig kontrolliert, könnte der
Möbelhändler auch online ein besseres Kundener-
lebnis bieten. Als Beispiel nennt der Berater Aug-
mented-Reality-Apps (AR), mit denen Kunden Mö-
bel virtuell in den Raum stellen und so die Planung
ihrer Einrichtung von zu Hause erledigen können.
Vor einigen Jahren sei Ikea noch Pionier bei der
Entwicklung solcher Apps gewesen, sei dann aber
nicht drangeblieben. Inzwischen seien Otto und
andere an den Schweden vorbeigezogen. Immer-
hin: Wie das Handelsblatt erfuhr, will Ikea deut-
schen Kunden ab Frühjahr 2020 eine neue App an-
bieten, die die Raumplanung mit AR und den Mö-
belkauf in der App ermöglicht.
Diagnose: Innovationsdilemma
Steckt Ikea im „Innovator’s Dilemma“? Der Har-
vard-Professor Clayton Christensen beschrieb da-
mit das Problem gut laufender Konzerne, die sich
scheuen, ihr Stammgeschäft mit neuen, anfangs
teuren Methoden zu kannibalisieren – und damit
warten, bis die Wettbewerber ihnen den Weg in die
Zukunft abgeschnitten haben.
Das wäre ironisch, ist Ikea seinem Gegenspieler
Amazon doch so ähnlich. Ein Ikea-Entwickler er-
zählt auf dem „Democratic Design Day“ von einem
„Design-Brief “, den er vor einiger Zeit erhielt. Die
einseitigen Anweisungen beschreiben Ikea-intern
die Funktion, die ein neuer Artikel haben soll und
- ganz wichtig – den Preis, der nicht überschritten
werden darf. Der Design-Brief beschrieb einen mo-
bilen Kleiderschrank, der unter zehn Euro kosten
sollte. Nun steht der Entwickler auf der Bühne in
Älmhult neben einer mit einem weißen Netz ver-
kleideten Mini-Duschkabine mit Reißverschluss, Fä-
chern und einer Stange, um Hemden aufzuhängen.
9,99 Euro kostet Vuku. Der Boden, erzählt der in-
dischstämmige Mann stolz, besteht aus demselben
Plastik wie Ikeas blaue Tragetaschen – weil der Ein-
kauf in der Masse günstiger ist, drückte der Kunst-
stoff den Preis unter die gewünschte Marke.
Ingvar Kamprads kundenfreundliche Knauserei
gehört zu Ikeas Gründungslegende: In den Anfangs-
jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Fir-
mengründer von Möbelmessen geworfen, weil er
die Preise der Konkurrenz unterbot. Als Retourkut-
sche eröffnete er das erste Einrichtungshaus, das
bis heute auf dem Älmhulter Campus steht. Heute
ist dort Ikeas Firmenmuseum untergebracht.
Amazon-Chef Jeff Bezos und Kamprad hätten
sich wohl gut verstanden. „Obsessive Kundenorien-
tierung“ ist das oberste Prinzip des Internethänd-
lers aus Seattle, und die beginnt beim Preis. Der
Unterschied zwischen den geistigen Brüdern: Wäh-
rend Kamprad das Internet zeitlebens kritisch be-
äugte, ist der Geschäftsmann Bezos dort geboren.
Das verschiebt die Perspektive: Ein Versand, der
die Kosten nicht deckt, erhöhe die Preise für alle
Kunden, sagt Deutschlandchef Balslev.
Weil für Ikea der Normalkunde der Ladenbesu-
cher ist, begreifen die Schweden Versandkosten als
Zuschlag auf den Ladenpreis. Für den reinen On-
linehändler Amazon sind Versandkosten dagegen
nichts anderes als ein integraler Teil der Kostenkal-
kulation. Abonnenten von Amazons Loyalitätspro-
gramm Prime zahlen sie deswegen bei vielen Pro-
dukten gar nicht.
Wie groß Ikeas Amazon-Problem tatsächlich
wird, hängt davon ab, ob die Möbelkäufer in den
kommenden Jahren massenhaft ins Internet ab-
wandern. Eine aktuelle Prognose: Bis 2022 soll der
Onlineumsatz am Möbelhandel in Deutschland von
derzeit rund zehn auf 17 Prozent steigen.
Ikea will dem urbanen, digitalen Bürgertum aber
nicht nur online entgegenkommen, sondern auch
dort, wo junge Menschen mit hohem verfügbarem
Einkommen und Platz zum Dekorieren leben: in
Großstädten.
Der schwierige Weg in die City
Der Anblick des blau-gelben Möbelhaus-Klotzes in
einer Hamburger Fußgängerzone ist zwar nicht
mehr neu, aber immer noch etwas irritierend. 2014
schon eröffnete Ikea sein erstes Innenstadt-Möbel-
haus in Altona. Mit 18 000 Quadratmetern ist das
Haus zwar nur gut halb so groß wie typische Ikea-
Häuser an der Autobahn, doch für eine Flaniermeile
immer noch gewaltig. Altona sei ein Erfolg, auch
nach fünf Jahren wachse der Umsatz schneller als in
allen anderen deutschen Filialen, sagt Balslev. Trotz-
dem würde der Deutschlandchef heute „keine typi-
sche Ikea-Filiale mehr in die Innenstadt verpflan-
zen“: Zu viele Parkplätze, 90 Prozent der Besucher
kämen ohnehin zu Fuß, mit Rad, Bus oder Bahn.
Als Vorbild gilt Ikea-intern inzwischen das eben
eröffnete Haus „La Madeleine“ in Paris, einen Spa-
ziergang vom Élysée-Palast entfernt. Die Filialgröße
beträgt nur gut ein Viertel der Niederlassung in Al-
tona, auf ein Lager wurde ganz verzichtet. „Die
Leute kommen ohnehin ohne Auto, dann können
wir Kleiderschränke oder Betten auch direkt lie-
fern“, sagt Balslev.
Weltweit sollen 30 Ikea-Filialen nach Pariser Vor-
bild entstehen. In Berlin soll die zweite eröffnen,
mit 8 000 bis 10 000 Quadratmetern und ohne gro-
ßes Lager – die schon bestehenden Großfilialen au-
ßenrum könnten diese Funktion künftig für die
kleineren übernehmen. In Deutschland sieht Bals-
lev sieben oder acht Metropolregionen, in denen
sich solche Innenstadtläden lohnen.
Das ist der Plan, die Umsetzung ist jedoch ähn-
lich schwierig wie der Aufbau eines Pax-Kleider-
schranks: Ikea sucht nach Toplagen, und die sind
in den zunehmend dichteren deutschen Städten
gar nicht so leicht zu finden. In München ließ Ikea
schon 2017 drei Standorte von der TU München
untersuchen. Lokalpolitiker sorgten sich – wie an-
fangs in Hamburg – wegen des zusätzlichen Ver-
kehrs und der möglichen Gefahr für den Einzel-
handel. Seitdem ist dort nichts mehr passiert.
So erscheint Ikea knapp zwei Jahre nach Kamprads
Tod als ein Konzern, der die Zeichen der Zeit zwar er-
kennt, aber sich schwertut, nach ihnen zu handeln.
Der sich seiner Werte bewusst ist, aber nicht sicher,
welchen Moden er folgen, welche er ignorieren soll.
Womöglich ist diese Unsicherheit auch der neue Nor-
malzustand für ein globales Unternehmen von 86
Jahren, das in der Internetära ankommen will, in der
Wandel die einzige Konstante bildet.
Um in der Ikea-Logik zu bleiben: Logistik, Filial-
konzept, neue Geschäftsfelder. Alles kann und
muss ständig umdekoriert und neu angeordnet
werden.
Filialtyp 1:
Erste deutsche
Ikea-Filiale in Eching
(1974) – typischer
Vorort-Kasten.
dpa
Filialtyp 2:
Erste Innenstadt-
Filiale in Hamburg-
Altona – zu viele
Parkplätze für Möbel-
abholer eingeplant.
Filialtyp 3:
In Paris wird nur
ausgesucht und
dann geliefert.
REUTERS, imago/Rüdiger Wölk
Toys’R’Us
dachte, die
Leute würden
immer in die
Läden
kommen.
Die gibt es
heute nicht
mehr.
Dennis Balslev
Ikea-
Deutschlandchef
IKEA Deutschland GmbH & Co. KG
Report
WOCHENENDE 25./26./27. OKTOBER 2019, NR. 206
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