Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1

E


r steht neben dem
Bahngleis, irgendwo im
indischen Hyderabad.
In seiner rechten Hand,
am ausgestreckten
Arm, hält er sein
Smartphone, macht ein
Selfie-Video von sich. Hinter ihm rast
der Zug heran, immer wieder geht die
Lichthupe. Der junge Mann strahlt im
Dopaminrausch, filmt weiter, jemand
warnt ihn per Zuruf. Womöglich wirkt
das, was er auf seinem Handydisplay
sieht, wie die Szene aus einem Ac-
tionfilm: surreal, unecht. Er scheint
nicht zu verstehen, dass er sich in akuter
Lebensgefahr befindet. Dann fliegt sein
Handy durch die Luft und die Aufnahme
stoppt. Das war im Januar 2018, immer
noch ist das Video im Internet zu fin-
den, Hashtag „#selfiedeath“.

VON CLARA OTT

Der Selfie-Tod ist ein statistisch
längst nachweisbares Phänomen gewor-
den: Zwischen 2011 und 2017 kamen
weltweit 259 Menschen beim Versuch
ums Leben, ein digitales Selbstporträt
zu schießen. Insgesamt 137 Vorfälle wa-
ren das, viele verunglückten gemeinsam
mit dem Partner, Freunden oder ihren
Verwandten. Wie das polnische Ehepaar,
das 2014 Urlaub in Portugal machte, hin-
ter die Absperrung auf einer Klippe trat,
für ein Familien-Selfie. Die Kinder über-
lebten. Auf Wikipedia gibt es eine Liste,
die seit 2011 alle Tode infolge eines Sel-
fies erfasst. Die Menschen verunglück-
ten in Situationen und an gefährlichen
Orten, die eigentlich niemand aufsucht,
der noch bei Verstand ist: am Rand von
Klippen am Meer, auf Felsen in Natio-
nalparks. Auf Hochhäusern, Bergen und
Brücken. Mit Schusswaffen im Arm. Am
Steuer, während Pharrell Williams im
Autoradio sein Lied „Happy“ singt.
Seit 2012 untersucht der britische An-
thropologe Daniel Miller das Social-Me-
dia-Verhalten weltweit. In seiner Studie
„Why We Post“ hat er mit acht Kollegen
die Selfie-Vorlieben verschiedener Län-
der untersucht. Die Engländer lieben
das „Groupie“, den Gruppen-Selfie.
Dort auch im Trend ist das sogenannte
Uglie, bei dem man sich absichtlich
hässlich, unvorteilhaft zeigt, um einen
Kontrast im retuschierten Einheitsbrei
zu schaffen. (Die Botschaft dahinter ist
natürlich „Sonst bin ich hübscher!“) In
Chile liebt man das „Footie“: in ent-
spannter Pose auf der Couch liegend.
Auch Geschlechterunterschiede zeigte
die Studie: Während sich brasilianische
Männer gern mit freiem Oberkörper im
Fitnessstudio präsentieren, stylen sich
Chinesen die Haare nach oben, um
durch den Trick größer zu wirken.

Die Studie zu den Selfie-Todesopfern
stammt aus Indien, dem Land, was im
Ranking der Selfie-Todesfälle ganz vor-
ne liegt. Die Wissenschaftler der indi-
schen Institution „Journal of Family
Medicine and Primary Care“ analysier-
ten die weltweiten Fälle, nach denen
auch Russland, die USA und Pakistan
weit oben rangieren. Das durchschnittli-
che Alter der Verunglückten betrug 23
Jahre – und drei Viertel der Opfer waren
männlich.
Woran liegt das? Männer gelten als
„Sensation Seeker“, in den sozialen Me-
dien nennen sie sich „Daredevils“. Ihr
Ziel: Die schwindelerregendsten Gebäu-
de der Welt zu erklimmen, samt Selfie-
Stick. Risikoreiche Situationen und
Abenteuerlust liegen quasi in ihrer
DNA, erklärt die Esslinger Psychologin
Friederike Gerstenberg. Das Phänomen
der tragisch-tödlichen Selfie-Unfälle vor
allem Anfang 20-Jähriger findet die Psy-
chologin nachvollziehbar: Es gibt einen
Testosteron-Peak um das 20. Lebensjahr
herum. „Und Testosteron könnte man
auch als das risikofreudige Hormon be-
schreiben“, erklärt sie. Zwar haben auch
Frauen in der Lebensphase einen sol-
chen Anstieg, aber bei Weitem nicht so
ausgeprägt. Und da weltweit junge Män-
ner Testosteron produzieren, verwun-
dert es nicht, dass Selfie-Unfälle inter-
national bekannt sind, erklärt sich Gers-
tenberg die Statistiken. Social Media
verstärke obendrein die klassischen Rol-
lenbilder, die früher in Magazinen oder
im Fernsehen ausgelebt wurden. Die
Frauen haben hübsch zu sein, die Män-
ner stark. Tatsächlich machen Frauen
mehr Selfies, aber eben eher vor dem
Spiegel. Die Männer balancieren auf
Hochhausdächern.
Um diese Entwicklung zu verstehen,
muss man kurz zurückblicken auf die
Anfänge digitaler Selbstfotografie. Zu
Beginn der Nullerjahre kamen die ersten
erschwinglichen Digitalkameras auf den
Markt; damals musste man noch fremde
Menschen bitten, einen vor der Urlaubs-
kulisse zu knipsen. Dann kam das Inter-
net und mit ihm die Möglichkeit, spekta-
kuläre Motive anderer Nutzer als seine
eigenen auszugeben. Also wollte jeder
beweisen, dass seine Aufnahme echt
war, um sie auf Facebook zu posten,
denn Selfies als Echtzeiturlaubsnach-
weis wurden Ende der Nullerjahre erst
cool und dann Standard. Pics or it didn’t
happen.
Und dann kam das „Jahr der Selfies“,


  1. Weltweite Berühmtheit erhielt das
    Wort „Selfie“ durch die Oscarverleihung
    Anfang 2014: Moderatorin Ellen de Ge-
    neres posierte mit Hollywood-Größen
    für ein Gruppen-Selfie. Schauspieler
    Bradley Cooper hielt das Smartphone,
    mit Selfie-Stab hätten noch mehr Stars


darauf gepasst. Das „Time Magazine“
hielt den Selfie-Stick, der belächelt und
gehasst wurde, für eine der 25 besten Er-
findungen des Jahres. Dem Selfie-Fan
bot die Armverlängerung samt Weitwin-
keleffekt noch eindrucksvollere, noch li-
ke-würdigere Fotomotive. Makati City
in Manila wurde zur „Selfie Capital of
the World“ gekürt, nachdem dort
400.000 Fotos unter dem Hashtag
„#selfie“ gepostet wurden. Heute findet
man unter „#selfie“ allein auf Instagram
über 407 Millionen Treffer.
Und Selfie-Sticks sind inzwischen an
vielen Orten verboten: in allen Walt Dis-
ney Parks, auf vielen Konzerten oder in
Fußballstadion. Die Stangen werden
teils als Waffe betrachtet, Museen wie
der Pariser Louvre fürchten, dass Kunst-
werke beschädigt werden. Ob mit oder
ohne Selfie-Stick: Die Aufnahmen sind
stets die ultimative Verschmelzung des
Selfie-Fans mit dem Hintergrund, sei es
nun ein Picasso, eine Steilküste oder ein
Stadion. Doch der Fotografierende er-
lebt den Moment nicht mehr bewusst,
da er bereits über die perfekte Bildun-
terschrift, die Filter und die hereinpras-
selnde Bestätigung in Form von Daumen
und Herzchen denkt. Bleiben die Likes
aus, ist nicht nur das Selfie schlecht,
sondern die ganze Erinnerung getrübt.
Bei Selfies wird das Leben durch die
Frontkamera festgehalten und im Rück-
blick durch die Resonanz abgesegnet.
Im Idealfall.
Doch zur Befriedigung dieser Gier ris-
kiert man eben auch mal sein Leben,
was zu „No-Selfie-Zones“ führte. Ja, es
gab Menschen, die im Wildtierpark vor
Raubtieren posierten. Der digitale Tiger
auf dem Smartphonedisplay sieht halt
cool aus – und man blickt ihm nicht di-
rekt in die Augen, was Adrenalin auslöst
und, viel wichtiger, unseren natürlichen
Fluchtreflex. 2018 starb ein Inder, als er
sich vor einen verletzten Bären für ein
Selfie stellte – der Bär war leider deut-
lich wehrhafter als erwartet. 2015 starb
ein US-Amerikaner nach dem Biss einer
Klapperschlange, mit der er posiert hat-
te. Im selben Jahr starb ein Spanier wäh-
rend eines Stierrennens, als er ein Foto
mit dem heranrasenden Bullen im Hin-
tergrund für eine gute Idee hielt. 2016
starb ein Chinese, als er in einem Zoo
Selfies mit einem Walross machte. Das
rund 1000 Kilogramm schwere Tier zog
ihn ins Wasser, er ertrank mit einem
Zooangestellten. 2016 kreuzten 21 Ele-
fanten den Weg eines Lastwagenfahrers
auf einer Straße in Nepal. Er stieg aus,
um mit der Herde zu posieren, und blen-
dete die lebensbedrohliche Situation
aus. Der lockende Social-Media-Ruhm
besiegte den Menschenverstand.
„Je eigenartiger, je ungewöhnlicher,
je gefährlicher, je dramatischer, je bru-

taler, je spannender das ist, desto mehr
Kitzel entsteht“, erklärt der Jugendfor-
scher Klaus Hurrelmann den Rausch
nach immer spektakuläreren Motiven.
Es stecke ein gewisser Aufschaukelfak-
tor darin, ein Suchtfaktor, da man et-
was bis dahin nie Dagewesenes suche.
„„„Was ja heute eigentlich gar nicht mehrWas ja heute eigentlich gar nicht mehr
möglich ist“, glaubt Hurrelmann. Man-
che halten es für einen Weg, ihr Leben
aufs Spiel zu setzen, um sich vom
Mainstream abzuheben. Noch einen
Schritt zurückzugehen, höher, weiter.
Unvernünftiger.
Aber, fragt man sich, was haben die
Anfang 20-Jährigen der Generation da-
vor eigentlich gemacht, um ihr Ego zu
polieren? „Früher waren das Statussym-
bole, die viel damit zu tun hatten, was
von außen statistisch sichtbar war: das
Haus, das Auto“, erklärt Klaus Hurrel-
mann. Gerade das Auto habe früher eine
ganz andere Bedeutung gehabt, weil es
Wohlstand, Geschmack und Lifestyle
symbolisierte und zeigte: „Ich bin wer!“
Dieses impression managementsei für
jüngere Generationen immer noch
wichtig, doch wurde das Auto durch et-
was anderes ersetzt: die Software. Mar-
ke, Spoiler, Felgenbreite, das sind heute
Likes und Follower, die Filter füttern
den Selbstoptimierungswahn. Und wie
bei jedem Statussymbol muss man es
pflegen und fürchtet um den Wertver-
lust, erklärt Hurrelmann den Druck, der
auf den Selfie-Süchtigen lastet. Man hat
Angst, nicht mithalten zu können, un-
kreativ zu wirken, kein like-fähiges Mo-
tiv aufzuspüren. „Wer sein Selbstwert-
gefühl aus Likes bezieht, gerät in eine
psychologische Krise“, warnt Hurrel-
mann. Ein fataler Kreislauf, der zu le-
bensmüden Aktionen führt. Alles für ein
Foto. Das letzte.
Dazu spielt für Friederike Gersten-
berg auch eine narzisstische Tendenz in
der Persönlichkeit eine Rolle: Wer Sel-
fies liebt, braucht das für das unsichere
Ego. Psychologische Studien wie die von
Forschern der Universität Ohio unter-
suchten Selfie-Vorlieben und stellten
fest, dass die Fotos für viele als Bestäti-
gung des Selbstwerts gebraucht werden.
Ebenso, vermutet Gerstenberg, schei-
nen diese Personen über ein verminder-
tes Angstgefühl zu verfügen und Situa-
tionen so schlicht falsch einzuschätzen.
Es mangelt ihnen an Risikokompetenz –
also an der Fähigkeit, die Nebenwirkun-
gen, die für einen gewünschten Effekt
möglicherweise in Kauf genommen wer-
den müssen, realistisch abzuschätzen.
Ach ja, der Inder in Hyderabad über-
lebte übrigens, leicht verletzt. Er poste-
te das Video im Netz, musste für den
verbotenen Aufenthalt im Gleisbett eine
Strafe zahlen. Heute hofft er, dass keiner
so dumm ist, ihn nachzuahmen.

Zu Tode


fotografiertfotografiertfotografiert


Weltweit sind bereits


Hunderte beim


Aufnehmen eines


Selfies gestorben.


Die Opfer sind


durchschnittlich


2 3 Jahre alt, die


meisten davon


Männer. Warum


riskieren so viele


Menschen für einen


Schnappschuss von


sich selbst ihr Leben?


„Daredevils“ nennen sich besonders lebensmüde Menschen, die wie dieser 19-jährige Russe in Dubai mit Selfie-Sticks auf die höchsten Wolkenkratzer der Welt steigen

CATERS NEWS AGENCY

FFFür das ultimative Selfie mussür das ultimative Selfie muss
man schwindelfrei sein wie dieser
Mann in Melbourne

ANDREJ CIESIELSKI

Die meisten Menschen, die bei einem
Selfie verunglückten, kamen aus Indien

EYEEM/GETTY IMAGES

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Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

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Chef vom Dienst

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20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-HP


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22 WISSEN WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


Ein geheimnisvolles Wesen eroberte
in dieser Woche die Schlagzeilen.
Von CNN bis „NZZ“, weltweit be-
richteten die Medien über den
„Blob“, den der Pariser Zoo erstmals
der staunenden Öffentlichkeit vor-
stellte. Eine gelbe Masse, weder
Pflanze, Pilz noch Tier, dafür mit
720 Geschlechtern gesegnet. Ein
schleimiger Organismus ohne Ge-
hirn und Beine, der durch Irrgärten
navigiert und sein Wissen an Artge-
nossen weitergibt. Wie vom Himmel
gefallen schien der Pariser Glibber,
ein mysteriöses Geschöpf weitab
der irdischen Biologie. Das wohlige
Schaudern wurde noch verstärkt
durch den Namen, der einem Hor-
rorklassiker der Fünfzigerjahre ent-
stammt.
Kopfschüttelnd möchte man sich
abwenden von solcher Sensations-
hascherei – oder dem Zoo zu dem
PR-Coup gratulieren. Nichts, was
über den mysteriösen Blob berichtet
wurde, ist grob falsch. Und nichts
davon ist neu. Der Schleimpilz Phy-
sarum polycephalum ist ein unter
Biologen bekanntes Faszinosum, das
schon länger intensiv erforscht
wird. Die Gruppe der Schleimpilze
mit ihren über 1000 Arten wider-
setzt sich dabei beharrlich der Ord-
nungsliebe der Taxonomen: Sie ver-
eint Eigenschaften von Tieren und
Pilzen und nimmt im Stammbaum
der Vielzeller eine Sonderstellung
ein. Was wie ein Alien anmutet, ist
dabei nur eines vieler wunderbarer
Rätsel, die die irdische Evolution
aufgibt. Der Blob von Paris ist stau-
nenswerter als alle Wesen, die Fil-
memacher je erdacht haben – und
damit jede Schlagzeile wert.

Schleimiger


Superstar


QUANTENSPRUNG

VONBIRGIT HERDEN

QUÄNTCHEN

wurden Ende der Woche im Rhin-
Havelluch bei Linum gezählt. Die
Gegend rund um den kleinen bran-
denburgischen Ort ist einer der
größten Kranichrastplätze Europas.

5 5.220


Kraniche

Fünf Meter tief sollte sich der Robo-
ter in den Boden des Mars graben
und erstmals erkunden, was dort vor
sich geht. Als Forscher des Deut-
schen Zentrums für Luft- und Raum-
fahrt (DLR) ihn präsentierten, nann-
ten sie ihn liebevoll „Marsmaul-
wurf“. Die Erwartungen waren groß.
Oben angekommen, grub der Robo-
ter los. Und blieb nach 35 Zentime-
tern stecken. Mehr als sechs Monate
lang. Er hüpfte herum, statt weiter
nach unten zu dringen, weil er kei-
nen Halt an den Seitenwänden des
Lochs fand. Das vermuteten die For-
scher und ließen ihn eine Schaufel
ausfahren, die ihn stabilisieren soll.
Nun dringt der Maulwurf weiter in
die Tiefe vor: In zehn Tagen schaffte
er zwei Zentimeter. who

BEFUND

Müder


Maulwurf


AP
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