Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

gen, vergröbert und verzerrt
wird. Es sind keineswegs nur die
politischen Ränder, die davon
Gebrauch machen („Deutsch-
land-Abschaffer“ von rechts,
„Rassist“ von links). Gerade die
Vertreter der Mehrheitsmeinun-
gen sind sehr schnell darin,
schon bei leichten Abweichun-
gen vom allgemein akzeptierten
Meinungskorridor sehr hässliche
Begriffe hervorzuholen, um
einen Angriff auf die Meinungs-
herrschaft abzuwehren. Mei-
nungsherrschaft ist zugleich
politische Herrschaft, denn wer
die Mehrheitsmeinungen ver-
tritt, gewinnt Wahlen.
Um nicht missverstanden zu
werden: Deutschland ist ein
freies Land, und jeder kann sei-
ne Meinung – wie abstrus sie
auch sein mag – äußern, wo und
wie er will. Grenzen finden sich
erst bei Straftatbeständen wie
Beleidigung, Verleumdung oder
Volksverhetzung, und das ist
auch richtig so.
Trotz dieser Tatsache haben
nach einer jüngeren Allensbach-
studie fast zwei Drittel der Be-
völkerung den Eindruck, ihre
Ansichten nicht frei vertreten zu
können. Sie müssten sehr auf-
passen, wenn sie sich zu be-
stimmten „heiklen“ Themen
äußern. Obwohl es grundsätzlich
jedermann freisteht, fürchten sie
negative Folgen, wenn sie zu
diesen Themen eine abweichen-
de Meinung haben.
Der Grund für den alarmie-
renden Befund von Allensbach
ist die Furcht, sozial ausgegrenzt
und stigmatisiert zu werden,
wenn man andere als die herr-
schenden Meinungen vertritt.
Dies kann leicht durch die schon
beschriebene Vergröberung und
Verzerrung der eigenen Position
geschehen. Man möchte nicht
gerne ein Etikett verpasst be-
kommen, das sowohl unschön
als auch unwahr ist.
Ein solches Etikett kann man
aber auch dadurch bekommen,
dass man irgendwo einen klei-
nen Fehler macht. In einem
längeren Text reicht oft eine
unglückliche Formulierung, eine
etwas zu steile These, und schon
stürzen sich die Medien oder der
politische Gegner auf diesen
Fehler und nur auf ihn. Da hilft
es dann wenig, wenn der ganze
Rest unanstößig und argumenta-
tiv hochwertig ist – der Stab ist
gebrochen.
Mit heiklen Themen ist man
auf glattem Eis. Das liegt nicht
jedem. Die meisten Bürger kön-
nen nicht druckreif sprechen,
und sie wollen sich auch nicht
darum bemühen müssen. Sie
wollen reden können, wie ihnen
der Schnabel gewachsen ist,


wissen aber, dass man dann
leicht mal zu einer falschen
Formulierung greift.
Im Familien- und Freundes-
kreis ist das nicht schlimm, aber
am Arbeitsplatz oder in der
Öffentlichkeit kann es einsam
um einen werden. Fast scheint
es, als hätte sich in der deut-
schen Gesellschaft eine hämi-
sche Freude daran eingenistet,
irgendetwas aufzubauschen, was
Menschen mit Minderheitenmei-
nungen in ein möglichst schlech-
tes Licht rückt.
Das ist nicht gesund. Es ist
nicht gut für die Bürger, denn sie
fühlen sich verunsichert. Es ist
nicht gut für die Gesellschaft, in
der gerade über anstößige Mei-
nungen offen und sachlich ge-
sprochen werden müsste, um sie
(und die Mehrheitsmeinung)
hinterfragen und gegebenenfalls
ändern zu können. Und es ist
nicht gut für die Politik.
Denn auch Politiker verspü-
ren den Druck, unangreifbar
reden zu müssen. Ein falscher
Satz in einem sensiblen Feld
kann der Karriere beträcht-
lichen Schaden zufügen. Des-
halb wird an den Formulierun-
gen geschliffen, bis sie rund und
glatt wie Seifenblasen sind.
Nicht zu greifen, nahezu in-
haltsleer und mit ebenso flüch-
tigem Erinnerungswert. Das
aber führt zur Entfremdung
gegenüber den Wählern.
Hier schließt sich der Kreis.
Die führenden Politiker sind
stets zugleich die Vertreter der
herrschenden Meinung. Sie ver-
suchen ihre Meinungsherrschaft
zu erhalten, indem dissentieren-
de Stimmen ins Abseits gescho-
ben werden – oft absichtlich
weiter, als es inhaltlich gerecht-
fertigt ist. Und um dem politi-
schen Gegner nicht dieselbe
Blöße zu bieten, betreiben sie
eine weitgehende inhaltliche
Entkernung ihrer eigenen Äu-
ßerungen. Große Teile der politi-
schen Rhetorik erstarren zu
Floskeln und Phrasen. Damit
wächst die Distanz zwischen
Wählern und Gewählten, denn
die gewählten Politiker bieten
den Wählern wenig, woran diese
sich festhalten können.
Hier geht der Schuss nach
hinten los. Mit wachsender Dis-
tanz erodiert die Meinungsherr-
schaft. Für die Wähler steigt die
Versuchung, sich anderen Politi-
kern zuzuwenden, die unkon-
ventionelle Meinungen ver-
treten. Wer abtrünnige Wähler
zurückgewinnen will, muss an-
dere Meinungen respektieren.
Verzerren und diskreditieren
geht leicht und schnell. Aber es
ist feige. An dieser Feigheit
krankt unser Land.

WELT AM SONNTAG NR. 42 20. OKTOBER 2019 FORUM^29


s ist ein Sieg für die
Freiheit! Der BGH hat
entschieden, dass Bä-
ckereien den ganzen Sonntag
über Brot und Brötchen ver-
kaufen dürfen. Sie müssen
nur einen Cafébetrieb simu-
lieren. Damit findet eine ge-
radezu skandalöse Gänge-
lung der Bürger ihr Ende, die
Wähler scharenweise in die
Arme der AfD getrieben hat.
Warum konnte man rund um
die Uhr für „Brot für die
Welt“ spenden, aber sich sel-
ber am Sonntag kein Baguet-
te kaufen?
Es war schließlich eine der
Hauptforderungen der fran-
zösischen Revolution, auch
am Sonntag Brot kaufen zu
können und nicht nur Ku-
chen. Dieses Urteil ist aber

nur ein Etappensieg, der Bür-
ger wird überall von staatli-
cher Bevormundung bedroht.
Warum darf man in geschlos-
senen Ortschaften nur 50
Stundenkilometer fahren,
aber auf der Autobahn so

schnell man kann? Ist
menschliches Leben auf der
Autobahn weniger wert?
Weshalb darf man sonntags
nicht mit dem Rasenmäher
zum Brötchenholen fahren?
Warum darf man die Asche
seiner deutschen Angehöri-
gen nicht einmal werktags zu
Hause aufbewahren, was in
Österreich oder den Nieder-
landen kein Problem ist? Sol-
len wir uns etwa holländische
Asche auf die Anrichte stel-
len? Und warum steht in un-
serer angeblich demokrati-
schen Gesellschaft ein Bürger
im Abseits, wenn er der geg-
nerischen Torlinie näher ist
als der Ball und der vorletzte
Gegenspieler? Auch, wenn er
nur Brötchen holen wollte?
Hans Zippert

SATIRE

Ist


menschliches


Leben auf der


Autobahn


weniger wert?


,,


Freiheit,scheibchenweise


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