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n einem späten Freitagnachmit-
tag im April 2012 stellte der li-
tauische Biochemiker Virginijus
Šikšnys den wichtigsten Artikel
seiner bisherigen Karriere fertig. In sei-
nem kleinen Büro an der Universität Vil-
nius ging er noch ein letztes Mal über den
Text, überprüfte die Namen von Bakte-
rien und Abkürzungen wie »RuvC« und
»crRNA«.
An den Tagen zuvor hatte Šikšnys bis
spätabends an dem Text gearbeitet. Nun
meldete sich seine Frau bei ihm, so erin-
nert er sich, und beorderte ihn nach Hause.
Noch am Abend wollten sie gemeinsam
auf die Kurische Nehrung fahren, an die
Ostsee. Im Frühjahr würden sie die Sand-
dünen noch fast für sich allein haben. Also
lud Šikšnys, damals 56 Jahre alt, das Ma-
nuskript auf der Internetseite der Fachzeit-
schrift »Cell« hoch, 22 Seiten lang, und
klickte auf »Bestätigen«.
»Cell« ist eine der angesehensten wis-
senschaftlichen Zeitschriften der Welt. Sie
erscheint alle zwei Wochen, herausge -
geben vom gleichnamigen Verlag in Cam-
bridge, USA, und ist spezialisiert auf
Themen der Biowissenschaften. Das Heft
lesen weltweit alle Genetiker und Zell -
biologen, alle Neurowissenschaftler und
Virologen. Wer seine Forschungsergebnisse
in »Cell« unterbringt, gehört zur Elite.
Nie zuvor hatte Šikšnys, dessen Name
»Schikschnis« ausgesprochen wird, einen
Artikel bei »Cell« eingereicht. Sein jüngster
Fund jedoch, da war er sicher, würde es ins
Magazin schaffen. Mithilfe eines Proteins
würden sich die Erbgutmoleküle der DNA
leichter manipulieren lassen als je zuvor.
Šikšnys wähnte sich am Ziel. Er ahnte
nicht, dass zwei Forscherinnen, die ähnli-
che Experimente unternommen hatten,
ebenfalls kurz davorstanden, den Mecha-
nismus dieses besonderen Proteins zu ver-
öffentlichen. Sein Name: Cas9.
Keine andere Entdeckung in diesem
Jahrzehnt hat die Wissenschaft so stark
verändert wie die Genschere Crispr-Cas9.
Forscher können mit ihr gezielt Erbgut -
abschnitte durchtrennen und danach
Stücke löschen oder fremde Sequenzen
einsetzen. Füllte es zuvor oft ganze Dok-
torarbeiten, auch nur ein einziges Gen in
einer Zelle zu manipulieren, brauchen For-
scher dafür heute nur noch wenige Tage.
Gene sind Bauanleitungen für Proteine.
Ihr Zusammenspiel bestimmt mit darüber,
wie schüchtern oder mitfühlend ein
Mensch ist, wie groß und schlau er wird
und ob er zu Übergewicht, Depression
oder Haarausfall neigt. Die Genschere er-
laubt es Wissenschaftlern, in den Bauplan
des Lebens einzugreifen.
Agrarwissenschaftler verändern mit
Crispr schon heute Sojabohnen, Mais oder
Tomatenpflanzen, die mit weniger Wasser
auskommen oder mehr Ertrag liefern sol-
len. Genetiker arbeiten an malariaresisten-
ten Mücken, kraftstoffproduzierenden
Algen und Schweinen mit Muskeln wie
Bodybuilder. Ärzte erhoffen sich, tödliche
Erbkrankheiten wie Chorea Huntington
behandeln zu können. Im November 2018
erschütterte der chinesische Forscher He
Jiankui die Welt, als er die Geburt der ers-
ten genveränderten Babys verkündete.
Die Genschere Crispr-Cas9 macht den
Menschen zum Schöpfer, im Guten wie im
Schlechten.
Die Frage lautet nicht, ob es für Crispr
einen Nobelpreis geben wird, sondern
wann – und für wen.
Die Geschichte der Genschere ist nicht
nur ein Lehrstück über wissenschaftlichen
Fortschritt. Sie handelt auch von einem
wahnwitzigen Wettstreit, der darüber ent-
schied, wessen Name für immer mit der
Entdeckung verbunden sein wird. Virgini-
jus Šikšnys hat dieses Rennen verloren.
Als Entdeckerinnen von Crispr-Cas9
gelten die US-Amerikanerin Jennifer
Doudna und die Französin Emmanuelle
Charpentier. Ihre Wikipedia-Seiten zählen
jeweils mehr als 25 Preise auf, das Magazin
»Time« wählte sie zu den 100 einfluss-
reichsten Personen weltweit.
Doudna wurde in die britische Royal
Society aufgenommen, Charpentier be-
kam neun Ehrendoktorwürden und wurde
zur Direktorin des Max-Planck-Instituts
für Infektionsbiologie berufen. Steiler
können wissenschaftliche Karrieren kaum
verlaufen.
Virginijus Šikšnys ist bis heute nur in-
nerhalb der Crispr-Forschergemeinde be-
kannt. Lange besaß er nicht einmal eine
Wikipedia-Seite; erst vor drei Jahren leg-
ten seine Studierenden einen Eintrag über
ihn an. Die Biografie umfasst wenige Zei-
len. Šikšnys sagt heute, er denke nicht da-
rüber nach, wie sein Leben sich verändert
hätte, wenn damals die Sache mit dem Ar-
tikel anders gelaufen wäre. Falls doch mal
eine Was-wäre-wenn-Frage aufploppe,
schiebe er sie beiseite. Sie brächte ihn nicht
weiter.
Šikšnys’ Labor liegt am Rand der li-
tauischen Hauptstadt Vilnius im Zentrum
für Lebenswissenschaften, einem Neubau
mit viel Glas und einem weitläufigen Foyer.
Der Weg zu Šikšnys führt durch Türen, die
sich nur mit einem Chip öffnen lassen.
Dahinter verbergen sich teure Geräte, die
DNA trennen und reinigen, wiegen und
vermessen. Er geht voraus in die Kaffee -
küche, dort hängt ein Poster mit dem Titel
»Das Wechselspiel von Proteinen und
Nukleinsäuren«. Und Šikšnys beginnt zu
erzählen.
Crispr habe ihm der Zufall beschert,
sagt er. Seit dem Beginn seines Forscher-
lebens untersuchte er die Immunabwehr
von Bakterien, eine wenig beachtete Ni-
sche der Mikrobiologie. Ihn interessierte,
wie Bakterien sich gegen Viren wehren,
sogenannte Phagen.
Im Jahr 2007 las er zum ersten Mal von
einem neu entdeckten Abwehrmechanis-
mus in einem Bakterium aus der Gattung
der Streptokokken. Es wird zur Herstel-
lung von Joghurt und Käse eingesetzt, ist
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Wissenschaft
Mister Crispr
KarrierenEine der größten Revolutionen der Biologie ist die molekulare Genschere – mit ihr lässt
sich die DNA gezielt zerschnippeln, löschen, neu zusammenpuzzeln. Ein litauischer
Forscher hat das sensationelle Instrument entdeckt. Doch den Ruhm heimsten andere ein.
BERTA TILMANTAITE / DER SPIEGEL
Biochemiker Šikšnys
Keine Was-wäre-wenn-Fragen