103
Geschichte
»Die Leichen wurden
fachmännisch zerlegt«
Der Archäologe
Benedict Thomas, 27,
über den Wahrheits -
gehalt von an geblichen
Menschen opfern in der
Vor- und Frühgeschichte
SPIEGEL:Herr Thomas, zahlreiche Quel-
len und Funde beschreiben Menschenopfer
nicht nur bei Azteken oder Inka, sondern
auch bei Stämmen in Mitteleuropa. Sie
behaupten, dass sich diese Erzählungen
häufig als Mythos entpuppen. Warum?
Thomas:Die von Ihnen erwähnten
Quellen berichten beispielsweise von
Menschenopfern der Kelten
oder germanischer Stämme.
Doch man muss ihnen
grundsätzlich misstrauen.
Diese Berichte kommen
nicht von den Stämmen
selbst, sondern meist von
römischen Autoren, die
ein Interesse hatten, ihre
Gegner schlechtzumachen.
Tatsache ist: Weltweit
sind viele alternative Um-
gangsformen mit Toten
bekannt. Entsprechende
archäolo gische Funde wer-
den häufig als Beleg für
kultische Handlungen ge-
deutet. Menschenopfer
sind aber in Wahrheit nur
selten wirklich bezeugt.
SPIEGEL:Wie kommt es denn, dass
archäologische Funde als Beispiele für
Menschenopfer gedeutet werden?
Thomas:Ein Beispiel dafür, wie so
etwas passieren kann, ist brandaktuell:
Bei Pömmelte in Sachsen-Anhalt wurde
vor einigen Jahren eine Kreisgraben -
anlage entdeckt, die auf den Übergang
vom Neolithikum zur frühen Bronzezeit
datiert wird. Forscher erkannten in der
Anlage ein sogenanntes Ringheiligtum,
in dem ritualisierte Handlungen voll -
zogen wurden. Als man in Schachtgruben
die Knochen offenbar Ermordeter fand,
schien festzustehen, dass dort Ritual -
morde begangen worden waren. Aller-
dings hat eine anthropologische Unter -
suchung jüngst gezeigt, dass die Ge -
meuchelten alle auf unterschiedliche
Weise zu Tode gekommen waren. Ein
klares Indiz gegen die Durchführung
von Menschenopfern und ein deutlicher
Hinweis, dass eine ritualisierte Bestat-
tung miss verstanden wurde. So etwas
kommt durchaus häufiger vor.
SPIEGEL:Wo noch?
Thomas:Nehmen Sie die sogenannten
Himmelsbestattungen in Tibet, die es
bis heute gibt. Die Leichname werden
abgelegt, damit sie von Geiern verspeist
werden können. Diese Leichen sind
aber zuvor zerstückelt worden, was die
Vorstellung nährte, an diesen Menschen
sei vor ihrem Tod ein grausames Ritual
vollzogen worden. Wie sich jedoch
herausgestellt hat, werden die Leichen
lediglich fachmännisch zerlegt, damit
die Aasfresser die Knochen besser ab -
nagen können und das Fleisch des Ver-
storbenen vollständig vertilgt wird.
SPIEGEL:Gibt es über-
haupt ein Beispiel, anhand
dessen sich die These von
Menschenopfern in Europa
erhärten ließe?
Thomas:Auf dem Staffel-
berg in der Fränkischen Alb
wurde ein keltisches Stadttor
ausgegraben, das aus der
Zeit zwischen 120 bis 40 vor
Christus stammt. Im Bereich
des Torhauses hat man zwei
Kindergräber gefunden, was
die Möglichkeit eines soge-
nannten Bauopfers nahelegt.
Nur leider sind die Skelette
nicht erhalten, nur einzelne
Knochen. Dadurch wird ein
archäologischer Nachweis
so gut wie unmöglich.THA
J. LIPTAK / LANDESAMT FÜR DENKMALPFLEGE & ARCHÄOLOGIE SACHSEN-ANHALT
Stelen im Ringheiligtum von Pömmelte
Durch den Skandal um die mit Listerien verseuchten Produkte
der Wurstfirma Wilke sind einmal mehr die Discounter in
die Kritik geraten. Ketten wie Aldi, Lidl, Netto oder Penny
sind mit ihren Dumpingpreisen für Fleisch- und Wurstwaren
Steig bügelhalter einer Fleischindustrie, die keine Moral
kennt. Doch bei aller berechtigten Kritik an den Discountern:
In der aktuellen Diskussion um eine gesunde Lebensweise
und das moralisch korrekte Verhalten von Konsumenten geht
völlig unter, wie sehr unsere Gesellschaft historisch von Billig -
supermärkten profitiert hat.
Dazu muss man einen Blick in die Vergangenheit richten, in
die Anfangsjahre der Bundesrepublik. Damals, bis in die Fünf -
zigerjahre hinein, dominierten hierzulande teure Tante-Emma-
Läden mit ihrem begrenzten Angebot. In den Stuben vieler
einfacher Leute war deshalb Schmalhans Küchenmeister, trotz
des Wirtschaftswunders.
Dann kamen Aldi und Co. ins Spiel. Ihre Rolle als Anbieter
eines erschwinglichen Massensortiments wurde erst durch Wis-
senschaftler möglich, die eine Mission verfolgten: zuverlässig
günstige Lebensmittel am Fließband produzieren zu können.
Nach Ansicht des Göttinger Sozialhistorikers Uwe Spiekermann
haben neuartige Nahrungsmittel die Gesellschaft langfristig
sogar mehr geprägt als Eisen, Stahl und Kohle.
Margarine und Milchschokolade beispielsweise, billig herzu-
stellende Kunstprodukte, halfen, die Versorgung sicherzustel-
len – und wurden zu Symbolen dessen, was in der Wissenschaft
plötzlich möglich war. In den Sechziger- und selbst noch in den
Siebzigerjahren haben die auf Holzpaletten gestapelten Aldi-
Billigprodukte etwa im Ruhrgebiet etliche Arbeiterfamilien über
den Monat gerettet. Die preiswerten Lebensmittel sorgten dafür,
dass viele Menschen ohne Hunger ins Bett gehen können.
Daran erinnert sich heute jedoch niemand gern. Frank Thadeusz
Einwurf
Ein Lob auf die Discounter
Warum die Billigläden mehr für unser Wohlergehen getan haben, als uns lieb ist