nicht stellvertretend für die vielen Miss-
verständnisse bezüglich dessen, was Hand-
ke geschrieben hat. Stanišićs kurze Preis-
rede wurde im Fernsehen gesendet, damit
war der Satz, der so nicht als Paraphrase
erkennbar war, publik. Viele Medien ha-
ben ihn als vermeintliches Handke-Zitat
veröffentlicht.
Wer das Buch »Sommerlicher Nachtrag
zu einer winterlichen Reise« ganz liest,
wird feststellen, dass Handke dort den
»Terror«, »die Tötungen in der hiesigen
Muslimgemeinde« in Višegrad erwähnt
wie den »Genozid von S.«, also Srebreni-
ca. Die Verbrechen in den Kriegen auf dem
Balkan hat er nicht geleugnet, manchmal
aber durch Verweise auf andere Verbre-
chen relativiert. Heute würde man das
Whataboutism nennen.
Die Geschichte Peter Handkes ist auch
die Geschichte eines öffentlichen Bildes,
das sich in manchen Aspekten von den
Tatsachen gelöst hat, eines gutherzigen,
aber nicht immer gut belegten Em -
pö rens.
Der Nobelpreisjuror Anders Olsson hat-
te die Wahl Handkes bei der Pressekonfe-
renz in Stockholm am vorletzten Donners-
tag damit begründet, dass der Preis Hand-
kes »literarischem Verdienst« gebühre.
Dies sei ein literarischer Preis, kein poli -
tischer.
Aber lässt sich in Handkes Werk die Li-
teratur von der Politik überhaupt trennen?
In seinen Schriften zum Balkankrieg kaum.
Am vergangenen Donnerstag dann veröf-
fentlichte Henrik Petersen, ebenfalls Mit-
glied der Jury, einen längeren Text, in dem
er die Wahl begründete und sich ausführ-
lich zu Handke und dessen Werk äußerte.
Er argumentierte in diesem Schreiben aus-
gesprochen politisch, erwähnt Handkes
»antinationalistische«, »antifaschistische
Haltung«, dass der Schriftsteller sich »un-
missverständlich für Frieden ausgespro-
chen« habe. »In Zeiten der Desinforma -
tion«, schreibt Petersen, »hat sich der
Nobelpreis an Peter Handke als überaus
zeitgemäße Wahl erwiesen. Eines Tages
werden die Reaktionen auf Handkes No-
belpreis Gegenstand einer historischen Ab -
handlung sein.«
Historisch, davon ist auszugehen, ist all
das gewiss. Wann immer Peter Handke in
den vergangenen Jahren einen großen
Preis zugesprochen bekam, hat das für
Streit gesorgt. Nicht nur die Debatte um
Handkes Balkantexte, auch der Umstand,
dass er in den Achtzigerjahren seine da-
malige Freundin Marie Colbin verprügelt
hat, könnte die Öffentlichkeit weiter em-
pören. Handke selbst hat in seiner Biogra-
fie 2012 darüber gesprochen: »... Ich habe
ihr einen Tritt in den Arsch gegeben. Ich
glaube, ich hab ihr auch eine runtergehau-
en. Ich wollte einfach arbeiten, und das
ging nicht gut ...« Prügeln, um in Ruhe
schreiben zu können? Was für ein State-
ment für einen Schriftsteller, gerade, wenn
man es heute liest, zwei Jahre nach
#MeToo.
Marie Colbin lebt mittlerweile in Italien,
in einer Mail an den SPIEGELschickte sie
einen Tagebuchauszug vom Montag dieser
Woche: »Der Nobelpreis hat Dreck am
Stecken. Der König hat Dreck am Stecken.
Die Jury hat Dreck am Stecken. Handke
hat Dreck am Stecken. Da hat sich die rich-
tige Gemeinschaft gefunden!« Und ihr Ver-
leger Richard Pils schrieb in einer Mail:
»Die schreckliche Geschichte mit Handke
hat sie zutiefst verletzt.«
Mats Malm wiederum, der neue Stän-
dige Sekretär der Akademie, schreibt, auf
den Umstand hingewiesen, dass selbst
Handke einräume, seine Freundin geschla-
gen zu haben: »Das wusste ich wirklich
nicht. Diese Angaben müssen wir prüfen
und auswerten.« Nicht nur er, das gesamte
Nobelpreiskomitee habe entschieden,
ohne davon Kenntnis zu haben.
Am Ende führt diese Geschichte wieder
in die Messehallen zurück, in die Halle 3,
wo im Erdgeschoss, am Stand des SPIE-
GEL,am Donnerstagvormittag schließlich
Saša Stanišić seinen Auftritt hatte.
Auch wenn der Verlag zuvor
darum gebeten hatte, nicht über
Handke zu sprechen, es ließ sich
ja doch nicht vermeiden. Wenn
er auch »große Antipathie« für
Handkes Serbientexte empfinde,
meinte Stanišić schließlich, es gebe
ein Buch von Handke, das er für
einen »tollen, tollen Text« halte:
»Wunschloses Unglück«, das Buch,
das Handke 1972 über den Tod sei-
ner Mutter geschrieben hatte. »Das
ist großartige Literatur.«
Für Handkes Wutausbruch, so
sagt er dann, habe er Verständnis:
»Ich kann verstehen, dass er sagt,
hier folgt Reaktion auf Reaktion
auf Reaktion. Was wollt ihr von
mir? Ihr wollt einfach nur, dass sich
der Konflikt weiter zuspitzt.« Er
könne sich vorstellen, mit Handke
ins Gespräch zu kommen.
Dann säßen sie da, der Jüngere
im Pullunder, der Ältere mit seinen
Federn im Hut, beide nie losgekom-
men vom Balkan.
Halt, keine falsche Harmonie
jetzt! Der öffentliche Streit um Pe-
ter Handke wird weiter voller Ärger und
Bitterkeit geführt werden, bis Handke
dann, im Dezember in Stockholm, tatsäch-
lich den Nobelpreis bekommt.
Aber: Wäre die Geschichte von Saša Sta-
nišić und Peter Handke ein Roman, sie hät-
te womöglich ein kitschiges Ende.
Felix Bayer, Tobias Becker, Susanne Beyer,
Martin Doerry, Sebastian Hammelehle,
Dirk Kurbjuweit, Nadine Markwaldt, Eva
Thöne, Claudia Voigt, Volker Weidermann,
Stefanie Witterauf
118 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
Kultur
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Peter Handke
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spiegel.de/sp432019handke
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ANDERS WIKLUND / AFP
Jurymitglieder bei der Bekanntgabe der Nobelpreisträger: »Zeiten der Desinformation«